Quellen war über das Gespräch mit seiner Schwester nicht erbaut gewesen. Bei ihr kam er sich immer gemartert vor. Sie war so sichtbar unglücklich, daß es ihn quälte, sie überhaupt zu sehen. Sie sah jetzt fünf oder sechs Jahre älter aus als er. Er erinnerte sich an Helaine mit Dreizehn, als sie unberührt und strahlend gewesen war, naiv genug, zu glauben, das Leben halte etwas Wunderbares für sie bereit. Und jetzt war sie fast schon Vierzig, eingesperrt in vier Wände, und krallte sich wie ein Dämon fest, um ihren mürrischen, verbitterten Mann zu behalten, nur deshalb, weil er praktisch alles war, was sie noch hatte.
Immerhin hatte sie Quellen nützliche Informationen gebracht. Lanoy war Quellen nicht mehr aus dem Kopf gegangen, seitdem der bleiche Unbekannte ihm den zusammengefalteten Minizettel auf der Flugrampe in die Hand gedrückt hatte. Am nächsten Tag war auf Quellens Veranlassung eine Routineüberprüfung erfolgt, ohne greifbares Ergebnis. Ein Nachname allein war für den Computer nutzlos. Es gab auf der Welt Tausende von Lanoys. Quellen konnte kaum jeden einzelnen davon auf mögliche kriminelle Handlungen überprüfen lassen. Ein Zufallsgriff hatte nichts erbracht. Aber nun kam Helaine mit ihrer intuitiven Überzeugung daher, daß Lanoy hinter dem Springerproblem stecke. Und die Frau, die sie erwähnt hatte, Beth Wisnack — Quellen machte sich eine Notiz, einen Mann hinzuschicken, der mit ihr reden sollte. Ohne Zweifel war Beth Wisnack zum Verschwinden ihres Mannes schon befragt worden, aber diesmal würde man von den Informationen über Lanoy ausgehen müssen.
Quellen erwog die Möglichkeit, Norm Pomrath unter Bewachung stellen zu lassen, damit ein ungelegenes Verschwinden verhindert wurde. Er war aber unzweideutig angewiesen worden, Donald Mortensen in Ruhe zu lassen und sich bei keinem der registrierten Springer einzumischen. Koll hatte die Entscheidung von Giacomin erfahren, der sie aus Kloofmans Mund selbst hatte: Hände weg von Mortensen!
Sie hatten Angst davor, die Vergangenheit zu verändern. Quellen konnte ihre Angst spüren; sie ging hinauf bis in die Hohe Regierung. Es lag in seiner Macht, das Fundament des Universums zu untergraben. Er brauchte, zum Beispiel, nur Donald Mortensen zum Verhör bringen lassen und einen Laserstrahl durch seinen Schädel zu jagen.
»Tut mir sehr leid. Widersetzte sich der Festnahme und mußte getötet werden.«
Ja. Dann würde Donald Mortensen am 4. Mai nicht in die Vergangenheit zurückkehren. Und das mußte das gesamte Gefüge der letzten Jahrhunderte erschüttern. Sofort, wenn ich Mortensen erschieße, dachte Quellen, wird sich alles verschieben, und es wird herauskommen, daß wir A.D. 2257 von einer Armee schleimiger Hundertfüßer aus den Magellan-Wolken besiegt worden sind — eine Eroberung, die einer der Nachkommen Donald Mortensens verhindert hätte. Wenn ich nicht so gedankenlos gewesen wäre, ihn niederzuschießen.
Quellen hatte nicht die Absicht, den Zorn der Hohen Regierung auf sich herabzuziehen, indem er gegen das Verschwinden von Donald Mortensen etwas unternahm. Aber Norm Pomrath stand nicht auf der Springerliste. Bezog sich Kloofmans Direktive dann auf ihn auch? Mußte Quellen auf jedes Handeln verzichten, das möglicherweise zur Zeitabreise irgendeiner Person führen mochte?
Das ergab keinen Sinn. Quellen erzielte deshalb Einigkeit mit sich selbst darüber, daß er, ohne sich zu gefährden, seinen Schwager überwachen und Maßnahmen ergreifen konnte, um Norm am Sprung zu hindern. Das würde Helaine glücklich machen. Es könnte aber auch zu einer endgültigen Lösung dieses überaus schwierigen Problems beitragen, dachte Quellen.
»Brogg soll kommen«, sagte er in sein Komm-Gerät.
Brogg befand sich, wie sich herausstellte, außer Haus bei Ermittlungen. Leeward, der zweite UnterSek, betrat Quellens Büro.
Der KrimSek sagte: »Ich habe möglicherweise eine Spur. Mein Schwager Norman Pomrath steht angeblich im Begriff, einen Verbindungsmann aufzusuchen, der ihm helfen wird, Springer zu werden. Ich bin nicht sicher, was daran wahr ist, möchte es aber überprüft haben. Statten Sie Pomrath mit einem Ohr aus und lassen Sie ihn rund um die Uhr überwachen. Wenn er auch nur eine Silbe zum Springen sagt, greifen wir zu.«
»Jawohl, Sir«, sagte Leeward phlegmatisch.
»Dann ist da dieser Lanoy. Hat sich etwas Neues ergeben?«
»Bis jetzt noch nicht, Sir.«
»Ich habe erfahren, daß Pomraths angeblicher Verbindungsmann Lanoy sein soll. Das ist also unser Schlüsselwort. Sorgen Sie dafür, daß die Monitoren sich melden, wenn Pomrath den Namen erwähnt. Ich will sofort geholt werden.«
Leeward ging, um das zu veranlassen. Damit hatte es mit Norm Pomraths Privatleben natürlich ein Ende. Von jetzt an bis zu dem Tage, an dem Quellen das Ohr zurückzog, konnte Pomrath seine Frau nicht umarmen, nicht seine Notdurft verrichten, sich nicht unter dem Arm kratzen oder nicht die Hohe Regierung beschimpfen, ohne daß irgendein allwissendes Monitorsystem das aufzeichnete. Bedauerlich. Quellen selbst war schon das Opfer eines Ohres gewesen und kannte das Qualvolle daran, weil auf diese Weise der hinterlistige Brogg von der illegalen Wohnung des KrimSek in Afrika erfahren hatte. Quellen bedauerte aber nicht wirklich, was er Pomrath antat. Das geschah für Helaine. Sie hatte sogar darum gebeten, Norm ins Gefängnis zu stecken, nicht? Das andere war für ihn viel weniger unbequem. Aller Wahrscheinlichkeit nach würde er nicht einmal etwas davon erfahren. Und es mochte sein, daß er Quellen zum Kern des Springerunternehmens führte. Auf jeden Fall würde es für Pomrath außerordentlich schwer werden, das jetzige Jahrhundert zu verlassen, solange er überwacht wurde.
Quellen schob dieses Problem beiseite und befaßte sich mit anderen dringenden Angelegenheiten.
Die täglichen Berichte über Straftaten waren auf seinem Schreibtisch eingetroffen. So sehr er von den Springern besessen sein mochte, Quellen trug auch auf anderen Gebieten Verantwortung. Er mußte die Einzelheiten aller in seiner Zone Appalachias begangenen Verbrechen studieren und Empfehlungen für die Erledigung geben. Der neue Stapel war ungefähr so groß wie gestern — das Verbrechen war statistisch eine Konstante —, und Quellen wußte, daß die Abscheulichkeiten von heute nicht weniger einfallsreich sein würden als die von gestern.
Er blätterte in den Unterlagen.
Die Verbrechensliste entsetzte Quellen nicht mehr, und das war das Schlimmste an seiner Tätigkeit. Jahr für Jahr holte ihn ein schleichender Empfindungsverlust ein. Als er jung und neu bei diesem Spiel gewesen, ein Elfer, kaum flügge, und eben erst erfahren hatte, worum es ging, hatte ihn das Ausmaß betäubt, in dem der Mensch fähig war, dem Menschen Übles anzutun. Jetzt war das alles Statistik und Schlüsselzahl, mit der Wirklichkeit nicht verwandt.
Die Verbrechen waren meistens unmotiviert. Die gütige Hohe Regierung hatte einen Großteil der archaischen Gründe für Verbrechen wie Hunger, Not und physischen Frust beseitigt. Jeder erhielt einen Lohnscheck, ob er arbeitete oder nicht, und Essen gab es genug für alle, von hohem Nährwert, wenn auch nicht sonderlich wohlschmeckend. Niemand wurde zum Raub getrieben, weil er eine hungernde Familie ernähren mußte. Die meisten suchterregenden Drogen waren leicht erhältlich. Sex in allen Abarten gab es billig in staatlich überwachten Zellen. Diese Maßnahmen seien Anzeichen der Reife, hieß es. Dadurch, daß sie die meisten Dinge legalisierte, hatte die Hohe Regierung das Bedürfnis beseitigt, Ungesetzlichkeiten zu begehen.
Wahr. Die Motive für Verbrechen waren zum größten Teil untergegangen. Das Verbrechen aber blieb. Quellen hatte Beweise genug für diese traurig stimmende soziologische Tatsache erhalten. Diebstahl, Mord, Notzucht — das war jetzt Belustigung, keine Frage der Bedürfnisse mehr. Der Mittelstand war durchwirkt von Kriminalität. Achtbare Bürger der Stufe Sechs begingen die grauenhaftesten Taten. Dicke Damen aus Fünfer-Haushalten überfielen Unbekannte in dunklen Gassen. Kinder mit frischen Gesichtern beteiligten sich an Scheußlichkeiten. Sogar die Bewahrer von Recht und Ordnung widersetzten sich, wie Quellen wußte, der Autorität, indem sie Ungesetzliches taten, etwa in angeblich für Zweier reservierten Gebieten Zweitwohnungen beschafften. Aber Quellens eigenes Verbrechen schadete wenigstens nicht direkt anderen menschlichen Wesen. Während —
Hier der Bericht über einen Hydroponiker Stufe Acht, der eines biologischen Verbrechens beschuldigt wurde: widerrechtliche Einführung lebenden Gewebes in den Körper eines anderen Menschen. Es wurde behauptet, er hätte einen Technikerkollegen betäubt, mit einer Ultraschallsonde seinen Körper geöffnet und eine tödliche Dosis eines neuentwickelten asiatischen fleischfressenden Erregers eingeführt, die das Kreislaufsystem des Opfers verzehrte, die eine Arterie hinauf, die nächste Vene hinunter, wie eine Flamme durch die Gefäße schießend. Warum? »Um seine Reaktion zu erleben«, lautete die Erklärung, »Es war sehr lehrreich.«
Und hier ein Dozent Stufe Sechs für höhere Hermeneutik an einer großen Universität Appalachias, der eine junge Studentin in seine luxuriöse Zweizimmerwohnung eingeladen und ihr nach ihrer Weigerung, sich auf sexuelle Beziehungen einzulassen, einen Kurzschluß der Schmerzzentren zugefügt hatte. Anschließend hatte er sie vergewaltigt und ohne jede Sinnesempfindung auf die Straße gejagt. Warum? »Eine Frage des männlichen Stolzes«, erklärte er dem Beamten, der ihn festnahm. ›Der lateinamerikanische Begriff des Machismo —‹
Er hatte seinen Stolz. Aber das Mädchen würde nie mehr etwas empfinden. Weder Schmerz noch Lust, wenn der Schaden nicht durch einen chirurgischen Eingriff behoben werden konnte.
Und hier der unerfreuliche Bericht über eine Versammlung von Gläubigen des Kults gemeinsamen Erbrechens, die nicht zu mystischen Erlebnissen, sondern zu einer Tragödie geführt hatte. Einer der Gläubigen hatte, getrieben von unergründlichen Motiven der Grausamkeit, heimlich drei Kristalle pseudolebendiges Glas in seinen Mageninhalt getan, bevor er ihn seinen Genossen überließ. Das Glas, in zusagender Umgebung zur Ausdehnung veranlaßt, hatte die inneren Organe der Opfer auf tödliche Weise durchbohrt. »Das war ein schrecklicher Irrtum«, erklärte der Täter. »Ich hatte die Absicht, selbst einen von den Kristallen zu schlucken und mit den anderen Qual und Erlösung zu teilen. Bedauerlicherweise —«
Der Bericht rührte in Quellen eine Saite des Entsetzens an. Die meisten dieser täglichen Alptraumberichte ließen ihn kalt, aber zufällig war Judith Mitglied eben dieses Kults, und an Judith dachte er seit Helaines Besuch immer wieder. Quellen hatte Judith seit seiner letzten Rückkehr aus Afrika nicht gesehen, nicht einmal von ihr gehört. Es mochte sehr wohl Judith gewesen sein, die diese teuflischen Kristalle von pseudolebendem Glas geschluckt hatte. Es könnte sogar ich gewesen sein, dachte Quellen angeekelt. Ich sollte Judith bald anrufen. Ich habe sie nicht beachtet.
Er ging weiter die Berichte durch.
Nicht alle neuesten Verbrechen waren so einfallsreich gewesen. Es gab die übliche Anzahl von Erschlagenen, Erstochenen, von Laserstrahlen Erschossenen und anderen konventionell Umgebrachten. Aber die Bandbreite für Verbrechen war unendlich groß, ausgefallene Abscheulichkeiten waren das Merkmal der Zeit. Quellen schlug Seite für Seite um und notierte seine Beobachtungen und Empfehlungen. Dann schob er das ganze bedrückende Material beiseite.
Er hatte noch keine Gelegenheit gehabt, sich die Spule anzusehen, die Brogg im Rahmen der Springer-Ermittlungen als Beweisstück B bezeichnete. Brogg hatte erklärt, sie beträfe Beweismaterial am Rande für Zeitreisen außerhalb der registrierten Zone von 1979 bis 2106. Quellen schob die Spule ins Gerät und lehnte sich zurück.
Es handelte sich um Broggs gewissenhafte Ausschlachtung von Annalen des Okkulten. Der UnterSek hatte Hunderte von Berichten über rätselhafte Erscheinungen gesammelt, offenbar in der Annahme, sie könnten Zeitreisende aus einer Phase vor den Springern betreffen. »Ich möchte darauf hinweisen«, stellte Brogg fest, »daß der normale Bereich der Zeitreisen zwar die fünfhundert Jahre vor der Jetztzeit umfaßt, es aber Beispiele gegeben hat, wo es zu einem Überschießen in eine viel frühere Zeit kam.«
Mag sein, dachte Quellen. Er betrachtete das Material mit distanzierter Neugier.
Etwa: Die Angaben von Giraldus Cambrensis, Chronist, geboren ca. A. D. 1146 auf der Burg Manorbier in Pembrokeshire. Giraldus erzählte die Geschichte eines rothaarigen jungen Mannes, der unerwartet im Haus eines Ritters namens Eliodore de Stakepole im westlichen Haus aufgetaucht sei:
›Dieser fremde Mann sagte, er heiße Simon. Er nahm dem Seneschall die Schlüssel ab und auch den Posten, aber er war so klug und tüchtig, daß im Haus, das immer wohlhabender wurde, nie etwas verlorenging oder fehlte. Wenn sein Herr oder seine Herrin an etwas dachten, das sie gern gehabt hätten und es nicht einmal aussprachen, las er ihre Gedanken, und schon besorgte er es, auch ohne Befehl. Er wußte, wo sie ihr Gold und die Juwelen versteckten. Er sagte zu ihnen: »Warum dieses Knausern um Euer Gold und Silber? Ist das Leben nicht kurz? Dann genießt es, gebt Euer Gold aus, oder Ihr sterbt, ohne das Leben genossen zu haben, und das Geld, das Ihr so bedachtsam hortet, wird Euch nichts nützen.« Er legte Wert auf die gute Meinung von Dienern und Knechten und gab ihnen das Beste zu speisen und zu trinken… Dieser fremdartige, rothaarige Mann setzte keinen Fuß in eine Kirche, benützte kein Brevier und sprach kein katholisches Wort oder etwas Religiöses. Er schlief nicht im Herrenhaus, war aber stets zur Hand, um zu Diensten zu sein und zu bringen, was gewünscht war.‹
Der Chronist berichtete, daß die Kinder von Stakepole sehr neugierig bezüglich dieses geheimnisvollen Simon gewesen seien und ihm nachspioniert hätten:
›Und eines Nachts, als sie hinter einem Holunderstrauch kauerten, sahen sie den fremden Mann in das Wasser des Mühlbachs starren und die Lippen bewegen, als spräche er mit etwas Unsichtbarem.‹
Was sofort dem alten Stakepole hinterbracht wurde. Der tugendreiche Ritter ließ Simon in seine Privatgemächer kommen und feuerte ihn:
›Als sie ihm die Schlüssel abnahmen, fragte ihn die Burgherrin: »Wer bist du?«
Er antwortete: »Ich bin gezeugt von einem Dämon mit der Frau eines Bauern hier, der sie in Gestalt ihres eigenen Mannes beschlief.«
Er nannte den Mann beim Namen, der so gehörnt worden war. Er hatte vor kurzem den Tod gefunden. Die Mutter lebte noch, und als man sie streng befragte, wurde die Sache durch ihr öffentliches Geständnis als wahr bestätigt.‹
Interessant, dachte Quellen. Woher hatte Brogg diese Dinge? Es mochte sehr wohl sein, daß der rothaarige ›Dämon‹ ein Springer war, den es zu weit durch die Zeit gerissen hatte. Ebenso die anderen Berichte von Mönchen. Das 12. und 13. Jahrhundert war laut Broggs Nachforschungen eine fruchtbare Zeit für die Ankunft unerklärlicher Fremder gewesen. Nicht alle waren auch in menschlicher Gestalt erschienen. Quellen las einen Auszug aus dem ›Eulogium Historiarum‹, das 1171 im Kloster Malmesbury geschrieben worden war:
›In der Nacht der Geburt des Herrn gab es ein Donnern und Blitzen, wie man es noch nie vorhergesehen hatte. Und in Andover wurde ein Priester um Mitternacht vor der ganzen Gemeinde vom Blitz niedergeworfen, ohne weitere Verletzungen… aber man sah, was nach einem Schwein aussah, zwischen seinen Füßen hinund herlaufen…‹
Brogg hatte einen vergleichbaren Fall in den ›Annales Fran corum Regium‹ des Mönchs Bertin gefunden, verfaßt um 1160. Der Eintrag für 856 lautete:
›lm August feierte Teotogaudus, Bischof von Trier, mit Geistlichen und Laien die Messe, als eine sehr furchtbare Wolke mit Gewitter und Blitz die ganze Gemeinde in der Kirche entsetzte und das Läuten der Kirchenglocken übertönte. Der ganze Bau war von solch dichter Dunkelheit erfüllt, daß einer den anderen kaum sehen oder seinen Nachbarn erkennen konnte. Auf einmal öffnete sich in Boden oder Erde ein Loch, und man sah einen Hund von ungeheurer Größe, der rund um den Altar hinund herlief.‹
Schweine? Hunde? Versuche, vielleicht, zu Beginn der Zeitreisen? Quellen machte sich Gedanken. Die Maschine war noch neu und unzuverlässig gewesen, stellte er sich vor. Man hatte wehrlose Tiere in das Feld gestellt und sie dann zur Verblüffung der frommen, teufelsfürchtigen Bürger des Mittelalters in die Vergangenheit gejagt. Ein bedauerlicher Weitschuß hatte die armen Geschöpfe weit hinter die industrielle Revolution zurückgetrieben, aber die Leute, die das Gerät bedienten, konnten das Ziel ihrer Passagiere nicht gekannt haben, wenn sie nicht von denselben Unterlagen wußten, die Brogg zutage gefördert hatte.
Nicht alle Fälle von Brogg befaßten sich mit Vorkommnissen im Mittelalter. Viele Abschnitte von Beweisstück B befaßten sich mit neueren Ereignissen, wenn auch immer noch weit vor der Grenze von 1979, die als äußerste für Reisen in die Vergangenheit galt. Quellen las von einem Mädchen, das am Abend des 3. April 1817 an der Tür eines Landhauses bei Bristol in England aufgetaucht war und in einer, wie es hieß, ›unbekannten Sprache‹ Essen erbettelte.
Woher wußte man dann, was sie gewollt hatte? fragte sich Quellen. Die Spule gab keine Antwort darauf. Sie teilte ihm statt dessen mit, daß das Mädchen, das sich nicht verständigen konnte, vor einen Magistratsrichter, einen Samuel Worral, gebracht worden war, der sie, statt sie als Landstreicherin einzusperren, mit nach Hause nahm. (Schon verdächtig, dachte Quellen.) Er befragte sie. Sie schrieb Antworten nieder in einer unbekannten Schrift, deren Buchstaben aussahen wie Kämme, Vogelkäfige und Bratpfannen. Sprachkundige kamen, um sich damit zu befassen. Schließlich tauchte einer auf, der sich als ein ›Gentleman aus Ostindien‹ bezeichnete. Er befragte sie auf Malaiisch und erhielt verständliche Antworten.
Sie sei, so erklärte er, die Prinzessin Karabu, von Piraten aus ihrem Heim auf Java entführt und auf See gebracht worden, wo sie viele Abenteuer erlebt habe, bevor es ihr endlich gelungen sei, an die englische Küste zu entfliehen. Mit Hilfe des ›Gentleman aus Ostindien‹ teilte Prinzessin Karabu viele Einzelheiten über das Leben auf Java mit. Dann trat eine Frau aus Devonshire auf, eine Mrs. Willcocks, und erklärte, die Prinzessin sei in Wahrheit ihre Tochter Mary, geboren 1791. Mary Willcocks gestand den Betrug ein und wanderte nach Amerika aus.
Brogg hatte dem Fall von Prinzessin Karabu folgende Überlegungen angefügt:
›Manchen Kennern zufolge handelte es sich hier um einen mehrfachen Betrug. Ein Mädchen tauchte auf geheimnisvolle Weise auf. Ein Mann meldete sich und behauptete, ihre Sprache zu verstehen. Eine ältere Frau erklärte, das sei alles Schwindel. Aber die Dokumente sind lückenhaft. Was, wenn das Mädchen eine Besucherin aus der Zukunft war und der »Gentleman aus Ostindien« ein anderer Springer, der sie geschickt als javanische Prinzessin auszugeben versuchte, um zu verhindern, daß ihre wahre Herkunft offenbar wurde? Was, wenn die angebliche Mutter eine weitere Springerin war, die eingriff, um das Mädchen zu schützen, als es den Anschein hatte, der Schwindel mit Java könnte auffliegen? Wie viele Zeitreisende haben 1817 nun wirklich in England gelebt?‹
Quellen hatte den Eindruck, daß Brogg zu leichtgläubig war. Er ging weiter zum nächsten Beispiel.
Cagliostro: Tauchte in London, dann in Paris auf, sprach mit einem Akzent, dessen Herkunft nicht zu klären war. Übernatürliche Kräfte. Aggressiv, begabt, unkonventionell. Beschuldigt, in Wahrheit ein Joseph Balsamo zu sein, ein sizilianischer Verbrecher. Dieses nie bewiesen. Verdiente im Europa des 18. Jahrhunderts viel Geld mit alchimistischem Pulver, Liebestränken, Jugendelixieren und anderem nützlichen Gebräu. Wurde unvorsichtig, kam 1785 in die Bastille, entfloh, besuchte andere Länder, wurde wieder verhaftet, starb 1795 im Kerker. Betrüger? Schwindler? Zeitreisender? Durchaus möglich. Alles war möglich, dachte Quellen betrübt, sobald man anfing, an solche Dinge zu glauben.
Kaspar Hauser: Wankte an einem Mainachmittag 1828 in die Stadt Nürnberg. Offenbar sechzehn oder siebzehn Jahre alt. (Ein bißchen jung für einen Zeitspringer, dachte Quellen. Vielleicht hatte das Äußere getäuscht.) Konnte auf Deutsch nur zwei Sätze sprechen. Als man ihm Bleistift und Papier gab, schrieb er einen Namen: Kaspar Hauser. Man nahm an, das sei sein eigener Name. Er kannte die alltäglichsten Dinge und Vorkommnisse nicht. Ohne Zweifel aus einer Zeitverwerfung gestürzt.
Aber einer, der rasch lernte. Eine Zeit als Landstreicher im Gefängnis festgehalten, dann einem Lehrer übergeben, Professor Daumer. Meisterte Deutsch und schrieb eine autobiographische Abhandlung, worin er mitteilte, er habe sein ganzes Leben in einer kleinen, dunklen Zelle verbracht und von Wasser und Brot gelebt. Ein Polizist, der ihn gefunden hatte, erklärte jedoch: »Er hatte eine sehr gesunde Gesichtsfarbe. Er wirkte nicht blaß oder geschwächt wie jemand, der einige Zeit eingesperrt war.«
Viele Widersprüche. Allgemeine Faszination in Europa; jedermann stellte Spekulationen über die rätselhafte Herkunft Kaspar Hausers an. Manche meinten, er sei der Kronprinz von Baden, 1812 von den Beauftragten der seinem angeblichen Vater, dem Großherzog, zur linken Hand angetrauten Frau entführt. Später widerlegt. Andere erklärten, er sei ein Schlafwandler und habe das Gedächtnis verloren. 17. Oktober 1829: Kaspar Hauser aufgefunden mit einer Wunde an der Stirn, angeblich zugefügt von einem Mann mit schwarzer Maske. Polizisten abgestellt, die ihn bewachen sollten. Mehrere weitere angebliche Attentate. 14. Dezember 1833: Kaspar Hauser sterbend in einem Park gefunden, eine tiefe Stichwunde in der linken Brust. Behauptete, ein Unbekannter hätte ihm die Wunde zugefügt. Keine Spur von der Waffe im Park, keine Fußabdrücke außer Hausers eigenen in der Umgebung. Vermutung, daß er sich die Wunde selbst beigebracht hatte. Einige Tage danach gestorben mit dem Ruf: »Mein Gott, daß ich so in Schande und Ehrlosigkeit sterben muß!«
Quellen schaltete ab. Schweine, Hunde, die Prinzessin Karabu, Kaspar Hauser — alles ganz unterhaltsam. Es mochte sogar einen Glauben stützen, die ganze Menschheitsgeschichte sei gesprenkelt von Zeitreisenden, nicht nur die Zeit zwischen 1979 und 2106. Schön. Aber solche Fakten trugen wenig dazu bei, Quellens augenblickliche Probleme zu lösen, so sehr das Sammeln auch Broggs Geschmack an Gelehrsamkeit entgegengekommen sein mochte. Quellen legte die Spule weg.
Er wählte Judiths Nummer. Ihr Gesicht erschien auf dem Bildschirm, bleich, düster, streng. Zur Schönheit fehlte ihr ziemlich viel. Ihr Nasenrücken war zu hoch, ihre Stirn zu gewölbt, ihre Lippen waren dünn, ihr Kinn lang. Ihre Augen standen beunruhigend weit auseinander, das rechte ein wenig höher als das linke. Trotzdem war sie nicht reizlos. Quellen hatte mit der Verlockung gespielt, zuzulassen, daß er sich in sie verliebte. Aber das war mißlich; er durfte sie nicht zu nah an sich heranlassen, ohne ihr von der Wohnung in Afrika zu erzählen, und er wollte nicht, daß sie das erfuhr. Sie hatte einen Zug von Pharisäertum; sie mochte ihn verraten.
»Hast du dich vor mir versteckt, Joe?« fragte sie.
»Ich hatte viel zu tun. Ertrinke in Arbeit. Entschuldige, Judith.«
»Laß dich von deinem Schuldbewußtsein nicht aus der Ruhe bringen. Ich bin ganz gut ausgekommen.«
»Davon bin ich überzeugt. Was macht dein Freudel?«
»Doktor Galuber? Es geht ihm gut. Er möchte dich gern kennenlernen.«
Quellen reagierte störrisch.
»Ich habe nicht die Absicht, mich in Therapie zu begeben, Judith. Tut mir leid.«
»Das ist innerhalb von drei Sätzen schon das zweitemal, daß du dich entschuldigst.«
»Tut mir l —« begann Quellen, und sie lachten beide.
»Ich meinte, du sollst Doktor Galuber privat kennenlernen«, erklärte Judith. »Er wird bei unserer nächsten Kommunion dabeisein.«
»Wann?«
»Heute abend schon. Kommst du?«
»Du weißt, daß Gemeinschaftsbrechen mir nie sonderlich gefallen hat, Judith.«
Sie lächelte kühl.
»Das weiß ich. Aber es wird Zeit, daß du ein bißchen unter die Leute kommst. Du vergräbst dich zu sehr, Joe. Wenn du Junggeselle bleiben willst, ist das deine Sache, aber Einsiedler brauchst du nicht auch noch zu werden.«
»Ich kann eine Münze in den Schlitz einer Freudelmaschine stecken und einen Rat bekommen, der genauso tiefgründig ist.«
»Mag sein. Kommst du nun zur Kommunion?«
Quellen dachte an den Fall, den er erst vor ungefähr einer Stunde zur Kenntnis genommen hatte, von dem ernsthaften Kommunikanten, der pseudolebendes Glas in die Verdauungskanäle seiner Mitgläubigen praktiziert und zugesehen hatte, wie sie qualvoll gestorben waren. Er stellte sich vor, wie er sich in Qualen wand, während eine weinende Judith sich an ihn klammerte und in der Art ihrer Sekte das letzte Quentchen Leid aus seiner Todesqual zu ziehen suchte.
Er seufzte. Sie hatte recht. Er lebte in der letzten Zeit wirklich viel zu zurückgezogen. Er mußte hinaus, weg von seinen Amtspflichten.
»Ja«, sagte er. »Ja, Judith, ich komme zur Kommunion. Freust du dich?«