6


Diesmal mußte er ziemlich lange ohne Bewußtsein gewesen sein. Noch bevor er die Augen aufschlug, spürte er, daß eine geraume Zeit vergangen war ... Stunden. Plötzlich war er sehr hungrig und verspürte quälenden Durst.

Er öffnete die Augen nur einen Spalt breit, konnte aber nicht mehr erkennen als einen dunklen, sternenklaren Himmel und die Silhouetten dürrer, blattloser Äste. Irgendwo neben ihm murmelte eine unverständliche Stimme etwas vor sich hin.

Andrej lauschte einen Moment konzentriert in sich hinein. Er hatte keine Schmerzen mehr, und als er vorsichtig zuerst seine Bein- und dann seine Armmuskeln anspannte, stellte er erleichtert fest, daß sie ihm gehorchten. Er war nicht gefesselt. Das - und die Erkenntnis, daß er diesen Gedanken überhaupt denken konnte und somit noch am Leben war - ließ ihn zumindest vermuten, daß er kein Gefangener von Domenicus und seinen drei goldenen Rittern war.

Andrej drehte vorsichtig den Kopf und erkannte zwei schattenhafte Gestalten, die neben einem fast heruntergebrannten Lagerfeuer saßen. Er konnte ihre Gesichter nicht erkennen. Einige Sekunden lang versuchte er vergeblich, dem gemurmelten Gespräch zu lauschen, dann gab er es auf und drehte den Kopf auf die andere Seite.

Frederic lag zwei Meter neben ihm auf dem Rücken und schlief, hatte vielleicht ebenfalls das Bewußtsein verloren. Aber er lebte. Andrej konnte sehen, daß sich seine Brust regelmäßig hob und senkte.

Er richtete sich auf, kroch auf Händen und Knien zu Frederic hin und schlug die angesengte Decke zurück, die jemand über den Jungen gebreitet hatte. Im ersten Moment erschrak er. Frederics Kleider waren verkohlt. Sein Haar war bis auf die Kopfhaut abgesengt, seine Augenbrauen und Wimpern verschwunden. Aber sein Gesicht und der Teil seiner Brust, den Andrej unter dem zerfetzten Wams erkennen konnte, schienen unversehrt zu sein.

Er streckte die Hand aus, berührte zögernd Frederics Schläfe und spürte, wie rasend schnell der Puls des Jungen ging. Seine Stirn glühte.

»Mach dir keine Sorgen, Delãny«, sagte eine Stimme hinter ihm. »Er hat Fieber, aber das ist auch schon alles.«

Andrej blickte auf und sah in ein vom Feuer verheertes Gesicht. Sergés linkes Auge war zugeschwollen, das Fleisch darunter bis zur Kinnspitze rot und nässend. Seine Lippen waren so aufgequollen, daß er Mühe hatte, verständlich zu sprechen.

»Der Junge muß den besten Schutzengel diesseits des Schwarzen Meeres haben«, fuhr Sergé fort. »Genau wie du übrigens.«

In seiner Stimme lag etwas, das Andrej alarmierte. Sergés verbliebenes Auge glitzerte vor unübersehbarem Mißtrauen. Seine linke Hand war mit einem blutgetränkten Lappen umwickelt, aber die rechte lag griffbereit auf dem Schwert, das aus seinem Gürtel ragte.

»Dann sollten wir ihn schlafen lassen«, sagte Andrej und erhob sich. Frederic stöhnte und bewegte die Hände. Aber er wachte nicht auf.

Sergé trat einen halben Schritt zurück und machte gleichzeitig eine einladende Geste mit der verletzten Hand. Die andere blieb weiter auf dem Schwertgriff liegen. Sie blieb auch dort, während Andrej ihm die wenigen Schritte bis zum Lagerfeuer folgte.

Seine Augen hatten sich mittlerweile an das schwache Licht gewöhnt, so daß er Krusha erkannte, noch bevor er sich auf Sergés Wink hin - der genaugenommen nichts anderes als ein Befehl war - zu ihm ans Lagerfeuer setzte. Auch Krusha war verletzt, wenn auch nicht annähernd so schwer wie sein Bruder. Sein Gesicht und seine Hände waren mit einer Unzahl winziger roter Brandflecken gesprenkelt, und er hatte eine üble Schnittwunde am rechten Unterarm.

»Habt ihr mich hergebracht?« fragte Andrej.

Natürlich war das eine überflüssige Frage, aber Andrej fühlte sich auf eine sonderbare Weise befangen. Er war es nicht gewohnt, in der Schuld anderer zu stehen.

»Sie haben das Feuer gelöscht«, sagte Krusha, ohne direkt auf seine Frage zu antworten. »Bevor die Flammen auf die anderen Gebäude übergreifen konnten. Es hat eine Menge Tote gegeben. Die Leute sind sehr zornig.«

Andrej blickte aufmerksam von einem zum anderen. Krushas Gesicht war versteinert, während es Sergé sichtlich schwerfiel, sich zu beherrschen. Sicherlich hatte er starke Schmerzen.

»Wo ... sind eure Brüder?« fragte Andrej zögernd.

Krusha deutete hinter sich, ohne den Kopf zu wenden. »Vranjevc ist nicht rausgekommen«, sagte er tonlos.

Andrejs Blick folgte der Geste. Das schwache Licht des beinahe erloschenen Feuers reichte nur wenige Schritte weit - er hatte die reglos am Boden liegende Gestalt bisher nicht einmal bemerkt. Er stand auf, zögerte einen Moment und bewegte sich dann mit langsamen Schritten um das Feuer herum. Weder Sergé noch Krusha erhoben Einwände.

Man mußte kein Heilkundiger sein, um zu erkennen, daß Ansbert die Nacht nicht überstehen würde. Gesicht und Schultern waren nahezu unversehrt, doch der Rest seines Körpers war schrecklich verbrannt. Seine Brüder hatten ihn ausgezogen, wohl um zu verhindern, daß die verbrannten Kleider auf seiner Haut scheuerten und ihm zusätzlich Schmerzen bereiteten; aber dies war - wenn überhaupt - nur eine schwache Hilfe. Andrej dachte an die schrecklichen Augenblicke in dem brennenden Haus zurück und hoffte inständig, daß sich Ansbert - obschon noch bei Bewußtsein - in einem Zustand befand, in dem er keine Schmerzen mehr spürte. Aber er glaubte nicht recht daran.

»Es wäre barmherziger, ihn von seiner Qual zu befreien«, sagte Krusha. »Aber ich kann es nicht. Er ist nicht wirklich mein Bruder, aber ich liebe ihn, als wäre er es.«

Andrej reagierte nicht auf die Bitte, die sich kaum verhohlen in diesen Worten verbarg, sondern wandte sich schaudernd ab und ging wieder zum Feuer zurück. Sergés Blick folgte seiner Bewegung voller Mißtrauen - vielleicht Feindseligkeit? -, während Krusha weiter dumpf in die erlöschende Glut starrte.

»Ich danke euch«, begann er umständlich. »Ihr habt Frederic und mir wahrscheinlich das Leben gerettet.«

»Nicht wahrscheinlich«, sagte Sergé hart. »Du hattest das Schwert schon an der Kehle.«

»Du hast den Mann angegriffen?« fragte Andrej.

»Bild dir nichts darauf ein«, antwortete Sergé. »Ich habe es nicht deinetwegen getan.« Er starrte Andrej auf eine Weise an, die man kaum anders als haßerfüllt nennen konnte.

»Ich danke dir trotzdem«, sagte Andrej.

»Ich habe ihn getötet«, sagte Sergé hart. »Vielleicht töte ich dich auch noch. Ich hätte es wahrscheinlich schon getan, aber Krusha war dagegen.«

Andrejs Hand glitt fast ohne sein Zutun zum Gürtel, aber das, wonach er suchte, war nicht da.

Sergé lachte leise, griff neben sich und hob Andrejs Sarazenenschwert auf. »Suchst du das, Delãny?« fragte er. »Eine interessante Waffe. Sie muß sehr wertvoll sein. Ich habe solch ein Schwert noch nie zuvor gesehen.« Er zog das Sarazenenschwert bedächtig aus der ledernen Umhüllung und ließ seinen Blick prüfend über die rasiermesserscharfe Klinge gleiten. »Vor allem nicht bei einem Kerl aus Transsilvanien«, fügte er hinzu. Er ließ die Klinge zweimal fast spielerisch durch die Luft sausen und lauschte eine Sekunde lang auf das summende Gerausch, das dabei entstand. Dann richtete er die Waffe mit einer langsamen Bewegung auf Delãny.

Es war Andrej unangenehm, die Waffe in Sergés Hand zu sehen. Er hatte es nie zugelassen, daß irgend jemand außer ihm selbst oder Raqi sein geheiligtes Sarazenenschwert berührte. Trotz seiner Schwäche wäre es ihm ein Leichtes gewesen, Sergé das Schwert zu entringen, aber er beherrschte sich und sagte nur sehr ruhig: »Sei vorsichtig damit. Die Klinge ist sehr scharf.«

»Nenn mir einen triftigen Grund, warum ich sie nicht an deiner Kehle ausprobieren sollte, Andrej Delãny«, sagte Sergé.

»Es wäre dumm«, antwortete Andrej. »Und du machst nicht den Eindruck eines Dummkopfes.«

»Dumm?«

Andrej deutete ein Schulterzucken an. »Ihr habt Frederic und mich mühsam hierher gebracht«, sagte er. »Wozu die Mühe, wenn ihr mich dann doch erschlagen wollt?«

Für die Dauer von zwei, drei Atemzügen starrte ihn Sergé einfach nur an. Dann verzog er die Lippen zu etwas, das vielleicht ein Lächeln sein sollte, möglicherweise aber auch das genaue Gegenteil. »Vielleicht, weil ich dir vorher noch ein paar Fragen stellen will, Delãny«, sagte er.

»Und welche?«

»Die Fremden«, sagte Sergé. »Die Männer, die das Gasthaus angezündet und meine Brüder getötet haben - wer sind sie?«

»Wieso glaubst du, daß ich das weiß?« fragte Andrej ausweichend.

»Weil sie deinetwegen gekommen sind, Delãny«, sagte Sergé zornig. »Du wußtest es.«

Andrej wollte widersprechen, aber er konnte es nicht, Er schwieg lange, dann hob er langsam die Hand und drückte die Klinge hinunter, die Sergé noch immer auf sein Gesicht gerichtet hielt.

»Ich wußte, daß sie Frederic und mich suchen«, gestand er. »Das ist wahr. Aber ich wußte nicht, daß sie so weit gehen würden, das schwöre ich.«

»Ich glaube dir, Delãny«, sagte Sergé. »Aber ich frage mich, was an dir so gefährlich ist, daß sie lieber einen ganzen Gasthof niederbrennen und ein Dutzend Männer töten, statt dich einfach zu überwältigen, wie sie es mit Leichtigkeit hätten tun können. Was bist du, Delãny - ein Zauberer ? Oder der Teufel ?«

»Nichts von beidem«, antwortete Andrej. »Ich verstehe es so wenig wie du. Vielleicht macht es ihnen einfach Spaß, Menschen zu töten.« Er deutete auf Frederic. »Sie haben seine ganze Familie ausgelöscht. Vollkommen grundlos.«

»Wer sind sie?« fragte Sergé. Er hob das Sarazenenschwert erneut, und diesmal fiel es Andrej wirklich schwer, ihm die Waffe nicht einfach zu entreißen.

»Warum willst du das wissen?« fragte er.

»Weil ich sie töten werde«, sagte Sergé hart. »Ich habe einem von ihnen meinen Dolch ins Herz gestoßen, doch sie waren zu dritt. Ich werde sie suchen, und ich werde sie töten, ob mit oder ohne deine Hilfe. Aber mit deiner Hilfe geht es schneller.«

Krusha hob die Hand und drückte Sergés Arm herunter, der das Sarazenenschwert hielt. »Verzeiht meinem Bruder, Delãny«, sagte er leise. »Der Schmerz trübt seine Sinne.«

Sergé funkelte ihn an. »Er ist es uns schuldig!«

»Halt den Mund, Sergé«, sagte Krusha müde. Er schüttelte den Kopf, seufzte tief und nahm seinem Bruder schließlich die Waffe aus der Hand. Umständlich schob er die Klinge in ihre lederne Scheide zurück und reichte sie dann Andrej.

»Ihr seid uns nichts schuldig, Delãny«, sagte er leise. »Verzeiht meinem Bruder. Nehmt den Jungen und geht, wenn ihr wollt. Wir werden euch nicht aufhalten.«

Andrej nahm sein Schwert entgegen und warf einen sehr langen, nachdenklichen Blick zu Frederic hinüber, ehe er antwortete. »Es tut mir wirklich leid«, sagte er leise. »Ich wollte, ich könnte ungeschehen machen, was geschehen ist. Aber das kann niemand.«

»Und du kannst uns auch nicht helfen, die Männer zu finden«, sagte Sergé verächtlich.

»Vielleicht kann ich es«, antwortete Andrej. Dann verbesserte er sich und sagte: »Ich könnte es. Aber ich würde euch damit einen schlechten Dienst erweisen.«

»Einen noch schlechteren, als du uns schon erwiesen hast?« fragte Sergé verächtlich. »Vranjevc und Ansbert sind tot. Und ich werde für den Rest meines Lebens an diese Nacht erinnert werden.« Er deutete auf sein Gesicht. »Welcher Dienst könnte wohl noch schlechter sein?«

»Ihr könntet ebenfalls sterben«, antwortete Andrej ernst. »Glaub mir, Sergé - mit diesen Männern ist nicht zu spaßen.«

»Mit mir auch nicht«, antwortete Sergé böse. »Einen von ihnen habe ich bereits getötet. Und auch die beiden anderen werden sterben - ob mit oder ohne deine Hilfe!«

Andrej antwortete nicht mehr. Sergé war nicht in der Verfassung, ein vernünftiges Gespräch zu führen. Der Schmerz und der Kummer über den Verlust seiner Brüder hatten ihn fast an den Rand des Wahnsinns getrieben. Und er war ohnehin nicht sehr beherrscht, ganz im Gegensatz zu seinem Bruder Krusha. Trotzdem war Andrej sich nicht sicher, welcher von den beiden vertrauenswürdiger war - wenn überhaupt.

»Es wird bald hell«, sagte Krusha in das immer unbehaglicher werdende Schweigen hinein. »Wir können nicht hierbleiben. Die Familie des Gastwirtes hat in die Stadt um Hilfe geschickt. Sie werden den Wald durchkämmen, um die Mörder zu finden. Vielleicht ist es besser, wenn wir den Soldaten nicht begegnen.«

»Habt ihr einen Grund, ihnen nicht begegnen zu wollen?« fragte Andrej.

»Was interessiert das dich?« fragte Sergé feindselig.

Andrej antwortete auch jetzt nicht sofort. Er fühlte sich schuldig. Es spielte keine Rolle, daß Frederic und er ebenfalls Opfer des heimtückischen Anschlages waren - Vranjevc und die anderen Männer waren nur gestorben, weil sie zufällig in dieses Gasthaus eingekehrt waren ... und weil Andrej so hochmütig und naiv gewesen war, anzunehmen, er könne die drei goldenen Ritter täuschen. Wie hatte er das auch nur eine Sekunde lang wirklich glauben können! Diese Männer hatten im Laufe ihres Lebens wahrscheinlich schon jede Art von Finte, Betrug und Intrige kennengelernt. Sie würden sich wohl kaum von einem Bauerntölpel aus Transsilvanien an der Nase herumführen lassen, nur weil dieser von seinem Stiefvater zu einem hervorragenden Schwertkämpfer ausgebildet worden war.

»Ihr seid wirklich entschlossen, diese Männer zu suchen«, sagte er.

»Und wenn es das Letzte ist, was ich tue«, bekräftigte Sergé.

Krusha starrte weiter in die erlöschende Glut. Nach zwei oder drei Augenblicken nickte er.

»Sagt mir noch eines«, fuhr Andrej fort. »Warum habt ihr uns wirklich an euren Tisch gebeten? Ihr seid keine Schausteller. Jedenfalls keine, die einen Mann und einen Jungen brauchen, der ihren Wagen belädt und Wein und Brot für sie holt.«

»Und wenn dem so wäre?« fragte Sergé.

»Ihr seid Diebe«, fuhr Andrej fort. »Ihr hättet Frederic und mich mitgenommen, uns verköstigt und unser Zimmer bezahlt, und in ein oder zwei Tagen wäre in die Schatzkammer von Constãntã eingebrochen worden oder in eine Kirche oder das Haus eines reichen Kaufmanns ...«

»Und sie hätten einen Teil der Beute bei euch gefunden und den Jungen und dich aufgehängt«, führte Sergé den Satz zu Ende. Er lachte hart. »Das wolltest du doch sagen, oder?«

»So ungefähr«, sagte Andrej. »Hätte ich recht gehabt?«

»Wer weiß«, sagte Sergé. »Du bist gar nicht so dumm, Andrej Delãny - für einen Hinterwäldler jedenfalls.« Er grinste, aber Andrej entging keineswegs, daß seine Hand zum Gürtel kroch und wie durch Zufall in der Nähe des Dolches liegenblieb. »Und was hast du jetzt vor? Willst du zu den Soldaten laufen und ihnen erzählen, was du erfahren hast?«

»Nein«, antwortete Andrej. »Ich wollte nur wissen, woran ich bin.«

»Dann geht es dir genau wie mir«, sagte Sergé lauernd. »Wo wir schon einmal dabei sind, Delãny - warum erzählst du uns nicht, wer du wirklich bist und was du mit diesen Männern zu schaffen hast, die das Gasthaus niedergebrannt haben?«

Andrej warf einen langen Blick zu Frederic hinüber. Der Junge schlief, aber er hatte noch immer keine Ruhe gefunden. Seine Hände bewegten sich ununterbrochen, und manchmal stöhnte er leise. Wäre es nur um Frederic und ihn gegangen, dann wäre er wohl spätestens jetzt aufgestanden und hätte die beiden angeblichen Brüder verlassen. Aber es ging nicht nur um sie beide. So unbehaglich ihm selbst bei dem Gedanken zumute war - er brauchte Hilfe.

Er löste den Blick mit einiger Mühe von dem schlafenden Jungen, sah einen Moment lang Sergé und dann sehr viel länger Krusha an ... und dann begann er schließlich mit leiser, fester Stimme zu erzählen.

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