8.

Lucas Martino hatte gerade einen Tisch abgeräumt und war auf dem Weg zurück mit vier schmutzigen Tassen. In der einen Hand trug er das Geschirr, in der anderen den Schwamm, mit dem er den einen oder anderen Tisch säuberte, wenn er zur Theke zurückging. Es machte ihm Spaß, auf diese Weise zu arbeiten; es war rationell und zeitsparend und damit ganz im Sinne des jungen Lucas’.

Das kleine Kaffee war bis auf den letzten Platz voll gewesen, und Lucas dachte noch, während er die letzten Tassen in die Abwäsche brachte, warum wohl soviele Menschen an bestimmten Tagen fast um die gleiche Uhrzeit ins Espresso Maggiore kamen. Mußten sie nicht bei der Arbeit sein oder auf dem Nachhauseweg? Wäre es nicht besser für sie gewesen, bei diesem schönen Wetter im Park spazierenzugehen?

Lucas sah auf die schmutzigen Tassen und Teller. Es schien, als hätten alle Kunden das gleiche getrunken. Er war überrascht, daß so viele Leute diesmal starken Espresso bestellt hatten. Sie alle schienen eine Aufmunterung nötig gehabt zu haben.

Jeder der nachmittäglichen Besucher tat etwas anderes; die einen waren Wirtsleute, die anderen deren Angestellte. Einige waren Künstler, andere Tagediebe und wieder andere Touristen. Lucas fragte sich, ob es wohl Tage gäbe, an denen sie alle zu gleicher Zeit müde wurden und eine Erfrischung brauchten. Das war eine Möglichkeit. Aber ein Fall dieser Art war noch kein Beweis. Er merkte sich den Vorfall und wartete darauf, daß er sich wiederhole.

Während Gedanken solcher Art in seine Erinnerung versanken, kam Barbara auf ihn zu, lächelte ihn mitleidig an und rieb sich den Schweiß von der Stirn: »Bist du froh, wenn dieser Tag vorbei ist, Tedeschino?«

Lucas grinste. »Warte nur bis zum Mitternachtssturm.« Er sah, wie sie sich bückte, um ihre Tassen zu den schmutzigen zu legen. Er errötete, als sich ihr Kleid straff um ihre Hüften legte.

Schnell riß er sich zusammen und brachte den Korb mit dem schmutzigen Geschirr in die Abwaschküche.

»Erzähl’ mir nichts über Mitternachtsstürme, Ted. Alice und Gloria werden da sein, und dann ist alles halb so schlimm.« Sie winkte drohend mit dem Finger. »Du bist doch froh, Alice zu sehen, oder nicht?«

»Alice? Warum?« Alice war ein intelligentes Mädchen mit harten Gesichtszügen. Sie war nicht besonders genau bei ihrer Arbeit und kümmerte sich wenig um ihre Kunden, noch weniger um ihre Mitarbeiter.

Barbara hielt ihren Zeigefinger an die Lippen und sah auf den Boden. »Hm. Ich weiß nicht«, sagte sie. »Sie hat mir nur gestern abend nebenbei gesagt, wie gern sie dich mag.«

Lucas zog seine Stirn in Falten. »Ich habe nicht gewußt, daß du und Alice über solche Dinge redet.« Er glaubte nicht, daß Alice so etwas gesagt hatte; so war sie nicht. Trotzdem würde er darüber nachzudenken haben. Wenn es so war, bedeutete das Schwierigkeiten, denn, so hatte er gehört, es sei nicht gut, mit einem Mädchen anzubändeln, das zugleich eine Kollegin war. Abgesehen davon wußte er genau, welche Art von Mädchen er im Augenblick kennenlernen wollte. Alice war nicht gerade falsch, aber sie würde ziemlich großzügig sein müssen, denn er hatte nicht viel Zeit, und außerdem müßte sie weit genug von ihm entfernt wohnen, so daß er sie nicht sah, wenn er arbeitete oder studierte.

»Du magst also Alice nicht, wie?«

»Wie kommst du darauf?« Er sah Barbara nicht an.

»Du siehst aus, als dächtest du über etwas nach. Etwas Kompliziertes? Und dabei machst du ein Gesicht, als passe es dir gar nicht.«

»Du beobachtest mich nicht schlecht.«

»Kann sein. Nun, wenn Alice dir nicht paßt, wie steht’s mit Gloria. Sie ist hübsch?«

»Aber nicht sehr intelligent.« Sein Mädchen hatte zumindest so serviert zu sein, daß er sich mit ihr unterhalten konnte.

»Komisch, du magst Alice nicht, auch nicht Gloria, wen magst du denn? Hast du irgendwo ein kleines Mädchen versteckt? Eines, mit dem du morgen ausgehst. Du weißt ja, morgen ist der große Tag: Montag.«

Lucas zuckte mit den Schultern. Die letzten drei Montage hatte er damit verbracht, sich die Stadt anzusehen. »Nein. Ich habe noch nicht einmal daran gedacht, daß wir morgen frei haben.«

»Bei mir ist das anders. Ich habe morgen eine Verabredung.«

Lucas fühlte seine Mundwinkel zucken. »Feste Angelegenheit?«

»Noch nicht. Aber es kann noch kommen. Du, ich muß dir sagen, er ist der tollste Mann auf der ganzen Welt. Er ist galant, ein guter Tänzer und richtig erwachsen. Man begegnet solch einem Mann nicht alle Tage. Wenn er dann plötzlich vor dir steht, ist es um dich geschehen. Etwas später fragt man sich dann, ob es nicht doch noch einen besseren gibt.« Sie sah Lucas von der Seite an. »Du weißt, was ich meine?«

»Hm-ja. Ich nehme an, daß ich es weiß.« Er biß auf seine Lippen. »Ich muß diesen Kram jetzt aufwaschen!« Dann drehte er sich um und ging schnell in den Hinterraum. Während das heiße Wasser in die Spülwanne floß, faßte er sich langsam wieder und fühlte sich schon bedeutend besser. Aber er kam nicht darüber hinweg, daß Barbara einen festen Freund hatte.

Es war ganz klar: Barbara war nicht das richtige Mädchen für ihn.


* * *

An diesem Montag blieb das Wetter gut. Die Sonne war warm genug, um die alten Leute auf die Straße zu locken, wo sie ihre Stühle vor ihren Haustreppen aufbauten. Die jungen Männer, die an diesem Tag nicht zur Arbeit mußten, standen um ihre Autos und beobachteten mit Wohlgefallen die vorbeikommenden Mädchen. Es war ein ausgesprochen schöner Tag. Die Tennisplätze in der Nähe des Washington Square waren angefüllt mit sportlustigen Menschen. Überall war Leben.

Kurz nach halb drei Uhr kam Lucas die Straße herauf und ging, ohne nach rechts oder links zu schauen, auf den Eingang der Untergrundbahn zu. Er fühlte sich unruhig und verwirrt. Irgendwie hoffte er, an diesem Tag sein Mädchen zu finden. Aber er war sich nicht im klaren darüber, wie er es anstellen sollte. Er hatte zwar beobachtet, wie seine Schulfreunde es zu machen pflegten, auch hatte er das eine oder andere Mädchen schon einmal mit ins Kino genommen, aber irgendwie fühlte er sich unsicher. Er kannte zwar die gesellschaftlichen Spielregeln, die zwischen Jungen und Mädchen üblich waren, aber was er suchte, war keine Gesellschafterin.

Er dachte an Barbara und kam zu dem Schluß, daß in dieser Angelegenheit nichts so wichtig war wie Selbstdisziplin. Eine Affäre über lange Sicht hatte für ihn keinen Zweck. Er würde ein Mädchen nicht solange sitzen lassen können, bis er seine Studien beendet hatte. Und es war außerdem sehr wahrscheinlich, nachdem was im vorigen Jahr in Asien passiert war, daß man alle Physiker in den Staatsdienst nehmen würde. Das aber hieß, an irgendeiner weit entfernten Stelle zu arbeiten, wo Wohnraum knapp war und sehr wenig Zeit blieb für eine Familie.

Nein, ein Mann mit Angehörigen hat selten die Wahl; irgend jemand wird er immer verletzen müssen. Barbara konnte man es nicht zumuten, sich in eine solche Lage zu versetzen.

Er war an der Untergrundstation angekommen. Mit einem Expreßzug fuhr er zum Columbus Circle.

Langsam wanderte er zum Central Park. Er war etwas verlegen, denn er glaubte, daß wenigstens einige der Leute auf den Bänken sich wunderten, was er dort wohl triebe.

Er sah eine Reihe junger Mädchen, die in Paaren daherkamen und in der Richtung des Rollschuhringes verschwanden. Vielleicht hatten sie dort eine Verabredung. Einen Augenblick überlegte Lucas, ob er nicht auch Rollschuhlaufen gehen sollte. Aber dann schlug er den Gedanken aus seinem Kopf: er fand es zu dumm, immer im Kreis herumzulaufen und sich dabei steife Orgelmusik anzuhören. Statt nach Norden zu gehen auf den Rollschuhring zu, wandte er sich nach Süden und stand wenige Minuten später vor dem großen Vogelgehege des Parkzoos. Ein bunt gefiederter Pfau schlug protzend sein Rad. Lucas blieb wie verzaubert stehen. Die Farben des Tieres stachen in seine Augen. Es fiel ihm schwer, dieser Farbenpracht den Rücken zu kehren und seinen Marsch fortzusetzen.

Selten sah er ein Mädchen allein durch den Park gehen. Er war etwas überrascht darüber, und nur hier und da wagte er es, ihnen scheu und verstohlen einen Blick zuzuwerfen.

Irgendwie glaubte er, daß das Mädchen, das er suchte, etwas Besonderes ausstrahle. Sie würde sich von den anderen wesentlich unterscheiden; sie würde andere Kleider tragen, anders gehen und überhaupt anders sein. Es schien ihm ganz natürlich, daß ein Mädchen, daß sich in einem Park von einem fremden Mann ansprechen läßt, ein besonderes Kennzeichen zeigt. Er konnte es nicht beschreiben, aber er würde es erkennen. Manchmal glaubte er solch ein Mädchen zu sehen. Doch wenn er näher herankam, mußte er feststellen, daß sie auffällig Kaugummi kaute oder zu dick Lippenstift aufgetragen hatte. Nein, so sollte sie nicht sein.

Etwas später war er wieder im Zoo. Eine Weile ging er vor den Löwen auf und ab. Dann setzte er sich in das Cafe vor dem Seehundteich und bestellte ein Glas Milch. Seine Verlegenheit wurde immer größer. Er wagte kaum noch aufzusehen und starrte während einer geraumen Zeit auf das Glas Milch vor ihm. Er sah auf seine Uhr: es war halb vier. Erst eine Stunde war vergangen; er hätte schwören können, daß es später war. Er zündete sich eine Zigarette an, rauchte sie bis zum Ende und war überrascht, daß es nur fünf Minuten gedauert hatte.

Zu seiner Verlegenheit gesellte sich Unruhe. Er überlegte, ob er aufstehen sollte. Aber er tat es nicht, denn er wußte zu genau, daß, wenn er hier wegging, ihm nichts anderes übrigblieb, als den nächsten Zug nach Greenwich Village zu nehmen und nach Hause zu fahren.

Lucas fühlte die warmen Strahlen der Sonne; er begann zu schwitzen. Am Nebentisch saß eine Frau in eleganten Kleidern. Sie war etwa fünfunddreißig Jahre alt und sah auf eine eigentümliche Weise zu ihm herüber. Er stand auf, schob den Stuhl unter den Tisch und ging zu dem Seehundbecken, das nur wenige Schritte entfernt war.

Er schaute auf das Spiel der Seehunde, ohne sie jedoch richtig zu sehen. Der Gedanke, daß er dabei war, alles aufzugeben, nahm ihn völlig in Anspruch. Schließlich hatte er die ganze Sache durchdacht und war zu einer logischen Schlußfolgerung gekommen. Bisher war er immer bei seinen Entschlüssen geblieben, und es hatte sich gezeigt, daß sie alle so ausliefen, wie er es sich vorgestellt hatte.

Da war diese Geschichte mit Barbara. Es war nicht absolut unrichtig, in sie verliebt zu sein, aber er war sicher, daß sie für den Anfang nicht die richtige war. Er konnte sich nicht um sie kümmern. Mädchen wie Barbara würden später in seinem Leben einen Platz haben, wenn er einmal seßhaft geworden war.

Zum erstenmal in seinem Leben befand er sich in einer Situation, in der er das nicht tun konnte, was er hätte tun sollen. Es tat in seinem Innersten weh. Mit einem Ruck wandte er sich von den Seehunden ab und ging auf den Ausgang neben den Löwenhäusern zu.

Während er seine Milch getrunken hatte, hatte ein junges Mädchen ihren Klappstuhl vor einem der Löwengehege aufgestellt und angefangen zu zeichnen. Ohne sie recht angesehen zu haben, ging er auf sie zu und sagte herausfordernd zu ihr: »Haben wir uns nicht schon einmal irgendwo gesehen?«

Das Mädchen hatte etwa sein Alter. Ihr blondes Haar war glatt zurückgekämmt und hinter ihrem Kopf in einem Knoten zusammengebunden. Unter ihren hohen Backenknochen lagen blasse Wangen. Ihre Nase war spitz, und ihre Lippen voll und rot. Sie hatte ihren Lippenstift nur ein ganz klein wenig benutzt. Sie trug ballettschuhartige Slipper, einen bunt bedruckten Rock und eine weite Bluse.

Lucas war erschrocken und erkannte sogleich, daß sie weit von dem Typ Mädchen entfernt war, das er hätte leiden mögen. Er sah, daß die Zeichnung, die sie anfertigte, fast leblos war. Es war eine naturalistische Löwin, die aussah, als habe man sie ausgestopft und in ein Schaufenster gesteckt.

Eine Wutwelle gegen sie, ihr Aussehen und ihr Hiersein erfaßte ihn. »Nein, ich glaube nicht, daß wir uns schon einmal gesehen haben«, sagte er und drehte sich um, um fortzugehen.

»Vielleicht doch. Mein Name ist Edith Chester. Und ihrer?«

Er hielt inne. Ihre Stimme war weich und fraulich. Und die Tatsache allein, daß sie ihm ruhig geantwortet hatte, gab ihm das Gefühl, etwas ganz Dummes gemacht zu haben. »Luke«, sagte er und zuckte dabei mit den Schultern.

»Sie sind sicher auch auf der Kunsthochschule?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein.« Er sah, daß sie noch etwas sagen wollte und fiel ihr, ohne zu überlegen, ins Wort. »Wie ich Ihnen schon einmal gesagt habe, ich habe Sie noch nie gesehen. Ich dachte nur —« Weiter kam er nicht. Er hatte mehr denn je den Eindruck, ein Narr zu sein.

Sie lachte; es klang ein wenig nervös. »Das macht doch nichts; ich bin überzeugt, daß Sie mir nicht den Kopf abbeißen.«

Lucas wußte nicht, was er jetzt sagen sollte; er sah auf den Zeichenblock. »Nicht gerade eine hundertprozentige Löwin.«

Auch sie sah auf die Zeichnung. »Hm. Ich glaube, Sie haben recht.«

Er hatte versucht, sie zu reizen; er hatte gehofft, sie beleidigen zu können, so daß er im Streit von ihr weggehen konnte. Jetzt sah er sich plötzlich tiefer als zuvor mit ihr verwickelt. »Hören Sie — ich wollte ins Kino gehen. Haben Sie Lust mitzukommen?«

»Ja.« Wieder saß er in der Falle.

»Ich dachte daran, mir die ›Königin von Ägypten‹ anzusehen.« Er glaubte mit diesem Film etwas genannt zu haben, was einem Menschen, der vorgibt, intelligent zu sein, niemals einfallen würde.

»Den Film habe ich noch nicht gesehen«, sagte sie. »Ich habe nichts dagegen.« Sie steckte den Zeichenstift in ihre Handtasche, nahm den Block unter ihren Arm und faltete den Klappstuhl zusammen. »Wir können die Sachen in der Schule lassen«, bemerkte sie. »Würden Sie meinen Stuhl tragen, es ist nur etwa fünfhundert Meter weit?«

Er nahm den Stuhl, ohne ein Wort zu sagen. Als sie an dem Zoocafe vorbeikamen, sah Lucas zu der Terrasse hinüber. Die Frau an seinem Nebentisch war nicht mehr da.


* * *

Vor der Kunsthochschule wartete er, bis sie herauskam. Er rauchte und versuchte zu überlegen, was er nun weiter tun sollte. Er dachte daran, einfach um die Ecke davonzulaufen. In seiner Tasche fühlte er bereits das fünfundzwanzig Centstück, das er für den Bus benötigte. Aber war Edith nicht ein Mädchen, für das sich nur wenige junge Männer interessierten? Wenn er jetzt wegging, würde er ihr sehr weh tun. Und es war ja schließlich nicht ihre Schuld, daß alles so gekommen war. Nein, er mußte jetzt weitermachen.

Lucas begann, sich schuldig zu fühlen. Als sie heraustrat, wagte er kaum, sie anzuschauen; trotzdem übersah er nicht den erlösenden Ausdruck im Gesicht des Mädchens. Auch sie hatte bemerkt, daß sie wider ihren Willen gelächelt hatte. Schnell verbannte sie ihre Freude aus dem Gesicht und tat so, als habe sie es für selbstverständlich gehalten, daß er auf sie wartete.

»Ich bin bereit.« Wieder überfiel Lucas maßloser Ärger. Sie war viel zu durchsichtig, und er verachtete sie, daß sie sich noch nicht einmal Mühe gab, ihre Freude über sein Dasein wenigstens etwas zu verbergen. Er wollte jemanden mit Tiefe, jemanden, den man erst mit der Zeit erkennen konnte. Jemanden, den man nie ganz erforschte und der immer interessant und aufregend war. Stattdessen hatte er Edith Chester.

Aber es war alles durch ihn selbst gekommen. Sie konnte nichts dafür.

»Wollen Sie wirklich dieses idiotische Ägypterding da sehen?« Mit dem Kopf nickte er über die Straße, wo einige der teuren Kinotheater waren, in denen man europäische Spitzenfilme zeigte. »Was halten Sie davon, wenn wir dort hineingingen?«

»Wenn Sie wollen, ich möchte es gern.«

Sie war offensichtlich bereit, ihm dahin zu folgen, wo immer er auch hinging.

Während er die Karten kaufte, wartete sie im Foyer. Später saß sie still neben ihm. Er dachte nicht daran, ihre Hand zu halten oder seinen Arm auf ihre Rückenlehne zu legen. Es wurde ihm entsetzlich heiß, als ihm plötzlich einfiel, daß es nach der Vorstellung noch zu früh sein würde, sie nach Hause zu bringen, während es auf der anderen Seite schon zu spät war, sie einfach irgendwo zu verabschieden. Er war versucht, sich jetzt im Schutz der Dunkelheit zu entfernen. Irgendwie schien ihm diese Lösung trotz ihrer Schwerfälligkeit und Gemeinheit die beste. Aber er verwarf diese Idee sofort wieder.

Aber warum eigentlich nicht? Bin ich so wunderbar, daß ich ihr ganzes Leben zunichte machen würde?

Er dachte daran, daß es gar nicht auf ihn ankam, sondern auf sie. Selbst wenn er der bucklige Glöckner von Notre Dame gewesen wäre, hätte die gleiche Situation bestanden. Er hatte sie hineingezogen, und es war jetzt seine Aufgabe, sie unverletzt wieder herauszuholen.

Aber, was zum Teufel, konnte er mit ihr anfangen, wenn der Film vorbei war? Nervös steckte er sich eine Zigarette nach der anderen an. Als die gleiche Stelle auf der Leinwand erschien, die sie zu Anfang gesehen hatten, beugte sie sich zu ihm und sagte: »Wollen wir jetzt gehen?«

Nach neunzig Minuten Schweigen überraschte ihn ihre Stimme. Sie war noch genau so mild wie vorhin, als sie das erste Mal zu ihm sprach.

»Einverstanden.« Er stand nur zögernd auf, denn er wußte, daß auf der Straße das peinliche, aber unvermeidliche »Und was machen wir jetzt?« fallen würde.

Draußen sagte sie: »Der Film war gut, finden Sie nicht?«

Er hatte die Frage bewußt überhört; er sah beschäftigt aus und sog aufgeregt an seiner Zigarette. Dann sagte er: »Erwartet man Sie jetzt zu Hause?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich wohne allein. Aber Sie haben sicher noch etwas vor heute abend. Ich werde einen Bus nehmen und nach Hause fahren. Ich danke Ihnen, daß Sie mich mit ins Kino genommen haben.«

»Das ist schon in Ordnung«, sagte er schnell. Sie hatte also damit gerechnet, daß er versuchen würde, sich ihrer zu entledigen. »Nein, fahren Sie noch nicht!« Jetzt mußte er etwas vorschlagen, ganz gleich was. »Übrigens; haben Sie Hunger?«

»Ein wenig.«

»Gut. Sehen wir also zu, daß wir ein Restaurant finden.«

»Ich kenne ein kleines, wenige Schritte von hier um die Ecke.«

»Prima.« Ohne recht zu wissen, warum, ergriff er ihre Hand. Sie war klein, aber nicht zerbrechlich. Es schien Lucas, als sei sie weder überrascht noch schockiert.

Das Restaurant war noch fast leer. Der Kellner führte sie an einen kleinen Tisch zwischen zwei Sperrholztrennwänden. Im gleichen Augenblick, als sie sich hinsetzten, wurde es Lucas klar, wie dumm dieser Platz war. Der Kellner hatte sie in eine Sackgasse geführt, wo ihnen nichts anderes übrigblieb, als sich gegenüber zu sitzen und sich anzustarren während sie auf ihr Essen warteten. Wenn er ihre Haartracht und ihren violetten, metallfarbenen Nagellack besah, konnte er sich nicht vorstellen, daß sie etwas Interessantes zu erzählen hatte.

»Sind Sie schon lange in New York?« fragte er.

»Nein.«

Damit war das Thema erschöpft.

Lucas sah verstohlen auf seine Uhr. Es war erst sechs. Dann zündete er sich eine neue Zigarette an.

»Könnte ich wohl eine Zigarette haben?« In ihrer Stimme lag Unsicherheit.

»Hm?« Umständlich kramte er das Paket wieder aus der Tasche. »Edith, es tut mir leid. Natürlich — bitte sehr! Ich wußte gar nicht —« Was wußte er nicht? Wußte er nicht einmal, daß es zu den primitivsten Anstandsregeln gehörte, jemanden eine Zigarette anzubieten, besonders wenn man selbst rauchte? Er fühlte sich zutiefst schuldig und verlegen. Er hatte sie bis jetzt behandelt, als sei sie ein Straßenhund.

Sie nahm eine Zigarette aus der Schachtel, und er reichte ihr hastig Feuer.

Sie bemühte sich, ein Lächeln hervorzubringen. »Danke. Ich komme aus Connecticut. Wo sind Sie her, Luke?«

Sie muß die ganze Zeit über gewußt haben, was ich von ihr halte, schoß es ihm durch den Kopf. Aber warum hat sie es mitgemacht? Warum? Weil ich der Mann ihrer Träume bin?

»Aus New Jersey«, sagte er, »von einer Farm.«

»Ich habe schon immer gewünscht auf einer Farm leben zu können. Was machen Sie hier in New York? Arbeiten Sie?«

Vielleicht bin ich der erste Mann, der sie angesprochen hat, seitdem sie hier angekommen ist. Ja, das ist sehr wahrscheinlich der Grund, weshalb sie bis jetzt durchgehalten hat. Ich bin zwar nicht viel, aber immerhin etwas.

»Im Augenblick arbeite ich in einem Espresso Cafe in Greenwich Village.«

Er erkannte, daß er begonnen hatte, Dinge zu erzählen, die er überhaupt nicht hatte preisgeben wollen. Aber er hatte auf einmal das Bedürfnis zu erzählen, außerdem war die ganze Sache ohnehin schon verfahren.

»Ich war noch nicht oft da unten«, sagte sie. »Ich denke, es muß rasend interessant sein.«

»Ist es auch in der einen oder anderen Hinsicht. Aber ich werde im nächsten Jahr auf die Universität gehen und bereite mich jetzt schon darauf vor. Ich habe also nicht viel Zeit mir die Gegend anzusehen.«

»Hm! Was werden Sie studieren, Luke?«

Und dann erzählte er alles, sein ganzes Leben, von der Farm, der Schule und dem Espresso Maggiore.

Nach einem kurzen Spaziergang durch den Park war es Zeit, sie nach Hause zu bringen. Sie wohnte im dritten Stock eines Wohnblocks in der Nähe der Gaswerke auf der Höhe der sechzigsten Straße. Er begleitete sie bis an ihre Wohnungstür. Plötzlich hatte er nichts mehr zu erzählen.

Er blieb stehen, genauso abrupt wie er alles begonnen hatte. Er versuchte zu überlegen, wie alles gekommen war und vor allem, welcher Teufel in ihn gefahren sein konnte. Er sah, daß ihre Haaransätze dunkel schimmerten.

»Ich habe Sie die ganze Zeit über gelangweilt«, sagte er verlegen.

Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Sie sind ein interessanter Mensch. Es hat mir Spaß gemacht. Wissen Sie, es ist —« Sie sah ihn mit großen Augen an und ließ auch die letzten Vorwände einer oberflächlichen Gleichgültigkeit fallen, die sie während des Nachmittags und Abends hatte aufrechterhalten. »Wissen Sie, es ist gut, jemanden zu haben, der zu mir spricht.«

Er konnte dazu nichts sagen. Sie standen vor der Eingangstür der Wohnung und schwiegen.

»Ich habe einen sehr schönen Tag verbracht«, sagte sie nach einer Weile.

O nein, du machst dir selbst etwas vor. Dies war der miserabelste Tag deines Lebens, und wenn ich jetzt diese Treppe hinuntergehe, um nie mehr wiederzukommen, wird es noch schlimmer sein. Plötzlich fragte er: »Haben Sie Telefon?«

Sie nickte. »Ja. Möchten Sie die Nummer wissen?«

»Ich werde sie mir aufschreiben.« Er fand ein Stück Papier in seiner Tasche, schrieb die Nummer auf, steckte Bleistift und Papier wieder ein und stand wie vorher wortlos vor ihr.

»Montag ist mein freier Tag«, sagte er, »ich werde Sie anrufen.«

Er sah sie von oben bis unten an.

Nein! Unter keinen Umständen werde ich ihr einen Gute-Nacht-Kuß geben. Die ganze Sache ist total verrückt.

»Gute Nacht, Edith.«

»Gute Nacht, Luke.«

Er legte seine Hand auf ihre Schulter. Dabei hatte er das Gefühl, ein äußerst dummes Gesicht zu machen. Sie legte ihren Kopf etwas zur Seite und berührte mit ihrer Wange Lucas Hand. In diesem Augenblick wandte er sich ab, lief die Treppe hinunter und hatte den Eindruck, alles andere zu sein, aber kein achtzehnjähriger junger Mann.


* * *

Während des ganzen nächsten Tages war Lucas so verwirrt, daß er kaum sah, was er tat. Er mußte immer an sein Erlebnis vom Vortage denken, aber so sehr er sich auch bemühte, Klarheit zu bekommen, es wollte ihm nicht gelingen. Jedesmal wenn er in die Nähe von Barbara kam, senkte er die Augen und versuchte, einem Gespräch mit ihr aus dem Wege zu gehen.

Am Nachmittag erwischte sie ihn dann. Er stand ausweglos zwischen der Espressomaschine und der vollautomatischen Kasse. In der Hand hielt er eine leere Tasse.

Barbara lächelte ihn an und sagte: »Na, Tedesco, denkst du an dein Geld?« Sie kniff die Augen zusammen und sah ihn aus schmalen Lidern an.

»Geld?«

»Nun ja — man sagt halt, wenn jemand mit abwesendem Ausdruck herumläuft, daß er an sein Geld denkt.«

»O nein, ich denke nicht an Geld.«

»Was hast du denn gestern gemacht? Hast du dich verliebt?«

Er spürte sein Gesicht heiß werden. Fast wäre die Tasse aus seiner Hand gefallen, als ob er ein Automat sei und Barbara den richtigen Knopf gedrückt hätte. Er stand mit offenem Mund da, überrascht über seine Reaktion auf dieses Wort.

»Sieh da«, sagte Barbara, »ich habe den Nagel auf den Kopf getroffen.«

Lucas wußte beim besten Willen nicht, was er sagen sollte. Sich verliebt? Auf keinen Fall! »Hör’ zu, Barbara, es ist nicht so.«

»Nicht so?« Sie war über und über rot geworden…

»Ich weiß nicht. Ich versuchte es dir ja gerade zu erklären —«

»Sei still. Es interessiert mich überhaupt nicht, wie es ist. Wenn du Schwierigkeiten hast, sieh’ zu, wie du wieder rauskommst. Auch ich habe einen Freund, der mir manchmal Schwierigkeiten macht.«

Sie dachte darüber nach und fand, daß sie ehrlich gewesen war. Sie erinnerte sich daran, daß Tommy ein netter Junge war und nicht ganz uninteressant. Trotzdem war es schade, daß Lucas sie nie richtig gesehen hatte.

Sie war ein praktisches Mädchen und verschwendete selten nutzlose Gedanken auf ein verlorenes Paradies. Sie hatte sich damit abgefunden, daß es zwischen ihnen ohnehin nur zu ein paar oberflächlichen Verabredungen gekommen wäre.

»In ein paar Minuten beginnt der Nachmittagssturm«, sagte sie spitz, nahm den großen Zuckersack und ging, um die kleinen Schälchen auf den Tischen nachzufüllen.

Lucas stand bewegungslos hinter der Theke. Er versuchte seine Gedanken zu ordnen. Alles geschah zu schnell.

Er sah zu Barbara hinüber und erkannte, daß für sie die Angelegenheit abgeschlossen war. Nicht aber für ihn. Sie hatte kaum begonnen. Er würde die letzten vierundzwanzig Stunden genau analysieren, müssen. Er würde jede Kleinigkeit rekonstruieren müssen, die zu dem Ergebnis geführt hatte, das jetzt vorlag. Gestern morgen noch war er ein Mensch gewesen, der einen festen, auf dem Grund der Gegebenheiten fußenden Plan gehabt hatte.

Innerhalb einer außerordentlich kurzen Zeit hatte sich alles geändert, und niemand, ganz besonders nicht Lucas, konnte es dabei bewenden lassen. Auf der anderen Seite hatte Barbara die neue Situation bedingungslos angenommen.

Immerhin, so fand Lucas, war die ganze Sache nicht so uninteressant, um nicht darüber nachzudenken.

Ganz besonders interessant fand er, daß so viele Leute, denen er begegnet war, einen neuen Zustand in seiner Gesamtheit sofort akzeptierten, ohne ihn zu prüfen, zu analysieren und damit viel Zeit auf ihn zu verlieren. Die Tatsache, daß es so viele Menschen waren, deutete darauf hin, daß es etwas Gutes sein könnte, so zu handeln. Immerhin war es zweckmäßiger, weniger aufreibend und direkter.

Er schloß daraus, daß er bisher völlig falsch unter den Menschen gelebt hatte. Es war also nicht überraschend, daß er in dieses Gefühlslabyrinth mit Barbara und Edith gerutscht war.

Damit hatte er eine Erkenntnis und konnte sich den anderen Problemen zuwenden. Was, so fragte er sich, empfand er für Edith? Er konnte sie nicht einfach übersehen. Er hatte sie nach ihrer Telefonnummer gefragt, und er wußte, daß sie auf einen Anruf wartete. Hier hatte er eine Verantwortung.

Und Barbara? Barbara war aus härterem Holz, aber trotzdem glaubte er, sie ein wenig verletzt zu haben.

Das war die Situation. Sie war völlig anders, als er sich sein Leben vorgestellt hatte. Er würde alles neu erlernen müssen, bevor ein neuer, besserer Lucas Martino entstehen konnte.

Noch bevor er seine Arbeit aufnahm, hoffte er, das Problem zu lösen; aber die ersten Nachmittagskunden kamen schon zur Tür herein, und es wurde höchste Zeit für ihn, seine Tische für den Nachmittagsansturm fertig zu machen.


* * *

Kurze Zeit später stand er vor dem Auswahlkomitee des Massachusetts Technikum. Er nahm an den Vorbereitungskursen mit Erfolg teil, und auf diesem Gebiet begegnete er nie Schwierigkeiten, die er nicht lösen konnte.

In dieser Zeit traf er sich selten mit Edith, aber trotzdem zu oft, wie es ihm schien. Jedesmal, wenn er sich mit ihr traf, hoffte er, daß etwas Drastisches geschehen würde, etwas, das alles auf einmal lösen würde. Die Zeit, die sie zusammen verbrachten, war mit Spannung geladen, und es fiel ihnen schwer, oberflächlich und wenig kompliziert zu sein. Er stellte nach einiger Zeit fest, daß sie ihr Haar wachsen ließ und es offensichtlich aufgegeben hatte, es immer wieder hellblond zu färben. Sie hatte eine Stellung in der Vierzehnten Straße angenommen und lebte nicht mehr wie bisher auf Kosten ihrer Eltern. Jeden Schritt, den er tat, um ein Problem zu lösen, beschwor ein anderes herauf. Es war ihm, als stände er zwischen sich und Edith. Sie küßten sich selten, und niemals blieb er bei ihr länger als ein oder zwei Stunden.

Lucas blieb im Espresso Maggiore, bis seine Studien zuviel Zeit in Anspruch nahmen und er die Beschäftigung aufgeben mußte. Wenn nicht viele Gäste da waren, sprach er mit Barbara, aber sie waren nun nichts mehr als zwei Kollegen, die während der ruhigen Zeit des Tages versuchten, sich gegenseitig die Langeweile zu vertreiben. Ihre Themen wären beschränkt auf ihre gemeinsame Arbeit, seine Studien und ihren Verlobten, der jetzt, da man die Alliierten Nationen gegründet hatte, unter Umständen irgendwo in Australien eine andere Gruppe Männer abzulösen hatte. Niemals hatte er jemand, mit dem er sich über etwas wirklich Wichtiges hätte aussprechen können.

Im Herbst 1968 ging er nach Boston. Seit Januar hatte er nicht mehr bei seinem Onkel gearbeitet und bald die Verbindung mit ihm und Barbara verloren. Am Anfang schrieb er hier und da einen Brief an Edith, aber auch das gab er bald auf, denn es gab nichts, worüber er ihr hätte schreiben können.

Die Arbeit am Technikum war hart. Man erwartete, daß fünfzig Prozent der Aspiranten das Staatsexamen nicht bestanden. Diejenigen, die durchkommen wollten, fanden kaum Zeit zum Schlafen. Lucas verließ das Universitätsgelände so gut wie gar nicht. Nach drei Jahren Grundschulung machte er das Examen und arbeitete anschließend an seiner Doktorarbeit. Sieben Jahre lang lebte er in einem Universum von Taschenformat.

Lange bevor er sein Doktorexamen ablegte, sah er bereits die logische Kette, die einmal in dem K-88-Projekt enden sollte. Nach dem Examen wurde er sogleich einem amerikanischen Forschungsinstitut unterstellt und lebte von da ab in den verschiedensten wissenschaftlichen Reservaten, die sich alle nicht wesentlich von einem Universitätskomplex unterschieden. Er war für alle Zeit vom Militärdienst entbunden, und als er seine ersten Entwürfe für das K-88 vorlegte, gab man ihm ein eigenes Laboratorium mit dem dazugehörigen Mitarbeiterstab. Aber auch hier war er nie frei von Terminen, Tagesplänen und Sicherheitszonen. Obwohl er denken konnte, was er wollte, hatte er doch nur diese eine Welt, in der er leben durfte.

Während er noch in Boston auf der Universität war, erreichte ihn Ediths Hochzeitsanzeige. Er fügte diese neue Tatsache dem vergrabenen Problem hinzu und ließ es sorgfältig in seine alles aufnehmende Erinnerung sinken, wo es zwanzig Jahre lang liegen sollte, bevor er wieder einmal Zeit genug hatte, an seine Vergangenheit zu denken.

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