5.

Am achten Tag nach der Auskunft Martinos summte das Interphone auf Rogers Schreibtisch.

»Ja?«

»Herr Deptford ist hier und möchte Sie sprechen.«

»Schicken Sie ihn zu mir.«

Deptford kam in Rogers Büro. Er war ein kleiner, dünner Mann in einem schwarzen Anzug. Unter dem Arm trug er eine Aktentasche.

»Wie geht es Ihnen, Shawn?« fragte er ruhig.

Rogers stand auf. »Ausgezeichnet Danke.« Er sprach sehr langsam. »Und Ihnen, Chef?«

Deptford zuckte mit den Schultern. Er setzte sich auf den Stuhl neben Rogers Schreibtisch. »Ich dachte mir, ich bringe die Entscheidung über Martino gleich mit.« Er öffnete seine Aktentasche und übergab Rogers einen großen, gelben Briefumschlag. »Hierin finden Sie eine Kopie und einen an Sie adressierten Brief von Karl Schwenn.«

Rogers nahm den Umschlag, sah Deptford an und sagte: »Hat Schwenn Ihnen die Hölle heiß gemacht?«

Deptford versuchte zu lächeln. »Er wußte auch nicht so recht, was er tun sollte. Niemand scheint für die Sache verantwortlich zu sein. Aber er brauchte nun dringend eine Antwort. Jetzt, da das K-88-Projekt aufgegeben wird, ist alles nicht mehr so eilig.«

Rogers nickte verständnisvoll.

»Ich übernehme Ihren Posten hier, Rogers. Man hat einen neuen Mann an meine Stelle gesetzt. Und in Schwenns Brief werden Sie den Auftrag finden, Martino zu folgen. Ich glaube, das ist die beste Lösung.«


* * *

»Direkte Untersuchungen haben zu keinem Ergebnis geführt«, sagte Rogers zu Martino. »Wir haben es versucht, aber wir können nicht beweisen, wer Sie sind.«

Die stechenden Augen des Mannes sahen unbewegt auf Rogers; niemand hätte wissen können, was er in diesem Augenblick dachte. Sie waren allein in dem kleinen Raum, und plötzlich wußte Rogers, daß der ganze »Fall Martino« zu einer persönlichen Angelegenheit zwischen ihm und diesem eigenartigen Wesen geworden war. Während der letzten Tage hatte diese Beziehung immer mehr an Umfang zugenommen; Rogers hatte es nicht bemerkt, aber jetzt hatte er das Gefühl, als sei er persönlich für das Hiersein des Mannes verantwortlich; als trage er die Schuld an dem, was er durchzumachen hatte.

»Ich verstehe«, nickte Martino, »Ich habe nicht wenig darüber nachgedacht.« Er saß steif auf seinem Stuhl, die Metallhand auf seinem Schoß. Rogers hätte zu gern gewußt, ob er wirklich so teilnahmslos war, wie seine Worte klangen; oder ob er enttäuscht und verzweifelt resignierte. »Ich hatte immer noch gehofft, man würde wenigstens mit einem Identifikationsbeweis ankommen. Haben Sie nichts aus der Porenstruktur ersehen können? Schließlich kann man die doch nicht vertauschen.«

Rogers schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, nein, Herr Martino. Sie können mir glauben, daß unsere Experten jede noch so geringfügige Möglichkeit in Erwägung gezogen haben Auch die Porenstruktur wurde erwähnt Aber leider haben wir keine bestätigten Unterlagen, die etwas über den Aufbau und die Anordnung ihrer Hautporen vor der Explosion aussagen. Niemand hat jemals daran gedacht, daß Einzelheiten von dieser Größenordnung je eine Identifikation entscheiden könnten.« Er machte eine kleine Pause. »Das gilt für alle Punkte Wir haben zum Beispiel auch Ihre Fingerabdrücke und Aufnahmen Ihrer Netzhaut, beides nützt uns aber nicht im geringsten.«

»Gibt es wirklich gar nichts, wovon man ausgehen könnte?«

»Nein; Herr Martino, nichts. Keine besonderen Kennzeichen, keine Narben, keine Tätowierungen, die man nicht hätte fälschen können. Wir haben jede Möglichkeit ausgeschöpft. Denken Sie an unsere Spezialistengruppe. Ihre zusammenfassende Antwort war: keine unmittelbare Identifikation.«

»Das alles ist kaum zu glauben«, sagte der Mann.

»Herr Martino, die ganze Angelegenheit berührt Sie mehr als irgendeinen von uns. Sie haben uns nichts Brauchbares sagen können und glauben, daß Sie ein sehr intelligenter Mensch sind.«

»Unter der Voraussetzung, daß ich Lucas Martino bin«, sagte der Mann trocken.

»Selbst wenn Sie es nicht sind.« Rogers umfaßte seine Knie. »Betrachten wir das Problem doch einmal logisch. Alles, was uns einfällt, könnten die anderen schon lange vor uns übersehen haben. Indem wir versuchen, Sie auf konventionelle Art zu identifizieren, machen wir einen großen Fehler. Glauben Sie mir, wir alle sind schon sehr lange in diesem Geschäft, und ich persönlich sitze schon seit sieben Jahren an dieser Stelle. Ich zeichne für die Entsendung unserer Agenten nach drüben verantwortlich, und jetzt sitze ich Ihnen gegenüber, dem vielleicht vereinten Ergebnis von einigen Dutzend Experten, und bemühe mich, Sie in Ihre Einzelteile zu zerlegen. Nein, so geht es nicht. Bedenken Sie doch: was sich hier gegenübersteht, sind die Exponenten zweier Organisationen, von denen jede die halbe Welt als Hilfsquelle hat.«

»Was soll denn nun geschehen?«

»Um Ihnen das zu sagen, habe ich Sie aufgesucht. Da wir Sie nicht ewig hierbehalten können, dürfen Sie jetzt hingehen, wohin Sie wollen.«

Der Mann blickte auf. »Die Sache hat doch einen Haken?«

Rogers nickte. »Ja, das stimmt. Bestimmte Dinge können wir Sie leider nicht mehr tun lassen. Das ist der Haken. Jetzt wissen Sie es offiziell. Wie gesagt, Sie können tun, was Sie wollen, vorausgesetzt, daß es sich nicht um Physik handelt.«

»Ja«. Martinos Stimme klang ruhig und gefaßt. »Sie wollen sehen, wohin ich mich wende. Und wie lange gedenken Sie, mich zu beschatten?«

»Bis wir wissen, wer Sie sind.«

Der Mann begann zu lachen; es klang bitter.


* * *

»So, heute laßt ihr ihn laufen?« fragte Finchley.

»Morgen früh. Er will nach New York. Wir haben seinen Flug bezahlt und ihm eine hundertprozentige Arbeitsunfähigkeitsrente genehmigt. Außerdem zahlen wir ihm noch vier Monatsgehälter von Martino nach.«

»Werden Sie die Gruppe aufstellen, die ihn in New York beobachtet?«

»Ja. Und ich werde ihn auch auf der Reise begleiten.«

»Wirklich? Geben Sie Ihre Stellung hier auf?«

»Ja. So lautet der Befehl. Martino ist von jetzt ab meine persönliche Verpflichtung.«

Finchley sah Rogers neugierig an. Rogers blickte betont aus dem Fenster. Einen Augenblick später hörte er, wie Finchley leise vor sich hinpfiff, und wußte, daß sein Kollege glaubte, man habe ihn abgeschoben.

»Wie werden Sie die ganze Sache von nun an aufziehen.« Finchley fragte sehr vorsichtig. »Werden Sie ihn nur unter Aufsicht halten und warten, bis er einen falschen Schritt macht?«

Rogers schüttelte den Kopf. »Nein! Wir werden die Schrauben etwas fester anziehen. Wir werden versuchen, sein psychologisches Profil zu finden. Das ist unsere einzige Chance. Das gleiche gilt für den ehemaligen Lucas Martino. Wir haben dann die Möglichkeit, beide gegeneinander zu halten und festzustellen, ob der wirkliche Martino so oder anders gehandelt hätte. Stellt dieser Kerl etwas an, was der alte Martino nie getan haben würde, so sollen Sie mal sehen, wie wir über ihn herfallen.«

»Ja, aber …« Finchley schien bedrückt. Seine offizielle Mission bei Rogers war zu Ende. Von nun ab war er nur noch Verbindungsmann zwischen den Instanzen der Regierungen der Alliierten Nationen und dem amerikanischen Geheimdienst; er hatte Hilfe zu leisten, wenn man ihn darum bat, aber es war nicht seine Aufgabe, ungefragt Empfehlungen zu geben. Und besonders jetzt, da Rogers sich ein wenig zurückgesetzt fühlte, wagte er nicht, seinen Satz zu Ende zu sprechen.

»Was?« fragte Rogers.

»Nun, was Sie machen werden, ist, also darauf zu warten, bis dieser Mann seinen Fehler begeht. Er ist ein kluger Kopf; er wird ihn nicht sobald machen. Und wenn, dann wird es ein kleiner sein. Es kann unter Umständen Jahre dauern. Zum Beispiel fünfzehn Jahre. Er kann sogar sterben, ohne je einen Fehler gemacht zu haben. Und während dieser ganzen Zeit läuft er frei herum. Auf der anderen Seite — wenn er wirklich Lucas Martino ist, werden Sie es auf diese Art und Weise nie herausbringen.«

Rogers Antwort kam sanft »Wissen Sie etwas Besseres.«

Es war weder Finchleys Schuld, daß alles so gekommen war, noch Rogers, noch Deptfords. Man hatte sie trotzdem degradiert. Sie waren alle einschließlich Martino in ein unentwirrbares Knäuel von Umständen geraten, aus dem sie nicht herauskonnten. Sie mußten darin bleiben und ihm folgen, wohin es rollte.

»Nein«, gab Finchley zu, »ich weiß auch nichts.«


* * *

Leichter Bodennebel hüllte den Flugplatz ein. Er lag wie ein fadenscheiniges Leichentuch auf Gebäuden, Flugzeugen und Autos. Rogers stand vor der Halle. Er war allein. Finchley saß mit Martino — selbst wenn man nicht wußte, wer er war, so konnte man nicht umhin, ihn mit diesem Namen zu bezeichnen — in dem wenige Meter entfernt parkenden Wagen. Rogers starrte auf den schmutzigen Metallbauch des Flugzeuges, das sie über den großen Teich bringen sollte. Er dachte daran, wie elegant ein mit dem Himmel verschmolzenes Flugzeug aussieht, und wie auf dem Boden seine Reinheit unter zahllosen Nietköpfen mit Ölrand, Schleifspuren und Staubflecken untergeht.

Er hatte kaum eine Zigarette angezündet, als über die Lautsprecher bekanntgegeben wurde, daß die Passagiere sich zum Flugzeug begeben möchten. Er wartete jedoch noch einen Augenblick, denn er wußte, daß es immer etwas dauerte, bis alle Passagiere beisammen waren. Durch die Glaswand des Warteraumes sah er die Passagiere sich mit ihrem Handgepäck zu einem der Ausgänge bewegen.

Martino würde irgendwann einmal an die Öffentlichkeit treten müssen. Rogers hielt die erste Gelegenheit für die beste. Daher hatte er Plätze auf diesem normalen Linienflug gebucht Auf diese Art und Weise würden fünfundsechzig Menschen auf einmal Martino gegenüberstehen.

Rogers versuchte sich vorzustellen, was wohl geschehen würde. Er war von den vielen Möglichkeiten nicht sonderlich beeindruckt. Ihn fror, und er fühlte sich niedergeschlagen.

Rogers wartete, bis Finchley den Wagen öffnete. Etwa zehn Meter entfernt standen die fünfundsechzig Passagiere dichtgedrängt um die Bodenstewardeß, die noch einmal ihre Flugscheine kontrollierte.

Martino stieg aus. Rogers hoffte fast, daß er warten würde, bis alle anderen Passagiere den Raum verlassen hatten. Stattdessen schlug er die Wagentür so laut zu, daß sich alle umdrehten und auf die Gestalt sahen, die soeben dem Wagen entstiegen war. Eine Sekunde lang blieb Martino stehen; er hatte den Kragen seines Mantels hochgeschlagen, den Hut tief in sein metallenes Gesicht gezogen und große Handschuhe angezogen. Dann stellte er die Luftreisetasche auf den Boden, zog seine Handschuhe aus, schob den Hut vom Kopf und sah unbeweglich auf die anderen Passagiere.

Er sprach kein Wort. Mit schnellen Schritten ging er auf den Ausgang zu, Tasche, Handschuhe und Hut in der gesunden Hand. Mit der anderen holte er den Flugschein aus der Manteltasche. Plötzlich hielt er an, bückte sich — und hob eine Damenhandtasche auf.

»Ich glaube, Sie haben dies hier fallenlassen?« sagte er.

Er drückte die Tasche einer verwirrt dreinblickenden Dame in die Hand, Dann drehte er sich zu Rogers um und sagte betont lässig: »Nun, ich glaube, es ist Zeit, daß wir uns an Bord begeben, nicht wahr?«

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