Das Physiklaboratorium des Bridgetown-Gymnasium war ein länglicher, aus zwei Schulklassen entstandener Raum, auf dessen einer Seite eine Reihe Fenster in den Hof blickten. Auf der den Fenstern gegenüberliegenden Wand war eine lange Tafel angebracht. Mehrere Tischreihen standen vor dem Pult Edmund Starkes. Im großen und ganzen reichte der Raum aus, obwohl Starke das niemals zugab.
Für Lucas Martino bedeutete dieser Schulraum sehr viel. Sein Lehrer gab in diesem, seinem Laboratorium für ihn Physikunterricht. Dieser Ort befand sich genau an der richtigen Stelle, wie überhaupt alles in seinem Universum an der richtigen Stelle war oder sich ihr näherte. So kam es, daß er, wenn er morgens den Raum betrat sich erst einmal prüfend umsah, ehe er sich setzte. Und das tat er mit einem eigenartigen Ausdruck von Besitzergreifung. Die Folge war, daß Starke ihn sich als eifrigen Schüler merkte.
Lucas Martino hatte diese Entwicklung in seinem Lehrer beobachtet. Er urteilte nicht über sie, er merkte sie sich nur, er legte sie gewissermaßen in seinem Bewußtsein auf Lager, ähnlich einem Maschinenteil, den er gefunden hatte und von dem er wußte, daß er ihn eines Tages in ein Ganzes einpassen würde. Da er keine Urteile fällte, war nichts nebensächlich für ihn. Alles, daß ihm einmal begegnet war, hatte er irgendwo in seinem Kopf verstaut. Er hatte kein photographisches Gedächtnis — statische Bilder der Vergangenheit interessierten ihn nicht. Alles war in Bewegung und wartete darauf, zusammengesetzt zu werden.
Er war ein ruhiger Schüler, der nur dann antwortete, wenn er gefragt wurde. Er hatte die Gewohnheit, die Dinge selbst zusammenzufügen. Fragen stellte er nur selten an Starke.
Das Resultat war, daß seine Zensuren bald ausgezeichnet bald ungenügend waren. Wie in allen höheren Schulen der Weit sollte auch Starke in seiner Klasse nur die Grundprinzipien der Physik lehren. Und das zum größten Teil nur theoretisch. Die Schüler hatten vorläufig nur Grundformeln auswendig zu lernen, sie sollten noch nicht selbständig irgend etwas aufbauen. Lucas Martino verkannte diese Tatsache. Ja, wenn er um sie gewußt hätte, wäre ihm sogar unwohl gewesen. Stattdessen glaubte er, daß Starke ständig Andeutungen machte, die er auszufüllen und zu einem Ganzen zusammenzufügen hatte.
Manchmal geschah es, daß er die Richtung einer Lektion kannte, bevor der erste Satz ausgesprochen war. Oder er wußte das Ergebnis eines Versuches, noch ehe Starke das Versuchsgerät fertig aufgebaut hatte. Alle seine aufbewahrten Ideen, Andeutungen und unzusammenhängenden Daten fielen dann an ihren Platz, und er verspürte so etwas wie Genialität.
Aber es geschah auch, daß es nur so aussah, als paßten die Dinge, wobei sie in Wirklichkeit auseinanderstrebten. Lucas Martino folgte trotzdem diesem falschen Hasen und machte Fehler, die niemand anders hätte machen können.
Wenn er dann das Ende der Sackgasse erkannte, arbeitete er sich Stück für Stück an der Kette der irreführenden Fakten zurück. Nachdem er aber wieder auf dem richtigen Weg war, fiel es ihm schwer, die zwar falsche, aber immerhin beschrittene Straße völlig aus seinem Bewußtsein zu streichen. Schließlich waren es nicht nur wilde, sondern bis zu einem gewissen Grade auch zusammenhängende Theorien. Martino schuf also ein zweites Lagerhaus in seinem Gedächtnis; hier stellte er alle ketzerischen Phantome dieser Art ab.
Starke war schon seit vielen Jahren im Kollegium der Schule. Er hatte viele Schmeichler und noch mehr ausdruckslose Durchschnittstypen in seinen Klassen gehabt Er hatte es schon lange aufgegeben, sie zu bessern, und noch länger war es her, daß er sich mit ihnen in eine Diskussion eingelassen hatte.
Lucas Martino dagegen faszinierte ihn, und er hatte den Wunsch, eine Brücke zu dem Jungen zu schlagen. Mehrere Wochen mußte er warten, bis sich eine Gelegenheit bot. Als sie da war, fand er es schwer, sich selbst zu überwinden. Er war umständlich und kein guter Gesellschafter.
Lucas arbeitete noch an seinem Berichtsheft. Starke wartete, bis alle anderen die Klasse verlassen hatten, dann ging er zu dem Platz des Jungen.
»Martino —«
Lucas sah auf. Er war überrascht, aber nicht erschrocken, »Ja, Herr Starke?«
»Eh — Sie sind nicht Mitglied des Physik-Klubs, nicht wahr?«
»Nein, Herr Starke.«
»Ich beabsichtige, den Physik-Klub einige Experimente durchführen zu lassen. Außerhalb der Klasse natürlich. Er könnte diese Experimente sogar vor der Öffentlichkeit der Schulversammlung durchführen. Ich kann mir vorstellen, daß fast alle Schüler daran interessiert sind.« Starke hatte alles augenblicklich erfunden und war über sich selbst überrascht »Und ich habe mir gedacht, daß Sie vielleicht mitmachen würden.«
Lucas schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid, Herr Starke. Ich habe nur sehr wenig Zeit neben Fußballtraining und Nachtarbeit.«
Normalerweise hätte Starke es dabei bewenden lassen. Jetzt sagte er: »Unsinn, Martino. Frank Del Bello ist sowohl in der Fußballmannschaft als auch im Physik-Klub.«
Lucas hatte das Gefühl, als habe Starke einen wunden Zahnnerv freigelegt. Bis jetzt hatte er keine Gründe gehabt, aus denen er die Physikstunde für wichtiger als irgendein anderes Fach hätte halten sollen. Aber seine Antwort kam scharf und schnell: »Ich fürchte, Herr Starke, ich interessiere mich nicht für volkstümliche, wissenschaftliche Spielerei.« Er wollte Starke jede Möglichkeit nehmen, Oberwasser zu gewinnen. Er fuhr fort: »Ich glaube nicht, daß man den Vorgang der Kernspaltung dadurch demonstrieren kann, indem man einen Korken in einen Haufen von Mausefallen wirft. Das hat mit Physik nichts gemeinsam.«
Das war ein kritischer Punkt für beide. Starke war nicht gewöhnt, daß man ihn abbremste, wenn er einmal anfing, etwas zu beginnen. Lucas auf der anderen Seite sah nur Tatsachen, und Tatsachen ließen sich nicht umgehen. Beide fühlten, daß sie einen neutralen Weg finden mußten, sollte nicht ein tiefes Mißverständnis zwischen ihnen entstehen.
»Was glauben Sie denn, Martino, ist Physik?«
Lucas nahm den Ausweg und nahm ihn dankbar an. Er fand jedoch, daß er weiterführte, als er erwartet hatte. »Ich halte sie für das Wichtigste in der Welt«, sagte er und hatte dabei das Gefühl, auf eine Hausschwelle hinausgestolpert zu sein.
»Glauben Sie? Warum?« Starke warf die Tür hinter ihm zu.
Lucas suchte nach Worten. »Das Universum ist ein idealer Aufbau. Alles ist im Gleichgewicht. Nichts kann weggenommen und nichts hinzugefügt werden.«
»Und was wollen Sie damit sagen?«
Lucas Martino umriß spontan ein Weltbild, von dem er nicht wußte, daß es das Fragment einer Philosophie war. Zum ersten Male seit er diese Klasse mit einem leeren Notizblock betreten hatte, wußte er, was er hier sollte. Ja, er wußte plötzlich noch mehr; er erkannte sich selbst.
Jetzt war er frei, ich etwas anderem zuzuwenden.
»Nun, Martino?«
Lucas holte tief Atem. Dann sagte er fließend: »Das Universum besteht aus idealen, passenden Einzelteilen. Nimmt man eines und stellt es an eine andere Stelle, so beeinflußt man alle anderen. Fügt man irgendwo eines hinzu, so muß man es an anderer Stelle wegnehmen. Alles, was wir tun — und was jemals getan worden ist — ist ein solches Umstellen von Einzelteilen. Wenn wir wüßten, wo alles hinpaßt und welchen Einfluß es auf den Rest hat, so könnten wir den Lauf der Dinge im voraus bestimmen. Genau das aber macht die Physik; sie untersucht den Aufbau des Universums und gibt uns damit ein System in die Hand, das uns erlaubt, dasselbe zu handhaben. Etwas Grundsätzlicheres gibt es nicht. Alles hängt davon ab.«
»Das ist für Sie ein Glaubensbekenntnis, nicht wahr?«
»Ja! Aber mit Glaube hat das nichts zu tun.« Seine Antwort kam schnell und präzise. Er verstand jedoch nicht so recht, was Starke meinte, er war zu sehr mit dem Gedanken angefüllt, daß er nun wußte, wozu er da war.
Starke war oft gut vorbereiteten Reden begegnet. Jedes Jahr wurde ihm mindestens eine von einem Jungen vorexerziert, der gerade einen Film über den jungen Tom Edison gesehen hatte. Er wußte, daß Martino nicht von der Sorte war; aber man hatte ihn schon vorher zum Narren gehalten. Er nahm sich also Zeit, bevor er etwas sagte.
Lucas Martino sah ihn an, als ob es eine Selbstverständlichkeit sei, daß ein sechzehnjähriger Bursche ein unwiderrufliches Gelübde ablegte.
Starke wurde etwas verwirrt. Er machte zum ersten Male in seinem Leben einen Rückzieher.
»So, das also ist das, was Sie für Physik halten. Sie haben sicher vor, auf das Massachusetts Technikum zu gehen?«
»Wenn ich das Geld dafür zusammenkriege. Aber ich glaube, meine Zensuren sind nicht gut genug.«
»Die Zensuren hängen von Ihren Arbeiten ab. Sie haben ja noch etwas Zeit. Und was das Geld betrifft: es gibt eine Menge Stipendien. Wenn Sie die nicht schaffen, können Sie immer noch versuchen, die Unterstützung eines der großen Konzerne wie General Electrics zu bekommen.«
Martino schüttelte den Kopf. »Es ist, ein Problem mit drei Faktoren. Meine Abgangszensuren werden unter keinen Umständen überragend sein, ganz gleich, was ich mache. Außerdem möchte ich nicht an irgendeine Industriegesellschaft gebunden sein. Und drittens, Stipendien decken nicht alle Unkosten. Nein, ich werde nach New York gehen, bei meinem Onkel arbeiten und abends auf der New Yorker Volkshochschule Vorlesungen hören.«
Der Plan stand da, fest und überlegt. Starke hätte nie ahnen können, daß er kaum eine Minute vorher gefaßt worden war.
»Sie haben es mit Ihren Eltern durchgesprochen, nicht wahr?«
»Noch nicht.« Martino sah zögernd drein. »Es wird hart für sie sein. Es wird lange dauern, bis ich ihnen etwas Geld schicken kann.« Er dachte noch daran, daß er sein gewohntes Familienleben werde aufgeben müssen; aber darüber konnte er mit einem Fremden nicht sprechen.
»Ich verstehe ihn nicht«, sagte seine Stiefmutter. »Warum will er plötzlich nach Boston gehen? Boston ist weit weg. Noch weiter als New York.«
Lucas saß da und wußte keine Antwort. Er starrte auf seinen Teller.
»Ich verstehe es auch nicht«, sagte sein Vater. »Aber wenn er gehen will, soll er gehen. Bis dahin ist ja noch viel Zeit. Er wird ein Mann sein, wenn es soweit ist, und ein Mann hat das Recht, solche Dinge selbst zu entscheiden.«
Lucas sah seine Stiefmutter an, dann seinen Vater. Etwas Unerklärliches ging in ihm vor, und er war nahe daran zu erklären, daß er es sich anders überlegt habe.
Er sagte jedoch: »Ich danke euch für eure Erlaubnis.« Wenn man ein Teil des Universums versetzt, werden alle anderen davon betroffen. Füge dem einen etwas zu, so muß das andere etwas verlieren. War es noch eine freie Wahl, wenn die Dinge so verkettet waren und es im Grunde nur einen richtigen Weg gab?