Algis Budrys Zwischen zwei Welten

1.

Es war fast Mitternacht. Ein heftiger Wind kam vom Fluß herüber. Die Wetterhähne auf den dunklen, alten Gebäuden zeigten nach Norden. Der verantwortliche Feldwebel der Militärpolizei hatte seine Leute zu beiden Seiten der gepflasterten Straße antreten lassen. Ein verwittertes Betontor mit schwarz-weiß gestreiftem Schlagbaum lief quer über die Fahrbahn. Das Scheinwerferlicht der MP-Superjeeps und der Regierungslimousine glitzerte auf den geöffneten, stoßsicheren Nahkampfvisieren der blanken Helme. Über die Köpfe hinweg sah man schimmernd ein Schild:


SIE VERLASSEN DIE VEREINIGTE SPHÄRE

SIE BETRETEN DIE SOWJETSOZIALISTISCHE SPHÄRE

In der Regierungslimousine saß Shaw Rogers. Neben ihm ein Mann vom Außenministerium der Alliierten Nationen. Rogers war der Chef des Geheimdienstes dieses von den Alliierten Nationen verwalteten Abschnittes der mitteleuropäischen Grenze Er wartete geduldig, während seine hellgrünen Augen in die Dunkelheit starrten.

Der Vertreter des Außenministeriums blickte auf seine elegante goldene Armbanduhr. »In einer Minute werden sie mit ihm hier sein.« Er trommelte mit den Fingern auf seiner Aktentasche. »Das heißt, wenn sie pünktlich sind.«

»Sie werden pünktlich sein«, brummte Rogers. »So halten sie es immer. Vier Monate haben sie ihn gefangengehalten, aber jetzt werden sie pünktlich sein, um ihren guten Willen zu beweisen.« Über die Schultern des schweigsamen Fahrers hinweg sah er durch die Windschutzscheibe auf das weite Tor. Die sowjetische Wache auf der anderen Seite — Slawen und stämmige Asiaten in unbetonten, gesteppten Jacken — kümmerten sich nicht um die alliierte Truppe. Sie standen um ein Feuer, das sie in einem Ölfaß vor ihrem Wachhaus angezündet hatten, und hielten ihre Hände über die wärmenden Flammen. Über ihre Schultern hingen plumpe, unhandliche Maschinenpistolen. Sie schwatzten miteinander und machten Witze, ohne auf die Soldaten jenseits der Grenze auch nur einen Blick zu werfen.

»Sehen Sie sich das an!« knurrte der Mann vom Außenministerium. »Sie scheren sich nicht im mindesten um uns. Es beunruhigt sie nicht einmal, daß wir mit einer stark bewaffneten Truppe erschienen sind.«

Der Beamte kam aus Genf, fünfhundert Kilometer von der Grenze entfernt. Rogers hingegen war schon seit sieben Jahren in diesem Abschnitt stationiert. Er zuckte die Achseln. »Wir sind mittlerweile alte Bekannte geworden. Seit vierzig Jahren gibt es diese Grenze, und die da drüben wissen genau, daß wir so wenig zu schießen anfangen wie sie. Der Krieg findet nicht hier statt.«

Er blickte wieder nach den dicht beieinanderstehenden Sowjets hinüber und dachte an einen Song, den er vor einigen Jahren gehört hatte: Gebt dem Genossen mit der Maschinenpistole das Recht, frei von der Leber weg zu sprechen, und er fragte sich, ob die auf der anderen Seite diesen Song wohl kannten. Es gab überhaupt viele Dinge auf der anderen Seite, die er hätte wissen mögen, aber nur wenig Hoffnung, sie jemals zu erfahren.

Der Krieg lag in den Aktenschränken der Welt. Geheiminformationen waren seine Waffen. Man kämpfte mit dem, was man über die anderen wußte und was man, über sie herausfand; und die anderen mit dem, was sie ihrerseits wußten und entdeckten. Man schickte Leute auf die andere Seite, oder hatte sie viele Jahre hindurch drüben aufgezogen. Dann überprüfte man sie. Nicht viele von ihnen kamen durch. Einige jedoch schafften es, und man stellte die Bruchstücke zusammen, die sie übermittelt hatten. Wenn man schlau war, erfuhr man auf diese Weise die nächsten Ziele der Sowjets.

Und diese wiederum forschten auf der anderen Seite nach. Nicht viele ihrer Agenten kamen durch — wenigstens konnte man das mit einiger Wahrscheinlichkeit annehmen — aber auch diese fanden heraus, was als nächster Schritt der Alliierten geplant war. Keine Seite unternahm jedoch etwas Handgreifliches. Man drang immer tiefer in das Gebiet des Gegners ein, aber je tiefer man kam, um so schwieriger wurde es. Ein kurzes Stück konnte man in die andere Seite hineinsehen, dahinter begann jedoch ein dunkler, undurchsichtiger Nebel. Man konnte also nur hoffen, daß eines Tages die Waage zuungunsten des Gegners ausschlagen werde.

Der Beamte verlor die Geduld. »Verdammte Kiste! Weshalb richteten wir Martino auch ein Laboratorium so dicht an der Grenze ein?«

»Keine Ahnung. Ich bin für Strategie nicht zuständig«, sagte Rogers belustigt.

»Aber warum haben wir nicht unsere eigene Rettungsmannschaft nach der Explosion im Labor hinübergeschickt?«

»Haben wir ja gemacht! Aber die anderen waren schneller da und haben Martina mitgenommen.« Rogers fragte sich, ob das wirklich nur Zufall gewesen war.

»Warum haben wir ihn nicht einfach wieder zurückgeholt?«

»Das geht mich nichts an. Ich bin überzeugt, daß man uns Schwierigkeiten gemacht hätte, einen Schwerverwundeten herauszuholen. Der Mann war Amerikaner und hätte sterben können, das wäre den Sowjets nur willkommen gewesen. Dann hätten sie höchstwahrscheinlich versucht, Kapital daraus zu schlagen.«

»Die Situation ist einfach zum Lachen«, meinte der Mann vom Außenministerium nach einer Weile. »Ein Mann wie Martino befindet sich in den Händen der Sowjets, und wir können nichts dagegen unternehmen. Es ist geradezu absurd.«

»Aber Sie haben eine Menge Arbeit damit, nicht wahr?«

Der Beamte wechselte das Thema. »Ich hörte, daß er durch die Explosion übel zugerichtet worden sei, und würde gern wissen, wie er das alles verkraftet.«

»Es soll ihm besser gehen.«

»Den Arm, den er verloren hat, haben sie bestimmt ersetzt. Auf die Herstellung künstlicher Glieder verstehen sie sich ausgezeichnet. In den vierziger Jahren haben sie bereits Hundeköpfe mit künstlichen Herzen am Leben erhalten.«

Merkwürdig! dachte Rogers. Ein Mann verschwindet über die Grenze, man schickt Leute aus, um ihn zu suchen, aber sie finden ihn nicht. Dann sickern einige Nachrichten durch. Man sagt, er sei tot. Hierauf heißt es, er habe einen Arm verloren, lebe jedoch. Schließlich soll er wieder gestorben sein. Dann heißt es, man habe ihn nach Novoya Moskva gebracht Oder liegt er etwa in einem städtischen Krankenhaus in der Nähe der Grenze? Niemand weiß etwas Genaues.

Plötzlich beginnen im Außenministerium Verhandlungen. Plötzlich wird ein Grenzübergang geschlossen. Drüben schießt man auf ein Verkehrsflugzeug. Hier beschlagnahmt man Fischerboote. Es geht hin und her; endlich geben sie ohne ersichtlichen Grund nach.

Und während der ganzen Zeit liegt einer unserer Leute drüben und wartet darauf, daß etwas geschieht.

»Gerüchten nach soll er das K-88-Projekt fast fertiggestellt haben«, sagte der Beamte. »Wir waren angewiesen, seine Herausgabe nicht allzu sehr zu forcieren. Sie sollten nicht merken, wie wichtig er für uns ist. Vorausgesetzt natürlich, daß sie nicht schon über das Projekt Bescheid wußten. Es ist ein verflixtes Geschäft.«

»Das glaube ich.«

»Halten Sie es für möglich, Rogers, daß sie ihn über das K-88-Projekt ausgequetscht haben?«

»Nun, sie haben drüben einen Mann namens Azarin, der verdammt tüchtig ist.«

Hinter dem großen Tor tauchten jetzt zwei Scheinwerferkegel auf. Der Wagen, zu dem sie gehörten, kam heran und hielt dann. Er erwies sich als eine Tatralimousine. Die Tür wurde aufgestoßen, während ein Posten gleichzeitig den Schlagbaum öffnete. Der Feldwebel der alliierten Soldaten ließ seine Leute Haltung annehmen.

Rogers und der Beamte des Außenministeriums stiegen aus ihren Wagen.

Eine Gestalt kletterte aus dem Tatra und kam auf das Tor zu. An der Grenze zögerte sie einen Augenblick, dann ging sie weiter.

Rogers pfiff überrascht durch die Zähne und starrte wie gebannt auf die sich nähernde Gestalt.

Der Kopf war ein schimmerndes, ovales Metallgebilde, der Mund durch eine Öffnung mit hochgezogenen Ecken gekennzeichnet, der eine Arm eine Prothese, während die Augen, seltsam stechend, durch zwei runde Löcher blickten.

Rogers raffte sich auf und trat auf die Gestalt, die inzwischen die Grenze passiert hatte, zu und fragte: »Herr Martino?«

Der Mann mit dem Metallkopf nickte.

»Mein Name ist Rogers«, stellte sich der Beamte jetzt vor und deutete dann auf seinen Begleiter. »Und dies ist Herr Haller vom Außenministerium.«

»Wie geht es Ihnen, Herr Haller?« fragte Martino höflich.

Ehe dieser antworten konnte, öffnete Rogers die Wagentür und schob Martino in den Wagen. Dann stieg er mit dem Mann vom Außenministerium ebenfalls ein und zog die Tür hinter sich zu.

Der Fahrer startete und schlug die Richtung nach Rogers Büro ein, gefolgt von den Jeeps der Militärpolizei.

Martino saß unbeweglich in dem weichen Polstersitz. »Ein wunderbares Gefühl, wieder daheim zu sein.« Seine Stimme klang etwas gepreßt.

»Das kann ich mir vorstellen«, nickte Haller, während Rogers sich in Schweigen hüllte.

Eine Weile später hielt der Wagen, vor einem großen Gebäude. Rogers und Haller stiegen mit Martino aus.

»Ich denke, daß für mein Ministerium die Angelegenheit mit der Rückkehr Herrn Martinos beendet ist«, bemerkte Haller. »Nachdem ich meinen Bericht geschrieben habe, gehe ich sofort zu Bett. Gute Nacht, Rogers. Es macht Spaß, mit Ihnen zu arbeiten.«

Sie gaben sich kurz die Hand, dann geleitete Rogers Martino durch einen Seiteneingang in das Gebäude.

»Er hat sich meiner schnell entledigt, nicht wahr?« meinte Martino, während er Rogers nach einer Treppe folgte, die in den Keller führte.

»Hier herein, bitte, Herr Martino.«

Sie traten in einen langen Flur. Auf beiden Seiten befanden sich mehrere Türen, die in gleichmäßigen Abständen die getünchte Betonwand unterbrachen. Rogers blieb stehen und sah sich einen Augenblick suchend um.

»Ich denke, wir nehmen diese hier, Herr Martino«, sagte er dann. »Bitte, folgen Sie mir.« Dabei schloß er eine der Türen auf und trat ein.

Der Raum war klein. Eine Pritsche stand an der einen Wand mit einem weißen Kopfkissen und einer Armeedecke. In der Mitte befanden sich ein Tisch und ein Stuhl. Eine unverkleidete Birne erleuchtete den Raum. Zwei Türen führten in einen kleinen Abstellraum und in ein Bad.

Martino sah sich in dem Zimmer um.

»Hm … Halten Sie Ihre Interviews mit Heimkehrern immer in diesem Raum ab?« Seine Frage klang müde.

Rogers schüttelte den Kopf. »Das gerade nicht. Ich muß Sie leider bitten, vorerst hierzubleiben.« Ehe Martino etwas erwidern konnte, hatte Rogers den Raum verlassen und hinter sich die Tür abgeschlossen. Eine dünne Schicht kalten Schweißes lag auf Rogers Stirn. Er blieb einen Moment gegen die schwere Stahltür gelehnt stehen, zündete sich eine Zigarette an und betrachtete seine zitternden Finger. Dann eilte er nach dem automatischen Aufzug und fuhr in das obere Stockwerk, in dem sein Büro lag. Als er das Licht einschaltete, dachte er an seine Mitarbeiter und deren Begeisterung, wenn er sie jetzt aus dem Bett holte.

Er ging zum Telefon, und wählte zuerst die Nummer Deptfords. Deptford war sein Chef und der Leiter der örtlichen Dienststelle.

Deptford meldete sich augenblicklich. »Hallo!«

»Hier ist Rogers.«

»Hallo, Shawn, ich habe auf Ihren Anruf gewartet. Alles in Ordnung, mit Martino?«

»Nein. Schicken Sie mir ein Sonderkommando, und das so schnell wie möglich. Ich brauche einen zuverlässigen Mann, der mit mikromechanischen Dingen umzugehen weiß, mit der erforderlichen Anzahl Gehilfen. Dann brauche ich einen Kontrollexperten und einen Psychologen.«

»Was ist denn los, Rogers? Was soll dieser Unfug? Sie wissen, daß Ihr Büro für solche Dinge nicht ausgerüstet ist.«

»Tut mir leid, aber ich wage nicht, Martino an einen anderen Platz zu bringen.«


* * *

Im Bad spürte Rogers, wie das heiße Wasser seine verletzte Hüfte umspülte. Bei einem Aufruhr hatte ihn ein Pflasterstein getroffen. Als er jetzt die Schwellung betrachtete, wußte er, daß er sich auf dem absteigenden Ast befand.

Noch ein paar Jahre, dann ist es aus mit mir, dachte er. Ich kann es heute kaum noch aushalten, wenn es feucht wird. Und dann kommt der Tag, an dem ich etwas versuche, das ich eine Woche zuvor noch geschafft habe, aber es wird nicht mehr als ein kümmerlicher Versuch. So geht es weiter. Ich werde falsche Entscheidungen treffen, meine Leute verdächtigen und schließlich nicht mehr wissen, wo ich bin. Tja, und dann werde ich von irgend so einem Pulver leben, bis es die hohen Herren merken und mich in eine weit entfernte Ecke abschieben. Oder wenn das nicht geschieht, wird Azarin mir eines Tages gewaltig eines auswischen.

Er schüttelte sich. Im Wohnzimmer schellte das Telefon. Vorsichtig stieg er aus der Wanne und wickelte sich in das Badetuch, das die Größe eines Bettlakens hatte und das er nach Amerika mitnehmen würde, sollte er jemals wieder dorthin versetzt werden. Am Telefon angelangt; nahm er den Hörer ab und meldete sich: »Wer ist da?«

»Herr Rogers?« Er erkannte die Stimme eines Telefonisten im Außenministerium.

»Ja, am Apparat.«

»Herr Deptford möchte Sie sprechen. Einen Moment, bitte.«

»Danke.« Rogers wartete, wagte aber nicht, seine Zigaretten aus dein Schlafzimmer zu holen.

»Shawn? Man hat mir in Ihrem Büro gesagt, Sie seien zu Hause.«

»Stimmt? Was gibt’s denn?«

»Ich habe eben mit dem Sicherheitsminister gesprochen. Wie kommen Sie mit Martino voran, haben Sie schon etwas Endgültiges festgestellt?«

Rogers überlegt, wie er es seinem Chef beibringen sollte. »Nein, bis jetzt noch nicht. Wir hatten ja auch nur einen Tag Zeit.«

»Das weiß ich. Und wie lange, glauben Sie, werden Sie noch brauchen?«

Rogers runzelte die Stirn. Er mußte vorsichtig sein und durfte nicht zuviel versprechen. »Eine Woche, würde ich sagen.«

»So lange?«

»Ich fürchte, ja. Die Spezialisten bearbeiten ihn Tag und Nacht, und sie tun, was sie können; aber der Kerl macht uns ’ne Menge zu schaffen: er ist wie ein großes, hartes Ei.«

»Ich verstehe«, sagte Deptford. Rogers konnte deutlich hören, wie sein Chef tief Atem holte. »Shawn — Karl Schwerin fragte mich, ob Sie wüßten, wie wichtig Martino für uns sei.«

Mit unbeweglicher Stimme erwiderte Rogers: »Sie können dem Herrn Minister sagen, daß ich mein Geschäft verstehe.«

»Schon gut, Shawn! Er wollte doch nur ganz sicher gehen, deshalb versuchte er, Sie anzuspitzen.«

»Was soll das heißen, anspitzen?«

Deptford zögerte, dann antwortete er: »Sie müssen das verstehen, auch er wird angespitzt.«

»Ich sähe ganz gern etwas weniger preußische Disziplin in unserer Abteilung!«

»Shawn, haben Sie in der letzten Zeit überhaupt geschlafen?«

»Nein. Ich werde jeden Tag einen Bericht schreiben, und wenn wir den Kerl ausgezogen haben, werde ich anrufen.«

»In Ordnung, Shawn. Ich werde es ihm sagen. Gute Nacht.«

»Gute Nacht, Chef.«

Rogers legte den Hörer auf die Gabel; das rote Leuchtzeichen auf dem Apparat erlosch. Er ging zur Badewanne zurück, legte sich in das immer noch warme Wasser und schloß die Augen. Er sah die Ordner über Martino. Der eine war immer noch fast leer. Einen Meter achtundsiebzig hieß es da. Sein Gewicht: 120 Kilo. Die Kopfwände schienen dick zu sein, daher das große Übergewicht.

Sonst paßte nichts aus der alten Identifikationstabelle. Hinter den Worten: Augen, Haar, Gesichtsfarbe standen nur Striche. Auch das Geburtsdatum fehlte, obwohl ein Psychologe ihm ein Alter gegeben hatte, das, unter Berücksichtigung von Fehlerquellen, ungefähr auf 1948 hindeutete. Fingerabdrücke? Besondere Kennzeichen? Narben?

Rogers grinste, es war ein bitteres Grinsen. Nachdem er sich abgetrocknet hatte, zog er sich wieder an, ging zurück ins Badezimmer, steckte seine Zahnbürste ein, dachte einen Augenblick lang nach und griff dann fest entschlossen nach dem Röhrchen mit Bullrichsalz.


* * *

Es war noch sehr früh am Morgen. Rogers saß Willis, dem Psychologen, gegenüber.

»Wenn sie Martino ohnehin zurückschicken wollten«, fragte Rogers, »warum haben sie sich dann soviel Arbeit mit ihm gemacht? Ich glaube nicht, daß er den ganzen Eisenladen nötig hatte, nur um am Leben zu bleiben. Warum haben sie alles darangesetzt ein Ausstellungsstück aus ihm zu machen?«

Willis rieb über die Stoppeln in seinem Gesicht. »Angenommen, er ist Martino, dann hatten sie bestimmt nicht vor, ihn jemals laufen zu lassen, sonst wären sie mit der herkömmlichen Art von Chirurgie ausgekommen. Stattdessen haben sie sich alle Mühe gegeben, aus ihm ein normal funktionierendes menschliches Wesen zu machen.«

»Ich glaube, daß es folgendermaßen war: sie wußten, daß er für sie nützlich sein könnte. Da sie eine Menge von ihm erwarteten, haben sie ihn psychisch soweit wieder hergerichtet, daß er fähig war, es ihnen mitzuteilen. Möglicherweise haben sie sich überhaupt keine Gedanken gemacht, wie er für uns aussehen würde. Vielleicht haben sie ihn sogar über das absolut Notwendige hinaus repariert — sagen wir, um ihn selbst zu beeindrucken. Wie dem auch sei, es ist möglich, daß sie auf seine Dankbarkeit gehofft haben. Wir dürfen auch nicht außer acht lassen, daß sie vielleicht seine berufliche Neugier wecken wollten, zumal da er Physiker ist. Wissenschaftliche Errungenschaften sind eine ausgezeichnete Brücke zwischen Wissenschaftlern von hier und dem System da drüben. Wenn das eine ihrer Überlegungen gewesen ist, kann ich nur sagen: eine verdammt gute Psychologie.«

Rogers zündete sich eine neue Zigarette an. »Wir haben dies alles schon einmal durchgekaut. Fast jeder Gesichtspunkt paßt auf das wenige, was wir wissen. Aber was beweist es?«

»Nun, wie ich schon gesagt habe, möglicherweise haben sie nie vorgehabt, ihn wieder laufen zu lassen. Bei dieser Annahme bleibt jetzt zu fragen, warum haben sie ihn schließlich doch freigegeben? Nehmen wir an, er hat den Mund gehalten. Sagen wir, sie haben schließlich eingesehen, daß er doch keine Goldbarren zu vergeben hatte. Oder sagen wir, sie haben etwas anderes vor — vielleicht im nächsten Monat, oder in der nächsten Woche. Dann war es nur logisch, ihn freizugeben.«

»Das sind mir zu viele Annahmen. Was sagt er denn darüber aus?«

Willis wehrte ab. »Er sagt, daß sie ihm verschiedene Angebote gemacht hatten. Er habe sie für Köder gehalten und ausgeschlagen, Sie hätten ihn auch ausgefragt, aber er habe dichtgehalten.«

»Halten Sie das für möglich?«

»Alles ist möglich. Sehen Sie, er ist geistig völlig normal, und das ist schon eine Menge. Er war schon immer ein sehr ausgeglichener Charakter.«

Rogers fuhr auf: »Hören Sie zu! Die da drüben haben bis jetzt noch jeden fertiggemacht, sofern sie nur wollten. Warum nicht ihn?«

»Ich habe nicht gesagt, daß sie es nicht versucht haben. Aber es besteht die Möglichkeit, daß er die Wahrheit spricht. Vielleicht haben sie nicht genug Zeit gehabt. Vielleicht war er ihnen thematisch überlegen. Die Tatsache, daß er kein ›Gesicht‹ hat und ihm ein normaler Atemkreislauf fehlt, gab ihnen vielleicht keine Gelegenheit zu erkennen, wann er reif war und den Boden unter den Füßen verlor. Das mag ihm geholfen haben.«

»Ja«, sagte Rogers, »das scheint mir auch der Fall zu sein.«

»Auch sein Herz verrät nichts; der größte Teil der Arbeit wird von einem Generator geleistet.«

»Ich verstehe es nicht!« brummte Rogers. »Ich verstehe es einfach nicht! Entweder ist er Martino, oder er ist es nicht. Unsere Leute haben sich ganz nett in Unkosten gestürzt — jetzt haben wir ihn wieder. Wenn er Martino ist, sehe ich trotzdem noch nicht, was sie dabei gewinnen. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, daß sie nichts gewinnen wollen — so sind sie einfach nicht!«

»Sind wir es?«

»Gut! Es gibt zwei Parteien, jede ist überzeugt, daß sie recht hat. In diesem Jahrhundert wird die Lebensweise der Welt für die nächsten tausend Jahre bestimmt. Wenn man um solche Einsätze spielt, läßt man keine Chance vorbeigehen. Wenn er nicht Martino ist, so haben sie vielleicht angenommen, daß wir ihn ohne Untersuchung durchlassen. Dann kann ich nur sagen, sie sind dümmer als sie sich in der Vergangenheit gezeigt haben. Aber wenn er Martino ist, warum, zum Teufel, ließen sie ihn laufen? Ist er auf ihre Seite getreten? Es sind schon ganze Nationen zu ihnen übergelaufen, von denen wir es niemals angenommen hätten.«

Dann fügte er noch hinzu: »Die Burschen spielen ganz nett Blindekuh mit uns.«

Willis nickte. »Ich weiß. Hören Sie mal gut zu — was wissen Sie über die Russen?«

»Russen? Hm! Genausoviel wie über die anderen Kommunisten. Warum?«

»Vorsicht, Rogers, verallgemeinern hat keinen Zweck. Aber selbst in diesem psychologischen Krieg sollten wir eines nicht vergessen. Dies hier ist ein typisch slavischer Scherz, ein russischer sozusagen. Ich kann mir vorstellen, daß jeder, der darüber Bescheid weiß, sich krank lacht. Vielleicht fing alles anders an, viel ernster. Jetzt jedenfalls ist es gut möglich, daß die Jungs in Novoya Moskva beim Wodka von einem Lachkrampf in den anderen fallen.«

»Sehr schön«, sagte Rogers, »ausgezeichnet!«

»Ich war überzeugt, daß Ihnen die Geschichte gefallen würde.«

»Verflucht, Willis, ich muß seine Nußschale aufkriegen. Es ist unmöglich, daß er als ungelöster Fall frei herumläuft. Martino war einer der besten in seinem Fach. Er wußte um alle Spitzengeheimnisse und arbeitete zuletzt an dem Ding, das sie K-88 nennen. Und ganze vier Monate war er bei den Sowjets. Ich muß wissen, was sie aus, ihm herausbekommen, was sie mit ihm gemacht haben, und vor allem, ob er noch immer bei ihnen ist.«

»Ich weiß«, erwiderte Willis betont langsam. »Ich halte es für möglich, daß er alles preisgegeben hat, ja sogar, daß er ein sowjetischer Agent geworden ist. Aber, daß er nicht Martino sein soll nein, das glaube ich nicht. Denken Sie doch nur an die Fingerabdrücke an dem rechten Arm.«

Rogers fluchte. »Seine rechte Schulter besteht aus nichts als vernarbtem Gewebe. Wenn sie es fertigbringen, Augen, Ohren und Lunge durch mechanische Teile zu ersetzen, wenn es ihnen gelungen ist, einen künstlichen Arm so einzubauen, daß er wie ein gesunder funktioniert, wo ist da noch eine Lücke?«

Willis erblaßte. »Wollen Sie damit sagen, daß sie alles ersetzen können? Soll das heißen, es ist bestimmt Martinos rechter Arm, aber nicht unbedingt Martino?«

»Genau das!«


* * *

Das Telefon schellte. Rogers wälzte sich auf die andere Seite seiner Pritsche und hob den Hörer ab. Das Telefon stand auf dem Boden. »Rogers. Ja, Herr Deptford.« Die Leuchtziffern seiner Uhr schwammen vor seinen Augen, er schaute sie scharf an, um sie festzuhalten. 23.30 Uhr. Er hatte kaum zwei Stunden geschlafen.

»Hallo, Shawn, ich gehe gerade Ihren Bericht durch, den vom dritten Tag. Es tut mir leid, daß ich Sie geweckt habe, aber Sie kommen augenscheinlich nicht so recht mit Martino vorwärts, nicht wahr?«

»Oh, das macht nichts, mit dem Wecken, meine ich. Ja, Sie haben recht, wir kommen nicht von der Stelle.«

Rogers Zimmer war dunkel. Ein wenig Licht kam aus dem Nebenraum, in dem einige Leute die Ergebnisse von Barristers, Finchleys und Willis Untersuchungen auswerteten. Man konnte das Klappern der Schreibmaschinen und elektronischen Rechengeräte hören.

»Glauben Sie, es hätte Sinn, zu euch hinunterzukommen?«

»Um den ganzen Salat zu übernehmen? Prima! Zu jeder Zeit.«

Deptford antwortete eine Weile nicht. Dann fragte er: »Glauben Sie, daß ich weiterkomme als Sie?«

»Nein.«

»Das habe ich auch Karl Schwenn gesagt.«

»Spitzt der immer noch an?«

»Shawn, er kann nicht anders. Das K-88-Projekt hängt seit Monaten in der Luft. Ich kann Ihnen nicht oft genug sagen, wie wichtig dieses Projekt ist. Ich nehme an, Sie wissen, was im Augenblick in Afrika los ist. Wir müssen etwas haben, das wir zeigen können. Wir müssen den Sowjets etwas vorhalten können. Das Ministerium verlangt von uns eine Entscheidung über diesen Mann, und zwar bald.«

»Tut mir leid, Chef. Wir sezieren den Kerl wie einen Zeitzünder. Aber wir finden nichts, was uns sagen könnte, wessen Zeitzünder er ist.«

»Aber es muß doch etwas geben.«

»Herr Deptford, wenn wir einen Mann über die Grenze schicken, geben wir ihm Ihre Identifikationspapiere. Ja, noch mehr, wir stecken ihm Ihre Münzen in die Tasche, Ihre Schlüssel, Ihre Zigaretten, Ihre Kämme. Wir geben ihm Rechnungen von drüben mit, wir geben ihm eine Geschichte, Verwandte und Freunde. Wir denken an alles, nichts bleibt unberücksichtigt.«

Er konnte hören, wie Deptford seufzte.

»Unsere Leute sind Autoschlosser, Bäcker oder Straßenbahnschaffner. So ein Mann beantwortet ihre Fragen wie ein Straßenbahnschaffner, ist überrascht wie ein Straßenbahnschaffner und stirbt, wenn es sein muß, wie ein Straßenbahnschaffner.«

»Ja«, sagte Deptford. »Ja, ich weiß. Glauben Sie, daß Azarin auch glaubt, es sei ein Straßenbahnschaffner?«

»Mag sein. Aber er kann es sich nicht leisten, es offen zu bekunden.«

»Shawn, hören Sie zu, wir müssen unsere Antwort bald vorlegen.«

»Das weiß ich.«

Deptford machte eine Pause. »Ich weiß, Shawn, daß man Sie in der letzten Zeit ziemlich hart angefaßt hat.«

»’n bißchen.«

»Gut, Shawn. Ich werde es den Leuten im Ministerium erklären, und Sie tun nach wie vor, was Sie können.«

»Danke, Chef.«

»Gute Nacht, Shawn. Legen Sie sich noch einmal nieder und versuchen Sie zu schlafen.«

»Gute Nacht, Chef.« Rogers ließ den Hörer auf die Gabel fallen und starrte in die Dunkelheit. Komisch, dachte, ich wollte immer etwas Besonderes werden; ich wollte studieren, aber meine Familie wohnte leider nur in der Nähe der Docks von Brooklyn. Ich wollte wissen, was ein kategorisches Imperativ ist, wie Byron seine Gedichte geschrieben hat, und so weiter. Aber ich mußte in den Schulferien bei einer Versicherungsgesellschaft arbeiten und komischerweise in der Forschungsabteilung. Daß ich jetzt hier sitze, ist also gar kein richtiger Zufall.

Rogers hatte selten solche Gedanken. Er liebte seine Arbeit und hatte nie viel darüber nachgedacht, was geworden wäre, wenn er damals woanders gelandet wäre. Er zog seine Schuhe an, ging an seinen Schreibtisch und knipste das Licht an.


* * *

Nach einer Woche fingen sie an, Kleinigkeiten zu entdecken.

Barrister legte Rogers seine erste Schaltzeichnung auf den Schreibtisch. »So ungefähr arbeitet sein Kopf. Es sind vorerst nur Annahmen, denn wir haben Schwierigkeiten, klare Röntgenbilder zu bekommen.«

Rogers warf einen Blick auf die Zeichnung. Barrister benutzte seine Pfeife, um Einzelheiten zu erklären.

»Hier zum Beispiel seine Augen. Er hat binokulares Sehvermögen mit automatischer Brennweiteneinstellung und servomotorischen Drehimpuls. Die Kleinstmotore werden von der Miniaturbatterie hier in seinem Brustkasten gespeist. Das gleiche gilt für die anderen künstlichen Organe. Interessant ist, daß er einen ganzen Satz Filter zur Verfügung hat, die es ihm sogar erlauben, infrarote Wellenlängen zu sehen.«

Rogers blies einen Tabakkrümel von seiner Lippe. »Das ist interessant.«

Barrister fuhr fort: »Und neben den Augen sind seine akustischen Aufnahmegeräte, seine Ohren sozusagen. Es scheint, daß sie es für angebracht hielten, beide Funktionen in die einzige Kopföffnung zu verlegen. Sie haben einen Richtungsweiser, der jedoch nicht so gut arbeitet wie Gottes Schöpfung in unseren Ohren. Und hier ist noch etwas Interessantes; die Klappe, die den Spalt verschließt, ist gepanzert, um die feinen Instrumente zu schützen. Das aber bedingt, daß er taub ist, wenn er seine Augen schließt. Möglicherweise schläft er dadurch ruhiger.«

»Wenn er uns keine Alpträume vorspielt.«

»Oder sie wirklich hat«, brummte Barrister, »aber das ist nicht meine Abteilung.«

»Aber leider meine. Gut. Und das andere Loch?«

»Sein Mund? Die Kinnlade ist unbeweglich und unzerbrechlich. Seine Speichelauslässe und seine Zähne sind künstlich. Nicht aber seine Zunge. Der Mund selbst ist innen mit Plastik ausgelegt, sehr wahrscheinlich mit Teflon. Meine Leute haben es nicht leicht, das Zeug zu analysieren. Martino dagegen kommt uns sehr entgegen, er läßt uns bereitwillig Proben nehmen.«

Rogers leckte an seinen Lippen, dann sagte er plötzlich: »Ja, aber wie ist all dies in seinem Gehirn verankert? Wie bedient er den ganzen Kram?«

Barrister schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Er benutzt alles so, als sei er damit geboren. Wir nehmen an, daß es eine Verbindung zum bewußten und unbewußten Nervenzentrum gibt.

Wie die aussieht, wissen wir nicht. Und ich bin nicht der Mann, der es wagt, ihn auseinanderzunehmen. Ich habe Angst, daß ich ihn nicht wieder zusammenkriege. Eins jedoch weiß ich: irgendwo in dem Blechgehäuse befindet sich ein normal funktionierendes menschliches Gehirn. Wie die Sowjets das fertiggebracht haben, steht auf einem anderen Blatt. Sie dürfen nicht vergessen, daß sie seit langem in dieser Richtung experimentiert haben.« Er hatte eine zweite Zeichnung auf die erste gelegt und übersah Rogers Verwirrung.

»Hier ist sein Energiezentrum. Wir haben es nur angedeutet; aber ich glaube mit großer Wahrscheinlichkeit sagen zu können, daß es sich um eine gewöhnliche Taschenlampenbatterie handelt. Sie befindet sich in der Nähe seiner ehemaligen Lungen, gleich neben dem Gebläse, das seine Stimmbänder zum Schwingen bringt und für die Sauerstoffverteilung sorgt. Ein ganz phantastisches Ding übrigens.«

»Wir stark ist die Batterie abgeschirmt?«

In Barristers Antwort lag ein gewisses Maß von fachlicher Bewunderung. »Immerhin so stark, daß wir nur verschwommene Röntgenbilder bekommen. Natürlich nimmt der Energievorrat langsam ab. Er wird in ungefähr fünfzehn Jahren sterben.«

»Hm.«

»Wenn die da drüben darum besorgt wären, ob er lebt oder stirbt, hätten sie uns doch wenigstens ein Schaltschema mitschicken können!«

»Immerhin waren sie am Anfang darum besorgt. Und vielleicht sind fünfzehn Jahre für sie genug — wenn er nicht Martino ist.«

»Und wenn er Martino ist?«

»Wenn er Martino ist und sie mit ihren Überredungskünsten bei ihm gelandet sind, können fünfzehn Jahre immer noch lange genug sein.«

»Und wenn er Martino ist und nicht auf sie hereingefallen ist, wenn er immer noch der gleiche ist, der er bei uns war? Wenn er kein Marsmensch ist, sondern ganz einfach Lucas Martino, Physiker?«

Rogers ließ den Kopf sinken. »Ich weiß es nicht. Ich habe keine Antworten mehr auf Lager. Aber wir müssen es rauskriegen, und wenn wir jeden einzelnen ausquetschen, mit dem er mal gesprochen hat.«

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