3.

Eine Woche war vergangen. Deptfords Stimme klang leer und müde über das Telefon. Rogers, in dessen Ohren es seit zwei Tagen leise, aber ohne Unterbrechung summte, mußte den Hörer fest ans Ohr drücken, um seinen Chef zu verstehen.

»Ich habe Karl Schwenn Ihre Berichte vorgelegt, Shawn, einschließlich meiner Zusammenfassung. Er gibt zu, daß man nicht mehr hätte tun können.«

»Fein.«

»Übrigens, er war auch einmal Chef eines Abschnittes und weiß daher Bescheid.«

»Kann ich mir denken.«

Deptfords Worte kamen nur zögernd, es schien, als suche er nach der passenden Formulierung, um einen Schlußstrich unter die Sache zu ziehen.

»Shawn, hören Sie zu. Morgen können Sie Ihre Leute nach Hause schicken. Sie selbst warten auf neue Anweisungen über Martino.«

»In Ordnung, Chef.«

»Bis dahin, Shawn.«

»Gute Nacht, Chef.« Rogers schob das Telefon beiseite und rieb sein rechtes Ohr.


* * *

Rogers und Finchley saßen auf der Pritsche und sahen den gesichtslosen Mann an, der auf dem Stuhl neben dem Tisch saß, an dem er seine Mahlzeiten einzunehmen pflegte. Er hatte die meiste Zeit in dem kleinen Raum verbracht und ihn nur verlassen, wenn er in das Laboratorium ging, das man im Nebenraum: aufgebaut hatte. Man hatte ihm neue Kleider gegeben, und er war mehrfach unter der Dusche gewesen, ohne zu rosten.

»Herr Martino«, begann Finchley höflich, »Ich weiß, daß wir Sie schon alles mögliche gefragt haben, aber ist Ihnen seit unserer letzten Unterhaltung noch etwas eingefallen?«

Rogers dachte, dies ist unsere letzte Chance.

Er hatte noch niemand etwas davon gesagt, daß ihre Aufgabe zu Ende ging. Finchley war mit ihm in den Keller gekommen, da es immer besser war, wenn zwei Mann ein Kreuzverhör durchführten. Auf diese Art und Weise konnte man abwechselnd Fragen stellen, wenn der Befragte anfing, schwach zu werden. Man konnte ihn wie einen Tennisball hin und her jagen und ihn nicht mehr zu klaren Überlegungen kommen lassen. Insgeheim mußte Rogers jedoch zugeben, daß er Angst hatte, allein vor diesem eigenartigen Wesen zu sitzen.

Die Deckenbeleuchtung spiegelte sich in dem polierten Metall. Erst einen Moment später wurde Rogers klar, daß Martino auf Finchleys Frage den Kopf geschüttelt hatte.

»Nein, ich erinnere mich an nichts. Das einzige, was ich noch weiß, ist die Explosion direkt vor meinem Gesicht.« Er schien lachen zu wollen, aber es klang wie ein heiseres Bellen. »Ich glaube, es war in der Tat mein Gesicht. Als ich in ihrem Krankenhaus zu mir kam, befühlte ich zuerst meinen Kopf.« Dabei griff er mit der gesunden Hand nach seinem stählernen Kinn.

»Schön«, nickte Finchley. »Und was geschah dann?«

»In jener Nacht injizierten sie ein Betäubungsmittel in mein Rückgrat. Als ich wieder aufwachte, hatte ich diesen Arm hier.«

Das künstliche Glied schoß hoch, und seine Knöchel klapperten gegen den Metallkopf. Martino seufzte ein wenig, sei es, daß er das Geräusch nicht vertragen konnte, sei es, daß er sich an den ersten, verwirrenden Eindruck erinnerte.

Rogers betrachtete gebannt das Gesicht des Mannes. Die Pupillen seiner Augen sammelten das Licht des ganzen Raumes und ließen es in ihrer Einkerbung hell aufleuchten. Das Mundgitter sah aus wie die Zahnreihe einer häßlichen Grimasse.

Es war gut möglich, daß der Mann dahinter — wenn er nicht Martino war — sich eins ins Fäustchen lachte.

»Lucas«, begann Rogers so vertraulich als möglich.

Martinos Kopf stellte sich augenblicklich auf Rogers ein. »Ja, Herr Rogers?«

Wenn sie ihn trainiert hatten, so hatten sie es gründlich getan.

»Hat man Sie sehr ausgiebig verhört?«

Der Mann nickte. »Natürlich weiß ich nicht, was Sie ausgiebig in einem solchen Fall nennen. — Nach zwei Monaten konnte ich aufstehen; sprechen konnten sie mit mir schon eine geraume Zeit vorher. Ich möchte sagen, sie haben sich ungefähr zehn Wochen lang mit mir beschäftigt, wobei sie versucht haben, das aus mir herauszubekommen, was sie noch nicht wußten.«

»Zum Beispiel über das K-88-Projekt, nicht wahr?«

»Ich habe das K-88-Projekt nicht erwähnt. Ich glaube, sie wissen noch nichts darüber. Sie stellten nur ganz allgemeine Fragen: zum Beispiel, in welcher Richtung wir unserer Forschungen betrieben, und so weiter.«

»Herr Martino«, griff Finchley ein, und Martinos Schädel drehte sich unheimlich auf seinem Hals, ähnlich dem Geschützturm eines Panzerwagens. »Sie haben sich sehr viel Arbeit mit Ihnen gemacht, offen gesagt, wenn wir Sie zuerst erwischt hätten, nun ja, Sie würden auch noch leben, aber ich glaube, Sie wären nicht gerade begeistert darüber gewesen.«

Der Metallarm fiel auf den Tisch. Niemand sagte ein Wort. Rogers erwartete eine scharfe Antwort.

»Ja, das leuchtet mir ein.«

Rogers war über die ruhige, teilnahmslose Sprache des Mannes überrascht. »Ich glaube auch, daß sie es nicht getan hätten, wenn sie nicht etwas Positives als Gegenleistung erwartet hätten.«

Finchley schaute mit hilflosem Blick auf Rogers. »Ich möchte sagen, Herr Martino, Sie haben es so präzise ausgedrückt, wie es nur eben möglich ist.«

»Herr Finchley, sie haben nichts erfahren. Vielleicht haben sie sich selbst übertrumpft Es ist nämlich ziemlich schwer, einen Mann fertigzumachen, dessen Nervosität man nicht sehen kann.«

Rogers stand mit einem Ruck auf., »Gut, Herr Martino. Wir danken Ihnen. Es tut mir leid, daß wir zu keinem Ergebnis gekommen sind.«

»Mir auch.« Martino nickte.

Rogers beobachtete ihn aufmerksam. »Da ist noch etwas. Sie wissen, daß wir Sie so hart bearbeitet haben, da die Regierung um das K-88-Projekt besorgt ist.«

»Ja?«

Rogers biß sich auf die Lippen. »Ich fürchte, das ist jetzt vorbei. Man will nicht mehr länger warten.«

Martino sah schnell von Rogers zu Finchley. Rogers glaubte, einen besonderen Glanz in seinen Augen zu sehen. Er hörte ein Krachen und sah, wie die metallene Hand die Schreibtischkante umkrallte.

»Soll das heißen, daß ich nie wieder daran arbeiten soll?« fragte Martino.

Er schob sich in die Mitte des Raumes, und man hatte den Eindruck, als seien auch die gesunden Muskeln zu Stahlseilen erstarrt.

Rogers schüttelte den Kopf. »Offiziell weiß ich noch nichts. Ich kann mir nicht vorstellen, daß man einen Mann in Ihrer Situation und von Ihrem Können in die Nähe eines solchen Projektes läßt. Auf der anderen Seite steht die Entscheidung noch aus. Ich kann Ihnen also nicht eher etwas Bestimmtes sagen, bis sie mich erreicht hat.«

Martino machte drei Schritte, drehte sich um und kam zurück.

Rogers fuhr fort; seine Stimme klang entschuldigend; »Sie können es sich nicht leisten, einen Fehler zu machen. Sie werden sicher versuchen, das Problem durch etwas anderes zu lösen, etwas, das das K-88-Projekt ersetzt.«

Martino klatschte auf seine Schenkel.

»Sehr wahrscheinlich durch das Unding von Besser.« Er setzte sich, den Kopf von den anderen abgewandt. Seine Hand durchsuchte eine Hemdtasche und brachte einen Zigarettenstummel zum Vorschein. Er steckte ihn in den Mund, und man konnte ein Motorengeräusch hören. Die innere Gummifolie schloß sich um das Zigarettenende. Etwas ungelenkig zündete er es an.

»Idiotie!« Martino stieß das Wort hervor wie ein Wilder. »K-88 ist die Antwort! Bessers Idee, jene wissenschaftliche Mißgeburt, wird sie auf den Hund bringen.« Er saugte erregt an der Zigarette.

Plötzlich drehte er sich zu Rogers um. »Warum stieren Sie mich so an? Ich hab’ einen Hals und auch ’ne Zunge. Warum sollte ich also nicht rauchen?«

»Wir wissen das, Herr Martino«, sagte Finchley milde.

»Sie glauben es zu wissen!« Er hatte sich wieder zur Wand gewendet. »Wollten Sie nicht gehen?«

Rogers nickte. »Ja, wir wollten gehen, Herr Martino. Entschuldigen Sie.«

»Schon gut.« Er wartete bis die beiden Männer in der Tür standen, dann sagte er: »Können Sie mir ein paar Tempo-Taschentücher für meine Augengläser schicken?«

»Ich werde sie sofort herunterschicken.« Rogers schloß vorsichtig die Tür. »Ich nehme an, daß seine Augen beim Rauchen schmutzig werden«, bemerkte er zu Finchley.

Nach einer Weile fügte er hinzu: »Ziemliches Schauspiel, das er uns da vorgeführt hat. Wenn er Martino ist, kann ich es ihm nicht verübeln.«

»Und wenn er es nicht ist, kann ich es ihm ebensowenig krummnehmen.«

»Wissen Sie«, sagte Rogers, »wenn wir uns eben Gewißheit verschafft hätten, hätten sie das K-88-Projekt weiterlaufen lassen. Es wird nämlich erst um Mitternacht entschieden, was geschehen soll. Sie sehen, es hängt von mir ab. Mehr oder weniger.«

»Das ist interessant.«

»Ich habe ihm nur gesagt, daß alles aus ist, weil ich hoffte, etwas von ihm zu erfahren.«

Rogers hatte das Gefühl einer ganz besonderen Niederlage.

»Nun«, meinte Finchley, »man kann eigentlich nicht sagen, daß er überhaupt nicht reagiert hat.«

»Natürlich nicht. Reagiert hat er.« Rogers fand es schwer, das zu sagen, was er empfand. »Aber er hat nicht so reagiert, daß er uns helfen könnte. Er hat sich lediglich wie ein ganz normaler Mensch betragen.«

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