14.

Anastas Azarin hob das Glas lauwarmen Tees an seine Lippen, schob mit dem Zeigefinger den Löffel zur Seite und trank es in einem Zug aus. Mit einer raschen Bewegung stellte er es auf den Tisch zurück. Der Löffel klirrte. Aus dem Nebenzimmer kam sein Adjutant, füllte es wieder und verließ, ohne ein Wort zu sagen, den Raum. Azarin nickte, als der junge Mann seine Hacken zusammenschlug, und grinste ihn freundlich an. Für einen Augenblick war er ein freundlicher, offener Mann gewesen. Jetzt waren seine Züge wieder hart und undurchsichtig.

Man konnte sehen, daß er sich während seiner langen Laufbahn, die ihn immer höher gebracht hatte, dazu erzogen hatte, unpersönlich, hölzern und hart zu werden.

Er las wieder in dem Wochenbericht seines Sektors. Sein stumpfer, nikotingefärbter Zeigefinger fuhr über die Zeilen, während seine Lippen unhörbare Worte formten.

Er wußte, daß man über seinen altmodischen Samowar lachte. Aber der Adjutant wußte auch, was mit ihm geschehen würde, wenn das Glas einmal leerblieb. Daß man über seine Art zu lesen, Witze riß, störte ihn nicht.

Azarin war nie auf einer sowjetischen Akademie gewesen. Während seine heutigen Kollegen ihre Uniformen striegelten, zog er mit seinem Vater aus, um ihm beim Holzfällen zu helfen. Während sie über ihren Büchern schwitzten, überwachte er Arbeitskommandos in der Taiga. Er aß schlechten Reis in der Mandschurei und starb fast an Typhus, während sie bei ihren Frauen saßen und auf Beförderung warteten.

Jetzt hatte er einen eigenen Schreibtisch, ein eigenes Büro, einen Adjutanten, der ihm den Tee brachte und seine Hacken zusammenriß. Jetzt konnte er sie alle auslachen; sie waren ein Nichts, während er Kommandant eines ganzen Abschnittes war. Er — Anastas Azarin, Oberst des S.I.B. Er, der Gospodin Polkovnik Azarin.

Er las weiter in den Wochenberichten. Es gab nichts Neues. Wie immer paßten die Alliierten gut auf, daß ihre Grenze sauber war. Interessant war allein dieser amerikanische Wissenschaftler Martino. Was er wohl machte, dort in seinem Laboratorium?

Der Amerikaner Heywood konnte es ihm auch nicht sagen. Er hatte es zwar so eingerichtet, daß Martinos Laboratorium nahe Azarins Sektor zu liegen kam, aber das war auch alles, was er hatte tun können. Er wußte nur noch, daß Martino an einer sehr wichtigen Sache arbeitete, die ein Labor von ziemlichen Ausmaßen benötigte. Diese Sache hieß K-88. Aber er wußte nicht, wofür dieses K-88 stand.

Azarin sah finster drein. Was nützte ihm zu wissen, daß Martinos Arbeit wichtig war, wenn er nicht wußte, worum es sich handelte. Der Amerikaner Heywood war sehr geschickt mit seinen Angaben gewesen, aber in Wirklichkeit waren diese Angaben überhaupt keine Angaben. Es wunderte ihn nicht, daß ein Mann wie Heywood nur sehr wenig darüber wußte; das alliierte System war in dieser Hinsicht genauso verzwickt wie das sowjetische. Aber wer sollte die Sache übernehmen und herausfinden, was sich in Martinos Labor tat, wenn nicht Azarin selbst.

Es gab nur eine Möglichkeit: Martino ausfragen. Aber das war nicht so ohne weiteres zu verwirklichen. Niemand, selbst nicht Azarin, hätte in sein Labor hineinkommen können. Man mußte also warten, bis sich eine Gelegenheit bot, den Wissenschaftler zu entführen. Dann konnte man ihn hier herüberbringen, ihn ausfragen und wieder laufenlassen. Alles, bevor die Alliierten etwas dagegen tun konnten. Sie hätten dann ihr K-88 verloren, wie schlau dieser Amerikaner Rogers es auch anstellen würde. Aber bis dahin mußte jeder — Azarin, Novoya Moskva — und alle die anderen, die daran interessiert waren, warten.

Das Telefon auf seinem Schreibtisch klingelte. Azarin griff nach dem Hörer. »Polkovnik Azarin!«

»Gospodin Polkovnik.« Einer seiner Assistenten war am anderen Ende der Leitung. Azarin erkannte seine Stimme und suchte nach seinem Namen. Er fand ihn.

»Nun, Yung?«

»Der Amerikaner Martino ist mit seinem Labor in die Luft geflogen.«

»Schick’ sofort Leute rüber. Seht zu, daß ihr den Amerikaner erwischt.«

»Sind schon unterwegs. Was sollen wir als nächstes tun?«

»Als nächstes? Hierherbringen. — Oder nein — einen Augenblick. Eine Explosion, sagten Sie? Schafft ihn ins Militär-Hospital.«

»Jawohl, Oberst. Hoffentlich lebt er. Schließlich haben wir lange genug auf diese Gelegenheit gewartet.«

»So, meinen Sie? Sehen Sie zu, daß meine Befehle sofort ausgeführt werden. Schluß.«

Verflucht! Martino mußte mindestens noch so heil sein, daß man ihn wenigstens ausfragen konnte. Was würde sonst Novoya Moskva sagen?


* * *

Der Wagen hatte kaum angehalten, als Azarin heraussprang, und die Treppe hinaufeilte. Er lief durch die Eingangshalle des Hospitals auf den dahinterliegenden Flur, wo ihn ein Arzt erwartete.

»Oberst Azarin?« fragte der kleine drahtige Mann und bog sich dabei ganz nach vorn. »Ich bin Doktor der Medizin Kothu. Sie werden mir verzeihen, ich spreche Ihre Sprache nicht sehr flüssig.«

»Dafür kann ich Ihre umso besser«, sagte Azarin. Er spürte des Doktors Überraschung, lange bevor er seinen Satz beendet hatte. »Nun, wo ist der Mann?«

»Bitte mir zu folgen.« Kothu verbeugte sich wieder und ging auf den Aufzug zu. Für einen Augenblick lag ein leichtes Lächeln auf Azarins Gesicht.

Es war immer wieder für ihn eine große Genugtuung, wenn er, der simple aussehende Azarin, beweisen konnte, daß er so gelehrt war, wie die von der Universität. Schließlich war es auch etwas, worauf man stolz sein konnte. Er lernte seine Sprachen, während er mit einer Zigarette die Blutegel von seinen Beinen brannte. In dieser Zeit saßen die anderen in der Schule und lernten ihr Einmaleins.

»Ist der Mann sehr schwer verletzt?« fragte er, als sie in einen angrenzenden Saal traten.

»Sehr? Für ein paar Minuten war er tot.«

Azarin fuhr herum und sah auf den Arzt.

Diesmal war es Kothu, dessen Gesicht ein stolzes Lächeln hervorbrachte. »Er starb im Krankenwagen. Aber glücklicherweise ist der Tod heute nicht mehr von ewiger Dauer, unter besonderen Umständen natürlich.« Er führte Azarin an ein kleines, in die Wand eingelassenes Fenster.

»Er ist jetzt schon über den Berg.« Kothu zeigte auf ein menschliches Torso, der inmitten einer Anhäufung von Apparaten unbeweglich und blutüberströmt dalag. »Sehen Sie diese Auto-Herzpumpe da? Sie sorgt jetzt für den Blutkreislauf. Die künstliche Niere auf der anderen Seite reinigt den Blutstrom. Sie müssen uns vergeben, alles ist noch ein wenig unordentlich. Wir hatten nicht viel Zeit. Aber bald werden Sie sehen, daß man sich auf eine lange Routine vorbereitet.« Azarin sah, daß weißbekleidete Helfer die Geräte umordneten. Es war offensichtlich, daß die ersten Schwierigkeiten überwunden waren. Eine Krankenschwester sah auf ihre Uhr: sie wechselte die Behälter mit fremdem Blut.

Azarin brummte, um seine Nervosität zu verbergen. Es fiel ihm nicht leicht, diese grausame Szenerie zu beobachten. Schließlich lag da ein Mann, dessen schleimige Eingeweide an allen Stellen hervorquollen und mit denen dieser kleine Doktor Kothu spielte, als seien sie glatte Katzendärme.

Azarin gruselte es bei dem Gedanken, daß dieser Arzt dasselbe auch mit seinem Inneren machen konnte. Er sah sich schon auf jener Schlachtbank liegen, sein Innenleben scheußlich zur Schau gestellt und entweiht durch die spielenden Hände des Doktor Kothu.

»Nicht schlecht«, schrie Azarin, »aber für mich ist er nutzlos. Oder kann er sprechen?«

Kothu schüttelte den Kopf. »Sein Schädel wurde zertrümmert, er hat einige seiner Sinnesorgane verloren. Was Sie da sehen, ist nur eine kleine Notausrüstung, wie man sie auf jeder Krankenstation finden kann. Warten Sie zwei Monate, dann ist er wie neu.«

»Zwei Monate?«

»Oberst Azarin, bitte sehen Sie sich das Wesen auf dem Tisch da an, es ist kaum noch ein Mensch zu nennen.«

»Ja — ja, ich verstehe. Ich bin auch schon froh, daß ich ihn so habe. Könnte man ihn nicht transportieren, sagen wir, in das große Hospital in Novoya Moskva?«

»Er würde es nicht überleben.«

Azarin nickte. Etwas Gutes lag auch hierin. So konnte man ihn wenigstens nicht von ihm fortholen, und er würde es sein, der diesen Amerikaner auseinanderpflückte, der den Honig vom Baum holte.

»Schön, tun Sie ihr Bestes. Und schnell!«

»Natürlich, Oberst.«

»Wenn Sie irgend etwas brauchen, kommen Sie zu mir. Ich werde es Ihnen besorgen.«

»Danke vielmals, Herr Oberst.«

»Sie brauchen sich für nichts zu bedanken. Ich will diesen Mann haben, und damit Sie ihr Bestes tun können, bin ich bereit, Ihnen zu helfen.«

»Jawohl, Herr Oberst.« Doktor Kothu verbeugte sich und wartete, bis das Hallen der schweren Schuhe Azarins in den weiten Fluren des Hospitals verstummt war.

Am Ausgang stand Yung mit einer Gruppe SIB-Polizisten. Azarin gab Anweisungen zur Bewachung von Martino und befahl, daß das gesamte Operationsstockwerk von der Außenwelt abgeriegelt wurde. Er dachte daran, wie schnell solch eine Geschichte verbreitet wurde, und überlegte, wie er die vielen, die den Vorgang miterlebt hatten — seien sie Ärzte, Soldaten oder gar andere Patienten des Krankenhauses — zum Schweigen bringen konnte. Azarin war überzeugt, daß nur ein so großer Kopf wie er, diese Aufgabe lösen konnte; vorausgesetzt, daß der Amerikaner Rogers sie nicht zunichte machte.

Fünf Wochen vergingen. Azarin erreichte nichts während dieser Zeit. Fünf Wochen, von denen Martino nichts bemerkte.


* * *

Jedesmal, wenn Martino versuchte, einen Gegenstand ins Auge zu fassen, schwirrte es leicht in seinem Vorderschädel. Er bemühte sich, sich eine Ursache des Geräusches vorzustellen, aber er war noch zu schwach, um lange Überlegungen anstellen zu können. Es dauerte eine ganze Stunde, bis er etwas erkennen konnte.

Während dieser Zeit lag er unbeweglich, auf seinem Bett und lauschte den Geräuschen, die um ihn herum entstanden. Er stellte fest, daß auch seine Ohren nicht mehr ganz intakt waren und daß sein Kopf schmerzte, wenn ihn eine leichte Geräuschwelle traf. Es war ihm, als schwinge der ganze Schädel mit.

In seinem Mund spürte er das Plastikende eines Gerätes. Es schien ein Saugschlauch zu sein. Er schloß daraus, daß sein Kiefer gebrochen sein mußte und daß man ihm auf diese Weise seine Nahrung zuführte.

Die Bettücher, die ihn umgaben, waren heiß und rauh. Sein ganzer Oberkörper war verbunden. Es schmerzte ihn, wenn er seine rechte Schulter bewegte. Seine Linke war vollkommen gefühllos. Er fand, daß sein Arm fehlte. Das war schlecht. Dafür schien der andere aber noch zu gebrauchen zu sein.

Als er erkannte, daß er einen Arm verloren hatte, blieb er einen Augenblick unbeweglich liegen. Es dauerte etwas, bis er sich damit abgefunden hatte. Daß er noch seinen rechten Arm besaß, war schon eine Menge wert. Er war schließlich Rechtshänder. Langsam versuchte er seinen Unterkörper. Seine Beine und Hüften ließen sich bewegen. Gut, dachte er, also nicht gelähmt. Er hatte Glück gehabt, dünkte ihm, und er fühlte sich sogleich besser. Er versuchte noch einmal seine Augen. Diesmal erkannte er etwas. Er sah die blaue Decke des Raumes. Das Licht tat ihm weh, und er versuchte zu blinzeln. Augenblicklich wurde das Blau zu Gelb.

Er hatte eine eigenartige Verschiebung in seinem Kopf gespürt, und er stellte fest, daß alle Gegenstände, die er sehen konnte, gelb waren. Er versuchte noch einmal zu blinzeln. Diesmal verdunkelte sich der ganze Raum. Er sah wieder an die Decke. Wo eben noch das helle Licht war, schimmerte jetzt ganz schwach ein verschwommenes Etwas. Er glaubte, durch rußbeschmiertes Glas zu schauen.

Er war überrascht, daß er nicht den Geruch eines Krankenhauses roch oder die Struktur der Bettwäsche fühlen konnte. Er blinzelte noch einmal: alles war wieder so hell wie zuvor. An den Ecken seines Sehradius erkannte er die einwärts gebogenen Kanten von Metall. Er hatte das Gefühl, durch einen schmalen Spalt die Außenwelt zu sehen. Langsam bewegte er seine rechte Hand und befühlte sein Gesicht.


* * *

Fünf Wochen — von denen Martino nichts wußte und in denen Azarin nichts hatte erreichen können.

Azarin hielt mit der einen Hand den Hörer seines Telefons. Mit der anderen griff er nach der Zigarettendose aus Sandelholz und holte sich eine Papyros mit Goldmundstück heraus. Er steckte sie in seinen Mund und schob sie in die rechte Ecke, so daß sie aus dem Weg war. Immer noch mit einer Hand, zündete er die Zigarette an. Seine Lippen schlossen sich zu einem Ring um den Papyros, als er den ersten Zug tat.

»Natürlich verstehe ich, daß die Alliierten darauf drängen, daß wir den Mann freigeben.«

Die Verbindung mit Novoya Moskva war schlecht. Aber er dachte nicht daran, lauter zu sprechen. Im Gegenteil, seine Stimme war fest und natürlich wie immer. Es hatte den Anschein, als wolle er seine Worte mit Gewalt durch den Draht jagen. Er fluchte leise vor sich hin, daß Rogers den Aufenthaltsort des Mannes so schnell herausgefunden hatte. Es wäre leichter gewesen, mit den Alliierten zu verhandeln, wenn man hätte sagen können, daß man nicht wüßte, wo der Mann sei. Jetzt hieß es, Zeit zu gewinnen, sehr viel Zeit sogar. Aber was machte man mit diesen verfluchten Telefongesprächen.

»Vor morgen werden die Chirurgen kaum ihre letzte Operation fertig haben. Ich glaube nicht, daß ich den Mann vor übermorgen mit Fragen bombardieren kann. Ja, natürlich. Ich möchte sagen, daß die Ärzte für diese Verzögerung verantwortlich sind. Aber sie sagen nur immer, daß wir froh sein können, den Mann überhaupt am Leben zu haben. Sie behaupten, daß alles, was sie tun, unbedingt notwendig ist. Martinos Zustand war außerordentlich bedenklich. Jede der Operationen ist in höchstem Maße kritisch, und ich bin überzeugt, daß Doktor Kothu ein ausgezeichneter Arzt ist. Das bestätigen auch die Unterlagen, die ich aus Ihrem Ministerium vor mir zu liegen habe.«

Azarin spielte seine Vorgesetzten gegen sich selbst aus. Er wußte, daß dies gefährlich war, aber er wußte auch, daß sie sich kaum selbst ad absurdum führen würden. Doktor Kothu war auch für sie eine Autorität.

Dies war eine gute Gelegenheit für ihn, ein wenig mit seinen Vorgesetzten zu spielen. Eines Tages würde er auch einer von ihnen sein, und dann hatte er mehr Erfahrung mit Untergebenen als die, die jetzt über ihm standen.

»Jawohl, ganz recht. Noch zwei Wochen.« Azarin zerbiß das vergoldete Mundstück seiner Papyros. Er sog nervös den Rauch durch die klebrige Papiermasse. »Ja, ich bin mir der langen Verzögerung durchaus bewußt, und ich werde die internationale Situation, die daraus entspringt, immer im Auge behalten.«

Gut. Man gab ihm also doch noch die Gelegenheit, Martino zu untersuchen. Einen kurzen Augenblick war Azarin glücklich.

Dann stolperte er wieder über den Gedanken, daß noch nicht einmal die geringste Vorarbeit geleistet worden war.

Verloren in Gedanken sagte er: »Gute Nacht, Gospodin.« Er legte den Hörer auf und ließ seinen Kopf auf die klobigen Hände fallen. Die Zigarette in seinen Fingern brannte langsam zu Ende.

Azarin war sich im klaren darüber, daß man einen Mann von der anderen Seite nur eine relativ kurze Zeit festhalten konnte. Die Aussichten auf eine entsprechende Vergeltung waren zu unangenehm. Auch mußte ein solcher Mann in dem bestmöglichen Zustand zurückgegeben werden, andernfalls spürte man noch Monate später eine Verschlechterung der allgemeinen Lage.

Normalerweise hielt man einen Mann nur ein bis zwei Tage fest, dann gab man ihn zurück. Rogers brauchte dann nochmals ein bis zwei Tage, um herauszufinden, was er erzählt hatte, und damit war die Sache abgeschlossen. Hatte er etwas Wichtiges verraten, sorgte Rogers gleich dafür, daß es wieder gutgemacht wurde. Azarin hielt dieses ganze Spiel für eine einzige große Zeit- und Energieverschwendung.

Aber jetzt hatten sie diesen Martino. Er hatte etwas erfunden, das sie K-88 nannten; er war ein Mann mit weitreichendem Ruf, aber ohne Unterlagen.

Azarin verwünschte es, in dieser komplizierten Zeit zu leben. Wieder blieb es an ihm hängen — ihm, dem Genossen Anasta Azarin — eine Sache, die so ein Amateurstümper wie Heywood eingefädelt hatte, zu klären. Azarin starrte auf seinen Schreibtisch. Und diese verrückten Kerle in Novoya Moskva taten auch noch so, als sei er der Schuldige. Sie schrien immer nur nach Resultaten. Daß der Mann fast fünf Wochen lang so gut wie tot gewesen war, interessierte sie nicht. Aber so war das nun einmal mit Bürokraten. Sie hielten sich an ihre Bücher und an das, was einmal so oder so in früheren Jahren gemacht worden war.

Schön, aber wer wußte schon etwas über Martino? Man wußte nur, daß er etwas erfunden hatte. Unterlagen gab es nur über seine ersten Studienjahre. Azarin fluchte und wünschte, daß er SIB Agenten habe, wie man sie im Kino sehen konnte. Agenten, die durch Stahlbetonwände dringen konnten und immer und zu jeder Zeit Zugang zu alphabetisch geordneten, bereits in kyrillische Schrift übersetzte, alliierte Staatsgeheimnisse hatten. Azarin hätte gern ein oder zwei solcher Leute unter sich gehabt. Aber sie waren nicht zu haben oder wurden sogleich zu Instrukteuren gemacht und damit aus dem aktiven Dienst gezogen.

Da war er nun, dieser Martino. Er war bewacht worden wie viele seinesgleichen, und nichts war durchgesickert. Wenn diese Explosion nicht gewesen wäre, hätte Azarin die Akte K-88 wahrscheinlich nie mehr zur Hand genommen.

Martino schien ein außerordentlich wertvoller Fang zu sein, man mußte ihn also solange als möglich dabehalten. Vielleicht war er es aber auch nicht, dann wäre er besser heute als morgen zurück bei den Alliierten. Er war beides zur gleichen Zeit und beides schien gleich dringend geboten. Die Situation war nahe daran, komisch zu werden; wenigstens galt das für einige Aspekte.

Azarin rauchte seine Zigarette zu Ende. Dann drückte er sie entschlossen in dem Aschenbecher aus. Er hatte plötzlich einen Plan und war sicher, daß er einige Resultate erzielen würde. Aber er wußte auch, daß Rogers fast so schlau war wie er. Er wußte, daß sein Gegenspieler jede Einzelheit kannte, die hier geschah, und Azarin gefiel der Gedanke ganz und gar nicht, daß man möglicherweise auf der anderen Seite über ihn lachte.


* * *

Eine Krankenschwester sah in Martinos Zimmer. Langsam ließ er seine rechte Hand wieder zurückgleiten. Die Krankenschwester verschwand, und einen Augenblick später trat ein Mann in weißem Kittel in den Raum.

Es war ein kleiner, drahtiger Mann mit gelber Haut. Er sah freudig aus, als er Martinos Puls fühlte, und seine spitzen, hervorstehenden Zähne gaben ihm den Ausdruck eines maskierten Clowns.

»Ich freue mich, daß Sie aufgewacht sind. Mein Name ist Kothu. Ich bin der Arzt hier. Wie fühlen Sie sich?«

Martino bewegte langsam den Kopf von der einen auf die andere Seite.

»Ich verstehe. Aber es blieb uns nichts anderes übrig. Von Ihrem Schädel war kaum noch etwas übriggeblieben, und die meisten Ihrer Sinnesorgane waren zerstört. Glücklicherweise wurden Sie nur einem kurzen Explosionsblitz ausgesetzt, so daß Ihr Schädel nicht eine längere, große Hitze auszuhalten hatte. Die Druckwelle, die dem Blitz folgte, zerbrach Ihre Knochen, ohne Sie zu zersplittern. Ich weiß, daß dies nicht amüsant ist, aber lassen Sie sich von mir sagen, daß es noch die beste Art ist, eine Explosion zu erleben. Ihr Arm, fürchte ich, wurde durch ein Metallstück völlig zertrümmert. Würden Sie bitte sprechen?«

Martino sah auf den Doktor. Er schämte sich immer des Schreies, den er ausgestoßen hatte, als die Krankenschwester in das Zimmer geschaut hatte. Er versuchte, sich vorzustellen, wie er wohl aussah und wie er den Schrei hervorgebracht hatte. Wenn er Luft holte, mit der er seine Worte formulieren wollte, spürte er nur ein dumpfes Rollen unter seinen Rippen. Es war, als drehten sich die Räder einer Turbine.

»Sie brauchen sich nicht anzustrengen«, sagte Doktor Kothu. »Sprechen Sie einfach.«

»Ich —« Er spürte keinen Unterschied. Er hatte zunächst geglaubt, daß er durch einen künstlichen Kehlkopf sprechen müsse. Aber er hörte, daß seine Stimme noch genauso klang wie früher. Sein Brustkasten bewegte sich nicht, und er brauchte keinerlei Eigenenergie, um Worte hervorzubringen. Es war wie im Traum. Leicht und flüssig kamen die Worte hervor. »Ich — Eins, zwei, drei, vier. Eins, zwei, drei, vier. Do, re, mi, fa, sol, la, ti, do.«

»Vielen Dank. Sie helfen uns ganz ungewöhnlich. Sagen Sie mir, können Sie mich sehen? Sehen Sie, wie ich mich bewege? Bin ich klar?«

»Ja.« Die Servomotore summten in seinem Kopf. Martino versuchte seine Hand zu heben, um seinen Nasenrücken zu kratzen.

»Sehr gut. Wissen Sie, daß Sie schon über einen Monat bei uns sind?«

Martino schüttelte den Kopf. Warum hatte niemand versucht, ihn zurückzuholen? Ob man wohl dachte, er sei tot?

»Sie werden verstehen, daß wir Sie abgeschlossen halten mußten. Der Umfang unserer Arbeiten war zu groß.«

Martino hatte das Gefühl, als habe man seinen Körper mit groben Steinen gefüllt.

»Wie ich schon sagte, der Umfang unserer Arbeiten war sehr groß.« Doktor Kothu schien stolz. »Und ich muß sagen, daß Doktor Verstoff gute Arbeit geleistet hat in Bezug auf Ihre Schädelprothese. Und natürlich gilt das gleiche für Doktor Ho und Doktor Jansky. Sie haben Ihre Sinnesorgane wiederhergestellt. Die Medizintechniker Debrett, Fonten und Wassil zeichnen verantwortlich für Ihre Nieren- und Atmungsanlage. Ich selbst hatte die Ehre, die ganze Arbeit zu leiten und eine Methode zu entwickeln, die es den Nervenzellen erlaubt, sich wieder aufzubauen.« Er sprach etwas leiser. »Würden Sie wohl die Freundlichkeit haben, unsere Namen zu erwähnen, wenn Sie auf die andere Seite zurückgekehrt sind? Ich kenne Ihren Namen nicht«, fügte er schnell hinzu, »und ich weiß auch nicht, wo Sie herkommen, aber Sie müssen wissen, daß die Medizin uns die Möglichkeit gibt, einige Dinge am Körper eines Menschen abzulesen. Wir zum Beispiel auf dieser Seite, geben Pockenimpfungen auf den rechten Arm —« Er war ganz offensichtlich verwirrt. »Übrigens ist das, was wir hier getan haben, etwas ganz Neues. Heutzutage wird leider so etwas bei uns nicht mehr veröffentlicht.«

»Ich werde es versuchen.«

»Ich danke Ihnen. So viele große Dinge werden heutzutage bei uns erreicht. Aber Sie von der anderen Seite wissen nichts davon. Wenn Ihre Leute mehr davon wüßten, würden sie schneller zu uns kommen.«

Martino sagte nichts darauf. Eine peinliche Minute verstrich. Dann sagte Doktor Kothu: »Wir müssen sehen, daß wir Sie nun fertig bekommen. Dazu fehlt uns noch eine Kleinigkeit.« Er lächelte wieder wie zuvor. »Der Arm, wissen Sie. Ich rufe jetzt die Schwester, damit sie Sie zurecht macht. Wir sehen uns im Operationssaal wieder. Wenn das vorbei ist, sind Sie so gut wie neu.«

»Danke vielmals, Doktor.«

Als Kothu den Raum verlassen hatte, traten zwei Krankenschwestern herein. Ihre weißen Kittel waren frisch gestärkt und ihre dunklen Haare bis auf einen kleinen Rand unter einer weiten Haube versteckt. Ihre Gesichter waren ohne Ausdruck. Sie preßten ihre Lippen zusammen, wie sie es in der Krankenschule gelernt hatten, und es war unmöglich, auch nur die geringste Spur von Puder oder Lippenstift zu entdecken.

Die beiden Frauen, deren Alter unmöglich zu schätzen war, zogen Martino aus, wuschen ihn und betteten ihn auf eine fahrbare Liege. Sie arbeiteten, ohne ein Wort zu sprechen. Martino glaubte, ihnen ansehen zu können, daß sie diese Arbeit gleichermaßen richtig und flüssig hätten erledigen können, wenn sie die Augen geschlossen hielten.


* * *

Azarin schritt über den Flur auf Martinos Zimmer zu. Neben ihm lief Kothu.

»Ja, Herr Oberst, wie ich schon sagte, er ist noch nicht sehr stark, aber das wird er, sobald er genügend Genesungsruhe hat. Die Operationen waren alle ein großer Erfolg.«

»Kann er längere Zeit sprechen?«

»Vielleicht nicht heute. Es hängt vom Thema ab. Eine zu große Belastung wäre nicht gut für ihn.«

»Das hängt fast ausschließlich von ihm ab. Ist er hier drin?«

»Ja, Herr Oberst.« Der kleine Doktor öffnete die Tür, und Azarin marschierte in das Zimmer.

Er blieb stehen, als habe ihm jemand einen Dolch in den Magen getrieben und starrte auf das teuflische Ding in dem Bett vor ihm.

Martino sah ihn aus seiner schmalen, dunklen Augenhöhle an. Sein gesunder Arm war unter der Decke, der künstliche lag quer über das weiße Bettzeug und sah aus wie der Greifapparat eines Wesens vom Mond. Martino sagte nichts. Er lag unbeweglich, mit starr auf die Tür gerichtetem Blick in seinem Bett.

Azarin schaute zu Kothu: »Sie haben mir nicht gesagt, daß er so aussieht.«

Kothu stand da wie vom Blitz getroffen. »Aber doch, Herr Oberst. Ich habe Ihnen alles ganz genau beschrieben und gesagt, daß alle diese Wunderwerke der Technik tadellos funktionieren. Ich gebe zu, sein Kopf ist nicht gerade reif für einen der alliierten Schönheitswettbewerbe, aber Sie haben den ganzen Aufbau genehmigt.«

»Dennoch, Sie haben mir nicht gesagt, wie er zum Schluß aussehen würde. Bitte, stellen Sie mich vor.«

»Aber selbstverständlich«, sagte Kothu nervös. Er drehte sich zu Martino herum. »Dies ist Oberst Azarin. Er kommt, um sich nach Ihrem Befinden zu erkundigen.«

Azarin zwang sich, zu dem Bett hinüberzugehen. Sein Gesicht sollte so etwas wie ein Lächeln hervorbringen, aber es wurde nur eine freundliche Grimasse. »Wie geht es Ihnen?« fragte er auf Englisch und streckte Martino seine Hand entgegen.

Der Kranke reichte Azarin seine gesunde Hand. »Es geht mir schon besser, danke.« Martinas Stimme klang unpersönlich. »Und wie geht es Ihnen?«

Azarin schüttelte seine Hand, sie fühlte sich menschlich an. »Danke. Möchten Sie sich etwas unterhalten? Bitte, Doktor Kothu, bringen Sie mir einen Stuhl.« Der Arzt holte einen Stuhl und brachte ihn zu Azarin ans Bett. »So, und nun werden Sie uns allein lassen, Doktor. Wenn ich fertig bin, werde ich Sie rufen.«

»Natürlich, Herr Oberst. Ich wünsche Ihnen einen schönen Nachmittag«, sagte er zu Martino.

»So, Herr Martino, Doktor der Wissenschaften, jetzt können wir uns ein wenig unterhalten. Bis heute habe ich darauf gewartet, daß Sie genesen. Jetzt ist es soweit. Ich hoffe, daß ich Sie nicht belästige. Aber Sie verstehen sicher, eine Menge Dinge müssen nachgeholt werden. Sie wissen ja: Berichte, Fragebogen und so weiter, nichts als Papierkram.«

»Kann ich mir denken«, sagte Martino. Azarin fand es schwierig, seine normale Stimme mit seiner abscheulichen Fratze in Einklang zu bringen. »Ich nehme an, daß meine Leute Ihre Vorgesetzten ganz nett mit meiner Freilassung belästigt haben. Und das natürlich bedeutet eine Menge Schreibarbeit.«

Azarin war nicht wenig überrascht über die Raffinesse, mit der dieses Wesen vor ihm innerhalb der ersten Minute herauszubringen gedachte, ob man sich von seiner Seite aus um ihn bemüht hatte.

»Es gibt immer Papierarbeit zu erledigen«, sagte Azarin mit einem Lächeln. »Als Sektionschef dieses Grenzabschnittes verlangt man von mir, daß ich Berichte verfasse.« So, jetzt konnte der Kranke sich denken, was er wollte. »Sind Sie hier zufrieden? Ich hoffe sehr, daß Sie es sind. Ich habe veranlaßt, daß man Ihnen die neuesten medizinischen Erkenntnisse zugute kommen läßt.«

»Meinen verbindlichsten Dank, Herr Oberst.«

»Ich bin überzeugt, daß Sie als Wissenschaftler von dem Resultat Ihrer Behandlung noch tiefer beeindruckt sein werden als ich, der ich nur ein einfacher Soldat bin.«

»Mein Gebiet ist die Elektronentechnik, nicht die Servomechanik.«

Damit hat er sich verraten, dachte Azarin, und jetzt sind wir gleich. Gleich? Nein. Martino hatte noch keine Anzeichen gegeben, daß er wirklich entgegenkommend war. Aber schließlich waren diese Aufwärm-Gespräche nie sehr produktiv. Sie bestimmten lediglich, in welchem Ton und auf welche Art die weiteren Unterhaltungen verlaufen würden. Jetzt mußte Azarin sich entscheiden, welche Taktik er gegen Martino anzuwenden hatte.

Aber wie war etwas herauszubekommen, wenn dieser Mann niemals seine Gefühle zum Ausdruck bringen konnte? Sein Gesicht war kein Gesicht, es war eine Metallmaske ohne Bewegung. Azarin sah finster drein. Er sah Schwierigkeiten voraus, aber tief im Inneren war er überzeugt, daß er gewinnen würde, daß er diesem Untier seine Geheimnisse entreißen würde.

Azarin sah auf sein Opfer. Wie lange würde er es noch in seiner Hand haben? Sechs Wochen hatte man schon die Alliierten hingehalten. Ob er es noch schaffen würde? Er zweifelte. »Sagen Sie mir, Doktor Martino, verwundert es Sie nicht, daß Sie in einem unserer Krankenhäuser sind? Und wie, glauben Sie, ist das gekommen?«

»Ich nehme an, daß Ihre Leute schneller waren als die unsrigen.«

Azarin war es jetzt ganz klar, daß dieser Mann ihm keine Ansatzpunkte geben würde. Wenigstens nicht freiwillig. »Ja.« Er grinste aus seinem breiten Gesicht, »aber glauben Sie nicht, daß die Alliierten größere Sicherheitsanstrengungen hätten machen sollen?«

»Ich fürchte, ich habe mir nie sehr viel Gedanken darüber gemacht.«

Der Mann wollte also nicht sagen, ob die Explosion des K-88 eine ganz normale Explosion war, oder etwas anderes.

»Und worüber haben Sie sich Gedanken gemacht?«

Die Gestalt im Bett schien die Schultern hochzuziehen. »Eigentlich über nichts Besonderes. Ich warte nur darauf, daß man mich hier herausläßt. Ich bin immerhin schon eine geraume Zeit hier und kann mir nicht denken, daß Sie mich noch länger halten wollen.«

Jetzt versuchte das Wesen sogar, ihn, Azarin, bewußt zu ärgern. Er wußte selber gut genug, wieviel Zeit schon vergangen war. »Mein lieber Doktor, fast sind Sie es allein, der darüber entscheidet, wann Sie gehen wollen.«

»Ganz recht — fast!«

Er wußte also, wie die Dinge standen und war bereit, den Kampf zu beginnen. Schade, daß er kein Gesicht hatte, in dem nach einiger Zeit dampfender Angstschweiß ausbrechen würde.

Plötzlich stand Azarin auf. Er spürte, daß seine Hände feucht waren. Es hatte keinen Zweck mehr, weiterzureden. Mit diesem Gespräch waren die Lager abgesteckt. »Ich muß jetzt gehen«, sagte er, »wir werden uns wieder sprechen.« Er verbeugte sich. »Auf Wiedersehen, Doktor der Wissenschaft, Martino.«

»Auf Wiedersehen, Oberst Azarin.«

Azarin stieß den Stuhl, auf dem er gesessen hatte, aus dem Weg und verließ Martinos Zimmer. Draußen stand der Doktor. »Ich bin für heute fertig«, rief er ihm zu und eilte durch den Gang auf den Ausgang zu. Als er in seinem Büro war, setzte er sich vor eine Tasse Tee und sah gebannt, aber ohne es so recht zu sehen, auf das Telefon.


* * *

Dr. Kothu kam kurz in das Krankenzimmer. Er untersuchte Martino und verließ, ohne viele Worte, wieder den Raum. Martino lag in seinem Bett und dachte.

Er wußte, daß dieser Azarin über kurz oder lang unangenehme Methoden anwenden würde. Martino rechnete mehr mit dieser Wahrscheinlichkeit, als daß er sie fürchtete.

Aber was ihn wirklich beschäftigte war sein Projekt, sein K-88. Er sah jetzt, was die Explosion verursacht hatte und dachte bereits an einen neuen Weg, wie er die enormen Hitzemengen absorbieren konnte.

So schwangen seine Gedanken von der einen Seite der Grenze auf die andere. Wie lange, sagte der kleine Doktor, werde er noch im Bett liegen müssen? Drei Tage oder vier? Aber was half es ihm, wenn er aufstehen durfte, und nicht zurückkonnte? Ob die Sowjets wohl viel über das K-88 wußten? Sehr unwahrscheinlich, denn dann hätten sie ihn sicher nicht so lange hoch-gepäppelt. Fest stand auf der anderen Seite, daß sie etwas wußten, sonst hätten sie nicht ein so großes Interesse, noch mehr aus ihm herauszubekommen.

Wie weit würden sie wohl gehen, um etwas herauszubekommen? Man hatte so viele Geschichten gehört. Aber vielleicht waren es nur Gräuelmärchen, die es hier genauso gab wie auf der anderen Seite.

Er war überrascht, als ihm bewußt wurde, daß er sich fürchtete. Er dachte darüber nach, ob er wohl ein Feigling sei. Seit dem Tag, an dem er den Unterschied zwischen Mut und Draufgängertum entdeckt hatte, war ihm so etwas nie mehr in den Sinn gekommen. Der Gedanke, daß er etwas Unsinniges aus Furcht tun könnte, war ihm neu.


* * *

Zwei Monate waren vergangen, seit Martino in das Krankenhaus eingeliefert worden war. Azarin wußte immer noch nicht, ob das K-88 eine neue Bombe war, Todesstrahlen oder eine besonders gute Vorrichtung zum Anspitzen von Bleistiften.

Er hatte mehrere längere Gespräche mit diesem komischen Wesen geführt. Alle umsonst. Es war immer sehr höflich gewesen, aber gesagt hatte es nie etwas. Azarin erkannte, daß es menschenunmöglich war, mit diesem Etwas zu kämpfen. Er saß in seinem Rollstuhl und wartete, daß er sich geschlagen geben würde. Es war wie einer jener Dschungelgötter, die auf ihrem Thron sitzen und mit Wohlgefallen das Opfer ihrer Untertanen mit ansehen.

Und immer dazwischen diese entnervenden Telefongespräche aus Novoya Moskva. Als Azarin an die Hauptstadt dachte, schlug er mit der Faust auf den Tisch. Welchen Ton sich diese Regierungsbeamten bereits angewöhnt hatten! War er nicht ihr bester Mann! Man müßte Zeit haben. Dann wüßte er schon, wie er diesen Martino kleinkriegen könnte. Aber die Herrn da oben wollten ihn so schnell als möglich an die Alliierten zurückgeben. So eine Dummheit!

Azarin suchte nach einer Antwort. Irgendwie mußte er einen Weg finden, um dieses Monstrum noch ein wenig in seinen Händen zu behalten. Er mußte Novoya Moskva zufriedenstellen. Aber er wußte, daß dies nicht eher Ruhe gab, als es etwas Vernünftiges den Alliierten sagen konnte. Und diese wiederum wollten nur eines hören: das Datum der Auslieferung Martinos.

Azarin zog seine dicken Augenbrauen zusammen. Ja! Das wäre eine Antwort, schoß es ihm durch den Kopf. Er griff nach dem Telefon und wählte die Nummer von Doktor Kothu. Dieser Doktor hat den einen da zusammengebastelt, warum sollte er nicht einen zweiten fertigbringen?

Er zog seine Oberlippe hoch, als er an den Amerikaner Heywood dachte. Ein eigener Mann wäre vielleicht besser gewesen, aber dieser Heywood kannte sich gut in den Staaten aus. Er war der beste für diesen Auftrag. Es war sehr wahrscheinlich, daß er früher oder später versagte, aber das war jetzt nicht so wichtig. Wichtig war, daß man in Novoya Moskva seinen Vorschlag annahm. Und daran zweifelte er nicht; denn im Ministerium war man sehr stolz auf den übergelaufenen Ausländer. Man glaubte offensichtlich, daß ein Verräter zwar die eine Seite betrügen konnte, aber prinzipiell korrekt war. Zum erstenmal war Azarin froh bei dem Gedanken an die Dummheit seiner Vorgesetzten.

»Doktor Kothu? Hier spricht Azarin. Sagen Sie, könnten Sie mir ein genaues Abbild dieses Martino-Monsters machen, wenn ich Ihnen einen anderen Menschen schicke, einen gesunden diesmal?« Er trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. »Ja, Sie haben richtig gehört, einen gesunden Menschen. Aber verstehen Sie recht: ich brauche ein genaues Abbild, einen Zwilling des ersten.«

Als er das Gespräch mit Doktor Kothu beendet hatte, rief er Novoya Moskva an. Sein Gesicht hatte seine Starrheit verloren. Er grinste und sah fest entschlossen aus. Natürlich würde er etwas Geduld brauchen, um das Ministerium zu überzeugen, aber Azarin hatte plötzlich Zeit, viel Zeit. Er bereitete sich darauf vor, so lange auf den widerspenstigen Baum einzuhauen, bis er fiel. Daß er fallen mußte, wenn er lange genug zuschlug, wußte er, seit er mit seinem Vater die großen Bäume sibirischer Urwälder gefällt hatte.

Das Gespräch dauerte, wie er es erwartet hatte, eine geraume Weile. Als es zu Ende war, setzte er sich selbstzufrieden in seinem Sessel zurück. Wieder einmal war er es gewesen, der die Lösung eines Problems gefunden hatte, während die Bücherwürmer des Ministeriums voller Unentschlossenheit hin- und hergeschwankt waren.

Er stand auf und verließ sein Büro. Draußen sagte er zu seinem Adjutanten: »Ich bin auf dem Weg nach unten. Bestellen Sie einen Wagen für mich.«

Es würde einige Wochen dauern, bis Heywoods Befehle Washington erreicht hatten, aber dieser Teil des Planes würde ohne Schwierigkeiten abgewickelt werden. In einer Woche mußte Heywood hier ankommen. In der Zwischenzeit hatte er noch eine Menge zu erledigen. Ein Gefühl der Überlegenheit überkam ihn, als er daran dachte, daß die Alliierten jetzt auf größeren Widerstand stoßen würden, wenn sie bei dem Ministerium vorstellig wurden, und er war sicher, daß von nun ab die Telefonate aus Novoya Moskva etwas seltener werden würden.

Er hatte also alles zum besten gewendet. Er, der dumme, ungelehrte Bauer, Anastas Azarin. Er, der Tölpel, der seine Lippen bewegte, wenn er las, der den ganzen Tag Tee trank, der aus dem Urwald kam und hier zu arbeiten begann, während man in Novoya Moskva redete.

Azarin zwinkerte mit den Augen, als er in Martinos Zimmer trat. »So, jetzt wollen wir uns weiter unterhalten. Jetzt haben wir genügend Zeit, um herauszufinden, wobei es sich um das K-88 handelt.« Zum erstenmal hatte er diesen Ausdruck ohne Umschweife genannt. Er sah, daß der Körper des Mannes in dem Rollstuhl zusammenzuckte.


* * *

Als erstes bemerkte Martino, daß sein Zeitgefühl verloren ging. Er war nicht sonderlich überrascht, da es für ihn völlig klar war, daß außergewöhnliche Umstände nicht wie die normalen Dinge des täglichen Lebens, chronologische Beziehungserfahrungen darstellen. Der Raum, in dem er auf und abgehen mußte, hatte keine Fenster, keine Uhr oder Kalender. Dennoch gab es so etwas wie zeitliche Intervalle — obwohl Martino nicht hätte sagen können, ob sie regelmäßig waren oder nicht — nämlich das Ablösen der beiden Männer, die marionettenhaft hinter ihren Tischen saßen, auf denen weder Fragebogen, Bleistifte noch sonst etwas lag. Der Raum war rechteckig angelegt und von so gleichförmiger Ausstattung, hinter jedem der beiden Tische, die sich gegenüberstanden, befand sich eine Tür, daß man nach einiger Zeit nicht mehr sagen konnte, wo vorne und wo hinten war. Martino wanderte zwischen den beiden Tischen von dem einen Ende des Raumes zum anderen, dann wieder zurück und wieder hin, ohne Ruhepause, ohne Unterbrechung. Er hatte die beiden Türen schon so oft auf seiner rechten und linken Seite gesehen, daß er nicht mehr wußte, durch welche er in den Raum getreten war. Jedesmal, wenn er an den Tischen vorbeikam, stellte der Mann, der auf der rechten Seite saß, eine Frage. Irgend etwas. »Wie ist ihr zweiter Name?« Oder »Wieviel Zentimeter hat ein Meter.« Oder sonst irgendeine bedeutungslose Frage. Wie Martino darauf antwortete, schien ihnen völlig gleichgültig. Sie machten keine Notizen und sahen ihn nie an, wenn sie ihre Fragen stellten. Martino erinnerte sich, daß er am Anfang viele Fragen nicht beantwortet hatte, nach einiger Zeit jedoch war er so gereizt, daß er bewußt sinnlose Antworten gab wie »Newton« oder »Sechzig«. Jetzt war er so erschöpft, daß er es für einfacher und besser hielt nur noch die Wahrheit zu sagen.

Martino wußte genau, was in ihm vorging: sein Gehirn begann eine eigene Wahrheitsdroge gegen die ständig zunehmende Müdigkeit zu entwickeln. Die Gleichung, die hier vorlag, war: richtige Antworten = Erleichterung.

Es war besonders erschütternd für Martino, daß die beiden Untersuchungsbeamten ihm kaum Beachtung schenkten. Er glaubte, durch eine völlig sinnlose Welt zu wandern. Die beiden Männer hinter ihren Tischen waren nicht da, um ihn zu richten, sondern lediglich, um mit ihm zu spielen, ihn weich zu machen. Er war der Ball, den sie sich zuwarfen. Daß nach einiger Zeit Azarin die wirklichen Fragen stellen würde, daran zweifelte Martino nicht, aber daß man ihn immer noch so weiterlaufen ließ, obwohl er schon seit einer geraumen Zeit die Wahrheit sagte, das zermürbte ihn. Schließlich erfüllte er seinen Teil der Gleichung. Warum gaben sie ihm jetzt keine Erleichterung? Aber die Männer saßen da und übersahen ihn; sie schienen nicht davon beeindruckt, daß er tat, was sie wollten. Er überlegte und kam zu dem Schluß, daß sein Gehirn die Entscheidungen, die es traf, offensichtlich nicht nach außen wiedergeben konnte. Wenn nur ein Mann dagewesen wäre, hätte man annehmen können, daß dieser taub und blind war, aber es waren immer zwei in dem Raum, und insgesamt mußten es mindestens zehn sein, die sich abwechselten. Martino schloß, daß er die Fähigkeit verloren haben mußte, sich in der äußeren Welt Gehör zu verschaffen, — er war es, Lucas Martino, der ein Nichts war.

In diesem Augenblick wußte Martino, was mit ihm geschah.


* * *

Azarin saß geduldig hinter seinem Schreibtisch. Er wartete auf Bescheid aus dem Verhörsaal. Vor drei Tagen hatte man Martino aus dem Krankenhaus hierhergebracht, und Azarin wußte, — denn er kannte sein Handwerk, — daß der Bescheid im Laufe des Tages kommen mußte.

Es war doch einfach, dachte Azarin. Man nahm die wichtigsten Dinge von einem Mann fort, und er fiel um. Allerdings mußte man schon Dinge wegnehmen, die lebenswichtiger waren als zum Beispiel seine Haut. Es gab auch solche, die ihre Objekte folterten, aber das war eine überalterte und unsaubere Methode. Daß dieser Martino intelligent war, war kein Hindernis. Im Gegenteil, die intelligentesten Menschen tragen den geringsten Ballast mit sich, und das bedeutete, daß man nur wenig wegzunehmen brauchte, um sie willfährig zu machen. Und wenn man einen solchen Menschen einmal auf diese Weise seelisch entkleidet hatte, genügte der leiseste Druck auf die eine oder andere Stelle, und er plauderte aus, was er wußte.

Natürlich war so ein Mann, nachdem man ihn ausgelaugt hatte, leer. Jeder konnte ihn von nun ab für sich verwenden, er war nachgiebig und demütig. Er war ein lebendiges Nichts.

Normalerweise gab ein Erfolg dieser Art Azarin nur geringe Befriedigung. Aber in diesem Fall?

Azarin knurrte vor sich hin und dachte an seine immerwährende Unüberwindbarkeit.

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