6.

Der Sommer 1966 war in New York ausgesprochen kühl. Es regnete oft, und die Menschen schienen bedrückt und unbehaglich. In diesem Sommer kam der junge Lucas Martino in die Stadt. Die Menschen, die in früheren Jahren an warmen Sommerabenden durch den weiten Central Park zu gehen pflegten, blieben in diesem Jahr zu Hause. Es kam oft genug vor, daß kein begeisterter Zuhörer vor der Mall Konzerthalle stand; etwas Undenkbares in den vorangegangenen Jahren.

Hier und da gab es ein paar sonnige Tage, und alle Menschen der großen Stadt glaubten — obwohl die Meteorologen sie eines Besseren belehrten — daß endlich der Sommer begonnen habe. Doch sie hatten sich zu früh gefreut; bald zogen wieder graue Wolken über die hohen Häuser, eine neue Regenperiode verkündend. Das Resultat dieses mißratenen Sommers war, daß die Menschen unglücklich, nervös und unzufrieden waren. Das war jedenfalls Lucas Martinos Eindruck, als er zum ersten Male in seinem Leben in die große Stadt kam.

Sein Onkel, Lucas Maggiore, war der ältere Bruder seiner ersten Mutter; er war 1936 bereits in die Staaten gekommen. Jetzt, da er alt und launisch zu werden begann, war er sehr erfreut, daß sein Neffe zu ihm kam und für ihn arbeiten wollte. Der Onkel besaß im italienischen Viertel von Greenwich Village eine kleine Kaffeebar. Sie hieß »Espresso Maggiore« und war bis vor kurzem eine ganz einfache Trattoria gewesen, in der sich die Italiener der Umgebung trafen, ihren Kaffee tranken und über ihre Heimat redeten. Keiner von ihnen ging jemals in das griechische Kaffeeneikon. Das verbat ihnen der patriotische Anstand.

Aber mit der Zeit wurde das Kampffeld der Touristen auch in die enge Straße vorgetrieben, in der Onkel Maggiore sein Kaffeehaus begonnen hatte. Onkel Maggiore war Geschäftsmann. Er ließ sein Etablissement umgestalten, und bald konnte man moderne Wandgemälde bewundern, antike Tische, eine automatische Kasse, und das alles bei Musik von Muzak. Maggiore war überzeugter Junggeselle. Er hatte es immer verstanden, hinreichend Geld zu verdienen; und so war er jetzt in der Lage, seinen Neffen besser zu bezahlen, als er es verdiente. Er hätte sich etwas leisten könne, aber er war von Natur aus vorsichtig, und so saß er lieber auf seinem Geld und grollte. Seit Jahren machte sich in ihm eine leichte Abscheu gegen sein Geschäft, breit, und schon früh nahm er sich einen Geschäftsführer, der ihn vertreten konnte und der es ihm erlaubte, möglichst oft dem Espresso Maggiore fernzubleiben. Dafür sah man ihn immer häufiger bei den älteren Herren in schwarzen Überziehern auf dem Washington Square, wo sie sich alltäglich trafen, um an den runden Steintischen des Parkamtes Schach zu spielen.

Als der junge Lucas auf dem Pennsylvania Bahnhof ankam, war sein Onkel schon da, um ihn zu begrüßen. Der große alte Mann lief auf seinen Neffen zu, umarmte ihn und klopfte ihm kräftig auf die Schultern.

»Ah! Lucas! Bello nipotino! E la Mama, il Papa — come lei portano?«

»Es geht ihnen gut, Onkel Lucas. Sie lassen dich grüßen.«

»Ist prima, daß du da bist. Du weißt — ich mag dich, du magst mich — molto bene.« Er hatte Lucas Koffer genommen und war auf den Eingang der Untergrundbahn zugegangen. »Frau Dormiglione, meine Wirtin, hat ein Zimmer für dich fertig gemacht. Billig. Prima Zimmer. Ausgezeichnet. Die alte Frau ist ein wenig gebrechlich, sie kann nicht mehr putzen; das mußt du selbst tun. Dafür läßt sie dich auch in Ruhe. Lucas, du bist jung, und junge Leute sollen unter sich sein. Du bist achtzehn, nicht wahr, und solltest etwas vom Leben mitbekommen.« Er deutete mit dem Kopf auf ein entgegenkommendes, junges Mädchen.

Lucas wußte nicht recht, was er sagen sollte. Er folgte seinem Onkel, stieg mit ihm in den unterirdischen Expreßzug ein und wartete darauf, daß der alte Herr die Unterhaltung wieder aufnahm.

In der Vierten Straße stiegen sie aus. Das Haus, in dem Onkel Maggiore wohnte, war unweit West Broadway gelegen. Der Onkel wohnte auf dem obersten Stockwerk, während Lucas. Zimmer auf Straßenhöhe lag. Es hatte einen eigenen kleinen Vorgarten und einen separaten Eingang. Onkel Maggiore stellte Lucas der Hauswirtin vor, gab ihm etwas Zeit, sich frisch zu machen, und nahm ihn gleich mit in das Geschäft.

Auf halbem Weg sagte der Onkel plötzlich: »Lucas und ich auch Lucas ist zuviel! Hat Matteo dich nie anders genannt?«

Lucas überlegte. »Doch. Vater hat mich manchmal Tedeschino gerufen.«

»Prima! Im Geschäft heißt du Tedeschino. In Ordnung?«

»In Ordnung!«

Unter diesem Namen stellte Onkel Maggiore seinen Neffen im Geschäft vor. Er gab ihm den ersten Tag frei, steckte ihm einen Wochenlohn in die Tasche und bat ihn, am nächsten Tag um zwölf zur Arbeit zu kommen. Nach dieser Einleitung sahen sich Onkel und Neffe nur gelegentlich. Es kam vor, daß der Onkel Lucas zum Essen einlud und mit ihm Schallplatten in Frau Dormigliones Wohnzimmer anhörte, im übrigen aber ließ er den Jungen allein, so daß dieser sich sein Leben selbst einrichten konnte. Onkel Maggiore stand im Hintergrund, immer bereit, einzuspringen, wenn Lucas Gefahr lief, in ernsthafte Schwierigkeiten zu geraten. Er glaubte, für den Jungen das Beste getan zu haben, und er sollte rechtbehalten.

Lucas verbrachte den ersten Tag in New York allein. Er hatte eine feste Anstellung hinter sich und fühlte sich sicher und getragen. Es würde ihm vielleicht ein wenig leichter gefallen sein, in dem Leben der Stadt aufzugehen. Überall glaubte er eine unüberwindliche Reserve zu spüren. Die Menschen schienen nervös zu sein und keinen Sinn für Muße zu haben.

Ein anderer Onkel hätte ihn sehr wahrscheinlich in eine Familie aufgenommen. In einem anderen Haus hätte er unter Umständen bald Freunde gefunden. Aber er hatte keinen anderen Onkel und lebte auch nicht in einem anderen Haus. Lucas erkannte sofort, daß es von ihm abhing, was er aus seinem Leben in dieser Stadt machte. Noch ehe der Onkel sich von ihm verabschiedet hatte, begann der Junge darüber nachzudenken, welche Art von Leben für ihn die beste sein würde.


* * *

Das Gastzimmer des Espresso Maggiore war ein großer Raum mit einer quer stehenden Theke, auf der sich die Kaffeemaschine befand, die Kasse und die sauberen Tassen. In der Mitte standen schwere, kunstvoll geschnitzte Tische aus Venedig und Florenz. Neben den Wandzeichnungen, die ein Künstler aus der Nachbarschaft in italienischem Stil gemalt hatte, sah man hier und da noch ein modernes Gemälde in Goldrahmen und überzogen mit einer dicken Schicht Firnis. Auf allen Tischen stand eine Zuckerdose und eine etwas abgegriffene Speisekarte. Die pastellfarbigen Wände wirkten durch das spärliche Licht unwirklicher und verschwommen.

Der Mittelpunkt des ganzen Raumes und die Regiezentrale war die Kaffeemaschine. Es war schon die zweite. Die erste war eine jener stromlinienförmigen Superkocher gewesen, die zwar rassig aussahen, aber deren Kaffee nach nichts schmeckte. Onkel Maggiore hatte sie wieder verkauft — an das Kaffeeneikon. Die jetzige — niemand wußte, wo der Onkel sie aufgetrieben hatte, bestand aus einem schönpolierten hohen Metallzylinder, hatte Gasfeuerung, einen kunstreich dekorierten Dampfdom, vier weitausragende Füße und zischte zu allen Zeiten wie eine überheizte Dampfmaschine.

Lucas arbeitete von mittags zwölf bis drei Uhr morgens. Um Mitternacht hatte er immer am meisten zu tun, dann war keiner der Drahtstühle frei, und überall drängten sich erregt diskutierende junge und alte Leute.

Außer Lucas arbeiteten noch vier weitere Angestellte im Espresso Maggiore.

Carlo, der Geschäftsführer, war ein kleiner, untersetzter Mann um fünfunddreißig. Er sprach nicht viel und hielt sich fast immer diskret im Hintergrund. Er war dem Onkel sehr ähnlich, und jeder wußte, daß er aus diesem Grunde engagiert worden war. Er bediente die Kaffeemaschine. Manchmal stand er an der Kasse. Er zeigte Lucas, wie man Kaffee mahlt, die Tische sauberhält und die Tassen abwäscht. Die Einweisung dauerte zehn Minuten; von da ab ließ er den Jungen allein arbeiten.

Dann gab es noch drei Kellnerinnen. Zwei waren typische Village Mädchen, die eine kam aus dem Mittleren Westen und die andere aus Schenectady. Beide studierten auf einer Schauspielschule und arbeiteten nur zwischen acht und ein Uhr im Espresso Maggiore. Die dritte, Barbara Costa, kam aus der Nachbarschaft. Sie war ungefähr siebzehn oder achtzehn Jahre alt und arbeitete den ganzen Tag für Onkel Lucas. Sie war ein hübsches, schlankes Mädchen, die ihr Handwerk verstand und selten ihre Worte an die müßigen Burschen verschwendete, die nachmittags stundenlang über einer Tasse Capuccino saßen, um sich die Zeit zu vertreiben. Vielleicht kam es dadurch, daß sie den ganzen Tag über da war, daß Lucas sie bald besser kannte als die beiden anderen. Sie kamen gut miteinander aus und während der ersten Tage zeigte sie ihm, wie man fünf oder sechs Tassen auf einmal trägt, komplizierte Bestellungen behält und nicht falsch abrechnet. Lucas mochte sie gern; sie war freundlich und tüchtig: ihr Können verriet organisierte Übersicht und Klarheit. Er war froh, jemand zu haben, mit dem er von Zeit zu Zeit reden konnte.

Nach etwa einem Monat hatte sich Lucas an New York gewöhnt. Er kannte die verzwickten Straßenzüge ohne Nummern südlich des Washington Square, war mit den wichtigsten Untergrundstrecken vertraut und hatte in der Nähe seines Zimmers einen guten, nicht zu teuren Lebensmittelhändler gefunden. Er hatte sich nach den Aufnahmebedingungen der Abendhochschule erkundigt, einen Informationsbrief an das Technikum in Massachusetts geschickt und sich bei dem örtlichen Auswahlkommitee angemeldet. Alles war so verlaufen, wie er es sich vorgestellt hatte.

Es hatte einige Wochen gedauert, bis Lucas sich an das erinnerte, was sein Onkel gleich nach seiner Ankunft angedeutet hatte. Jetzt dachte er wieder daran und nahm sich vor, die Angelegenheit systematisch zu überdenken.

Noch etwa eineinhalb Jahre würde er wenigstens etwas Freizeit haben. Danach kamen acht Jahre intensivster Arbeit. Damit war die Entscheidung gefallen. Wenn er sich jemals ein Mädchen suchen würde, gab es keine bessere Zeit als jetzt.

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