7.

Das Flugzeug wurde zur Landung vorbereitet. An den Rückkanten der Tragflächen konnte man die herausgefahrenen Landeklappen sehen. Unten lag Long Island. Es waren noch etwa fünf Minuten bis zum Internationalen Flughafen von New York. Rogers und Martino, die die meiste Zeit in der Bar gesessen hatten, wurden von der Stewardeß gebeten, zu ihren Sitzen zurückzugehen und sich anzuschnallen. Martino nahm noch einmal sein Glas auf, führte es elegant an seinen Mund und trank den Cocktail aus. Dann stellte er es auf den Tisch zurück, und man sah, wie das Gitter seines Mundes wieder zuklappte.

Mit einer Papierserviette tupfte er sein metallenes Kinn ab und sagte zu der Stewardeß, ohne aufzusehen: »Sie müssen verstehen, Alkohol ist nicht gut für Stahl mit hohem Kohlenstoffgehalt.«

»Ich verstehe«, sagte die Stewardeß höflich.

Rogers schüttelte den Kopf. Während er mit Martino zu ihren Sitzen zurückkehrte, sagte er: »Sie haben recht, aber nicht wenn es sich um rostfreien Stahl handelt. Und Sie dürfen nicht vergessen, daß ich Ihre metallurgische Analyse gesehen habe.«

»Ich weiß.« Dabei schnallte er seinen Sitzgurt an. »Sie haben sie gesehen, nicht aber die Stewardeß.« Er hatte sich eine Zigarette in den Mundwinkel gesteckt und ließ sie unangezündet hängen, während der Pilot das Flugzeug in die Richtung der Landebahn eindrehte. Martino sah aus dem Fenster. »Komisch, man sollte nicht glauben, daß es noch zu früh ist, um hell zu sein.«

Das Flugzeug hatte kaum aufgesetzt, als er aufstand, seine Zigarette anzündete und mit dem selbstverständlichsten Ausdruck der Welt sagte: »Es sieht so aus, als seien wir angekommen. Ich muß sagen, es war ein netter Flug.«

Rogers sagte lakonisch: »Hm. Ganz gut.« Er stand ebenfalls auf und sah auf Finchley, der auf der anderen Seite des Ganges saß, schüttelte hilflos den Kopf und gab damit seinem Kollegen vom Sicherheitsdienst zu verstehen, daß dieser Mann — sei er Martino oder auch nicht — ihre Aufgabe nicht gerade leicht machen würde.

»Ich nehme an, Herr Rogers, daß wir uns auf einer so gesellschaftlichen Ebene wohl kaum mehr treffen werden. Ich weiß deshalb nicht, ob es unter den gegebenen Umständen schicklich ist, Ihnen Auf Wiedersehen zu sagen.«

Rogers streckte ihm wortlos die Hand hin.

Martinos rechte Hand war warm und sein Griff fest. »Es tut gut, mal wieder in New York zu sein; ich war seit zwanzig Jahren nicht mehr hier. Und Sie, Herr Rogers?«

»Ungefähr zwölf. Ich wurde hier geboren.«

»Ah so!« Sie gingen langsam auf den hinteren Ausgang des Flugzeuges zu, Martino immer einen Schritt vor Rogers. »So werden auch Sie froh sein, mal wieder hier zu sein.«

Rogers war augenscheinlich nicht gerade begeistert.

»Es tut mir leid«, sagte Martino, »ich hatte tatsächlich für einen Augenblick vergessen, daß dies weder für Sie noch für mich eine Vergnügungsreise ist.«

Rogers antwortete nicht. Er folgte dem Mann zur Tür, wo die Stewardeß ihnen ihre Mäntel gab. In der gleichen Reihenfolge traten sie auf die Treppe. Rogers Augen waren auf der gleichen Höhe wie die blanke Kopfspitze des fremdartigen Mannes.

Mitten auf der Treppe drehte Martino sich um, wie um eine weitere gleichgültige Bemerkung zu machen.

In diesem Augenblick leuchtete das erste Blitzlicht auf, und Martino versuchte zurückzustürzen. Er stolperte gegen Rogers, drückte ihn nach hinten, ohne recht weiterzukommen, und krallte seine Finger in die Schultern seines Bewachers.

Auf dem Vorfeld, am Fuße der Treppe, stand eine Gruppe von Photoreportern und richtete ihre Kameras auf die tumultartige Szene. Martino hing so eng an Rogers, daß dieser dessen Speisewerkzeuge zusammenschlagen hören konnte.

Finchley war es im Augenblick des ersten Aufleuchtens gelungen, an den beiden vorbeizukommen, die Treppe hinunterzustürzen und seinen Ausweis in das grelle Licht zu halten. Sekunden später hatte das Photographieren aufgehört.

Rogers holte einmal tief Luft und löste die verkrampften Hände des Mannes von seinen Schultern. »Es ist alles vorbei« — er sprach betont freundlich und milde. »Hören Sie, Martino, es ist alles in Ordnung. Der Pilot muß eine Meldung über uns abgesetzt haben, sonst hätte es niemand wissen können. Finchley wird mit den Zeitungsleuten reden; sie brauchen keine Angst zu haben, daß man Sie in der ganzen Welt breittritt.«

Martino stand wieder auf seinen Füßen und ging, etwas unsicher noch, die Treppe hinunter. Er brummte etwas vor sich hin, das entweder ein Dank oder eine Entschuldigung hätte sein können. Rogers war froh, daß er das Gemurmel überhören konnte.

»Sie können sich auf uns verlassen, wir werden die Zeitungsangelegenheit zufriedenstellend lösen. Worüber Sie sich Gedanken machen können, ist, wie Sie mit den Leuten fertig werden, denen Sie in Ihrem privaten Kreis begegnen. Aber soweit ich es gesehen habe, machen Sie das recht gut.«

Martino sah mit wilden Augen auf Rogers. »Ich sage Ihnen nur, beobachten Sie mich nicht zu genau!«


* * *

Am Nachmittag des Ankunfttages stand Rogers bereits im Büro seiner Dienststelle vor einer Gruppe von zweiundzwanzig Beamten und gab Erläuterungen über den »Fall Martino«. Von Zeit zu Zeit rieb er seine Schultern. Die Männer vor ihm waren ihm zugeteilt worden und schrieben eifrig jeden Hinweis auf, den er ihnen gab.

»Meine Herren«, sagte er, und seine Stimme klang müde. »Vor Ihnen liegt eine Photokopie der Akte »Martino«. Sie ist soweit vollständig, aber zugleich auch nur ein Anfang. Jeder von Ihnen bekommt gleich seinen Auftrag zugeteilt. Zunächst möchte ich Sie damit bekanntmachen, was wir als Arbeitsgemeinschaft vorhaben. Und ich darf Ihnen gleich jetzt sagen, daß selbst Dinge, die nebensächlich erscheinen, beim Betrachten des Gesamtbildes von außerordentlicher Bedeutung sein können.

Was wir suchen, ist ein Diagramm dieses Mannes, das alle Einzelheiten bis zur kleinsten Kappilare …« — er spitzte seine Lippen — »sagen wir ruhig, bis zur kleinsten Niete enthält. Aus Ihren Einzelberichten werden wir ein Bild zusammenfügen, das sein ganzes Leben umreißt; von seiner Geburt bis zu dem Tage, an dem das Laboratorium in die Luft flog. Wir müssen wissen, was er gerne aß, welche Zigaretten er rauchte, welche Laster er hatte, mit welchen Frauen er verkehrte. Wir müssen Auskunft haben über die Bücher, die er las, und worüber er mit ihnen übereinstimmte. Jeder von Ihnen wird diesen Mann studieren, jeder wird versuchen, seine Gedanken zu lesen; denn seine Gedanken sind das einzige, woran wir ihn erkennen können.

Einige von Ihnen werden abgestellt, ihn direkt zu überwachen. Ihre Berichte werden wir mit den Forschungsergebnissen vergleichen. Bedenken Sie, daß die einen genau so detailliert sein müssen wie die anderen. Vergessen Sie nicht, er weiß, daß er beobachtet wird. Er wird vielleicht versuchen, Sie irre zu leiten. Achten Sie auf die kleinen Dinge. Schreiben Sie auf, mit wem er spricht, aber übersehen Sie nicht die Art, wie er seine Zigaretten anzündet.

Denken Sie ferner immer daran, daß Sie es mit einem Genie zu tun haben. Ganz gleich, ob er Martino ist oder ein sowjetischer Agent, er ist raffinierter als wir. Auf der anderen Seite sind wir in der Überzahl und haben ein System hinter uns. Natürlich« — Rogers hörte, wie verzweifelt seine Stimme klang — »kann auch er ein System hinter sich haben, aber in jedem Fall ist er allein.

Was seine Aufgabe als Agent sein könnte, wissen wir nicht. Aber es kann alles Mögliche sein. Wenn sie erwartet haben, daß wir ihn an seine alte Arbeit zurückstellen, haben sie Pech gehabt. Es besteht also die Gefahr, daß er versuchen wird, aus der Alliierten Sphäre herauszukommen. Sie müssen darauf aufpassen. Auf der anderen Seite können sie gerade das gewollt haben, was wir jetzt mit ihm machen. Wenn das stimmt, weiß niemand, wieviel Kaninchen er noch aus seinem Hut hervorzaubert. Wir sind sicher, daß er keine menschliche Bombe ist oder sonst irgendwie den Tod in sich herumträgt. Aber man kann nie wissen. Geben Sie besonders auf ihn acht, wenn er versuchen sollte, elektronische Geräte zu kaufen.

Diejenigen von Ihnen, die seine Vorgeschichte ausbuddeln werden, haben nicht zuletzt herauszubekommen, ob er jemals versucht hat, irgend etwas in seinem Keller zusammenzubasteln. Wenn ja, so will ich es sofort wissen. Ich weiß nicht, was dieses K-88 ist, aber ich weiß, daß es eine verdammt harte Sache sein soll. Ich glaube, daß wir alle froh sein werden, wenn er es unterläßt, weiter in dieser Richtung zu Hause zu basteln.«

Rogers seufzte. »Irgendwelche Fragen?«

Einer der Männer hob seine Hand.

»Wie sieht das andere Ende dieser Geschichte aus? Ich nehme an, daß man in Europa versuchen wird, Leute in den Osten zu schmuggeln, um herauszufinden, wer und wie man diesen Mann zusammengebaut hat.«

»Das stimmt. Man tut es, um keinen Versuch zu unterlassen, aber man erreicht nichts. Die Sowjets haben einen Kerl, der heißt Azarin. Der ist eine Mauer. Wer an ihm vorbeikommt, hat mehr als Glück gehabt. Ich kann mir denken, daß jeder der etwas mit unserem Opfer zu tun gehabt hat, inzwischen in Uzbekistan ist und daß alle Unterlagen vernichtet worden sind, wenn es überhaupt welche gegeben hat Und ich weiß noch etwas. Einige unserer Leute waren mit einem solchen Auftrag versehen worden. Sie sind bereits drüben. Andere Fragen?«

»Ja. Wie lange glauben Sie, Herr Rogers, wird es dauern, bis wir sagen können, wer dieser Mann ist?«

Rogers sah den Mann nur mit großen Augen an.


* * *

Rogers saß allein in seinem Arbeitszimmer, als Finchley eintrat. Es wurde bereits dunkel draußen, und die Lampe auf dem Schreibtisch erhellte nur ihre nächste Umgebung. Finchley zog einen Stuhl heran und wartete, bis Rogers seine Brille zusammengeklappt hatte.

»Wie sind Sie zurechtgekommen?« fragte Rogers.

»Ich habe sie alle hingebogen: Presse, Wochenschau und Fernsehen. Man wird ihn nicht publizieren.«

Rogers nickte. »Gut. Wenn er zu einem siebenten Weltwunder geworden wäre, hätten wir unsere letzte Chance verpaßt. Es wird ohnehin hart genug werden. Ich danke Ihnen. Finchley.«

»Ich bin überzeugt, daß auch er keinen Spaß daran gehabt hätte.«

Rogers sah ihn an, sagte jedoch nicht, was er gerade gedacht hatte. »So, die Nachrichtenleute glauben also, daß es sich hier um eine Angelegenheit handelt, die über den amerikanischen Sicherheitsdienst nicht hinausgeht?«

»Genauso. Ich habe die Alliierten Nationen aus der Sache herausgehalten.«

»Nochmals vielen Dank, Finchley.«

»Das ist einer der Gründe, warum ich hier bin. Was hat Martino nach den Ereignissen auf dem Flugplatz gemacht?«

»Er fuhr mit einem Taxi in die Stadt und stieg an der Ecke Zwölfte Straße — Siebente Avenue aus. An einer Würstchenbude aß er eine Knackwurst und trank ein Glas Milch. Dann marschierte er über die Greenwich Avenue bis zur Sechsten, bog in die Vierte Straße ein und wanderte — nach den letzten Meldungen — dort auf und ab.«

»Also gleich wieder in der Öffentlichkeit. Als ob er sich beweisen will, daß er seine Nerven nicht verlieren darf.«

»Ja, es sieht so aus. Natürlich drehten sich die Leute nach ihm um, einige zeigten mit Fingern auf ihn, aber es war nicht sehr dramatisch. Er scheint es zu übersehen. Er hat sich noch kein Quartier beschafft; ich möchte sagen, daß er sich ein bißchen verlassen vorkommt. Der nächste Bericht kommt in einer halben Stunde — das heißt, wenn nichts Drastisches geschieht. Inzwischen wird die Würstchenbude in Augenschein genommen.«

Finchley sah auf. »Sie wissen doch hoffentlich, daß dieses ganze Geschäft stinkt?«

»Ja«, Rogers zog die Stirn in Falten. »Und was hat das damit zu tun?«

»Sie haben ihn doch in dem Flugzeug gesehen. Er stirbt Stückchen für Stückchen, aber er zeigt es nicht. Er riß sich vor diesen fünfundsechzig Menschen zusammen, um sich selbst, uns und Ihnen zu beweisen, daß er sich nicht in sich zurückzieht Er hat sie und uns an der Nase herumgeführt. Er sieht aus wie das Wesen eines anderen Sterns, versucht aber zu beweisen, daß er genauso aussieht wie Sie und ich.«

»Das weiß ich auch.«

»Und in dem Augenblick, in dem er es fast geschafft hatte, fiel die ganze Welt über ihn her, um ihn in tausend Farben auf die Titelseiten aller Zeitungen in der alliierten Sphäre zu drucken. Er würde für immer gebrandtmarkt gewesen sein. Nun, ich frage Sie, wer hat noch nicht soviel mitgemacht, daß er es plötzlich nicht mehr aushält. Ich kenne es aus meinem eignen Leben und ich glaube auch Sie.«

»Ja, ich weiß, was Sie meinen.«

»Aber er kam darüber hinweg. Er ging in den Straßen New Yorks, so daß alle Leute ihn sehen können. Man hat ihn geschlagen, und er weiß, wie weh das tut. Trotzdem ging er wieder zurück. Das ist ein Mann, Rogers — verflucht nochmal, das ist ein Mann!«

»Was für ein Mann?«

»Hören Sie auf, Rogers. Wenn Sie den Sowjets etwas Zeit und Gelegenheit geben, werden sie jeden beliebigen ersetzen können. Niemand in der ganzen Welt weiß, wer er ist, und wir erwarten, daß dieser eine Mann es kann.«

»Wir müssen es wissen, da hilft alles nichts. Dieser eine Mann muß beweisen, wer er ist.«

»Man hätte ihn doch irgendwo hinstecken können, wo er ungefährlich ist.«

Rogers stand auf und ging ans Fenster. Er klopfte mit den Fingern auf die trüben Glasscheiben. »Niemand in dieser Welt ist ungefährlich. Selbst wenn er nur dasitzt und nichts tut, muß jeder andere versuchen, herauszubekommen, was er denkt; denn solange man das nicht weiß, ist er gefährlich.

Die Alliierte Regierung hätte ihn natürlich auf eine einsame Insel setzen können. Stimmt. Er hätte vielleicht nie etwas gemacht. Aber die Sowjets können unter Umständen auch im Besitz des K-88 sein, mit dem echten Martino immer noch auf ihrer Seite. Dann wäre dieser Mann gefährlich genug. Und Sie müssen zugeben, daß wir ihn nur hier unter den Menschen entlarven können. Das ist unsere Aufgabe. Und weder Sie, Finchley, noch ich, können sich ihr entziehen. Keiner von uns beiden ist alt genug, pensioniert zu werden, bevor dieser Mann stirbt.«

»Ich weiß das alles, Rogers. Glauben Sie nur nicht, ich versuche mich aus der Angelegenheit herauszuziehen. Aber wir haben den Mann nicht aus den Augen gelassen, seit er die Grenze überschritten hat Wir haben beobachtet, wir haben gesehen, was er durchmacht — verflucht, glauben Sie mir, meine Arbeit wird dadurch nicht beeinträchtigt. — Aber was mich angeht, so —«

»Glauben Sie, daß er Martino ist!«

»Ich habe keine Beweise.«

»Aber Sie können sich nicht vorstellen, daß er nicht Martino ist. Und das alles, weil er blutet? Weil er Tränen weinen würde, wenn er es könnte? Weil er Angst hat und verzweifelt ist, weil er nicht weiß, wohin er gehen soll?« Rogers schlug auf die Scheibe, »Geht’s uns nicht ebenso? Sind wir nicht alle Menschen?«

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