10

Die Nacht schloß sich wie wie eine geballte Faust. Quellen zog sich nach dem gemächlichen Duschen, das fast seine ganze Wochenration an Waschwasser erforderte, um. Er zog Kleidung an, die ein wenig bunt war, in plötzlicher Auflehnung gegen die Art von Abend, die Judith ihm zumuten würde. Die Leute, die zu diesen Kommunionen des Gemeinschaftserbrechens erschienen, neigten dazu, farblos zu sein, und das bewußt. Er verabscheute ihre puritanische Kargheit. Deshalb zog er eine mit schillernden Fäden durchwirkte Tunika an, die rot und violett und azurblau schimmerte, wenn er sich bewegte.

Er aß nicht zu Abend. Das wäre in Anbetracht der vorgesehenen Zeremonie ein unverzeihlicher Fauxpas gewesen. Immerhin mußte er nach den Belastungen des Tages seinen Blutzuckerspiegel erhöhen. Ein paar Tabletten genügten dafür. Erfrischt versiegelte Quellen seine Wohnung und ging. Er sollte Judith bei der Kommunion treffen. Danach würde er sie vielleicht nach Hause begleiten. Sie lebte allein, seitdem sie zu ihm auf Stufe Sieben gelangt war. Es wäre eine Tat guten Bürgertums gewesen, sie zu heiraten und die beiden Wohnungen zusammenzulegen, das wußte Quellen, aber er war noch nicht bereit, so patriotisch zu sein.

Die Sektenversammlung wurde, wie Judith ihm mitgeteilt hatte, in der Wohnung Stufe Vier eines gewissen Brose Cashdan abgehalten, eines Beamten im interkontinentalen Stat-Netz. Es war für Quellen interessant, daß ein Transportgewaltiger wie Cashdan sich auf eine solche Sekte einließ. Der Kult des Gemeinschaftserbrechens stand freilich nicht auf der Verbotsliste. Es mochte ästhetisch ekelhaft sein, aber nicht subversiv, wie so vieles andere. Trotzdem hatte Quellens Umgang mit hohen Beamten ihm beigebracht, daß sie dazu neigten, auf den Status quo zu achten. Vielleicht war Cashdan anders. Jedenfalls war Quellen neugierig auf das Haus. Er hatte nicht viele Wohnungen Stufe Vier gesehen.

Brose Cashdans Villa lag noch knapp in der Innenzone des Stat-Radius von Appalachia. Das hieß, daß Quellen sie nicht durch die sofortige Übermittlung durch Stat erreichen konnte, sondern ein Schnellboot nehmen mußte. Das war schade, weil er damit eine halbe Stunde vergeuden mußte. Er programmierte seinen Weg nach Norden. Der Bildschirm im Schnellboot zeigte eine simulierte Ansicht dessen, was unter ihnen lag: der Hudson, silbrig und geschlängelt im Mondlicht, dann die struppigen Berge des Adirondack-Waldschutzgebiets, über vierhundert Hektar unverdorbene Wildnis mitten in der weitläufigen Stadt, und schließlich das Flutlichtglitzern der Landerampe. Anschlußtransport brachte Quellen rasch zu Cashdans Haus. Er hatte sich ein wenig verspätet, aber das störte ihn nicht.

Es war eine großartige Villa. Auf solche Pracht hatte Quellen sich nicht eingestellt. Natürlich war Cashdan gehalten, nur an einem Ort zu leben, im Gegensatz zu den Zweiern, die mehrere Wohnungen in verschiedenen Teilen der Welt haben durften. Trotzdem, es war ein herrliches Haus, in erster Linie aus Glas mit Achsenpolen aus einem schwammigen, hart aussehenden Kunststoff bestehend. Es waren mindestens sechs Zimmer, ein kleiner Garten(!) und ein Landeplatz auf dem Dach. Selbst von der Luft aus wirkte das Ganze warm und einladend. Quellen trat ins Vestibül und suchte nach Judith.

Ein beleibter Mann über Sechzig in einer gestärkten weißen Tunika kam heraus, um ihn zu begrüßen. Diagonal an der Tunika prangte die goldene Schärpe der Macht.

»Ich bin Brose Cashdan«, sagte der Mann. Er hatte eine tiefe, herrische Stimme. Quellen konnte sich vorstellen, daß dieser Mann den ganzen Tag knapp und klar Entscheidungen traf und sich kaum die Mühe machte, eine Empfehlung von der Hohen Regierung einzuholen.

»Joseph Quellen. Ich wurde eingeladen von —«

»Judith da Silva. Gewiß. Judith ist schon da. Willkommen, Mr. Quellen. Wir sind geehrt, daß Sie sich uns anschließen. Kommen Sie, kommen Sie.«

Es gelang Cashdan, gleichzeitig einschmeichelnd und herrisch zu wirken. Er führte Quellen in einen anderen Raum von sieben Metern Länge und mindestens zehn Metern Breite. Von Wand zu Wand war der Raum mit einem Bodenbelag aus grauem Schaumstoff ausgelegt, der möglicherweise ein Maß an Pseudoleben besaß. In diesem Palast gab es gewiß nichts Karges oder Farbloses.

Acht oder neun Personen saßen in der Mitte des Raumes beieinander auf dem Boden. Judith war dabei. Zu Quellens Überraschung hatte Judith es nicht für angemessen gehalten, sich auf die armselige, zurückhaltende Weise zu kleiden, die von den meisten Kommunikanten dieser Sekte bevorzugt wurde. Offenbar hatte diese Oberklassen-Versammlung andere Maßstäbe. Judith trug ein höchst unanständiges Aufsprühkleid, blau mit grünen Untertönen. Ein Streifen Stoff zog sich zwischen ihren Brüsten hindurch, die sonst nackt waren, und wand sich um ihre Hüften und Lenden. Ihre Nacktheit war mehr oder weniger bedeckt, aber da die Hülle nicht mehr war als Farbe, hätte sie ebensogut nackt kommen können. Quellen hatte gehört, daß solche Extremmoden nur in hochfeinen Kreisen zulässig waren, wo niemand unter Stufe Sechs teilnahm. Für Judith, Stufe Sieben, war es also ein wenig vorwitzig, so zu erscheinen. Quellen spürte, daß er und Judith wohl die einzigen Siebener im Raum sein mochten. Er lächelte Judith an. Sie hatte kleine Brüste, die Art, die jetzt begehrt war, und lenkte die Aufmerksamkeit dadurch auf sich, daß sie die Brustwarzen gefärbt hatte.

Neben ihr saß ein korpulenter, praktisch halsloser Mann mit gestutztem, blaugefärbtem Vollbart, feuchten Lippen und gelassenem Gesichtsausdruck. Neben sich hatte er eine zweite Frau, etwas älter als Judith, die ein Aufsprühkleid trug, das nicht viel züchtiger war als das ihre. Bei Judith sah das gut aus, aber nicht bei dieser Frau, die unmoderne pralle Brüste und dicke Oberschenkel hatte. Sie lächelte Quellen affektiert an, während er unhöflich auf ihren geschmacklos entblößten Körper starrte.

Die anderen Teilnehmer wirkten wohlhabend und ernsthaft intellektuell — in der Hauptsache Männer, die meisten ein wenig weibisch, alle gut gekleidet und offenkundig von hohem Rang. Judith stand auf und übernahm die Vorstellung. Quellen ließ die meisten der Namen an sich vorüberziehen, ohne sie zu beachten. Der halslose Mann mit dem blauen Bart war, wie er erfuhr, Dr. Richard Galuber, Judiths Freudel. Die beleibte Dame war Mrs. Galuber. Interessant. Quellen hatte nicht gewußt, daß der Freudel verheiratet war. Er hatte infolge einer von Scham diktierten umgekehrten Übertragung lange den Verdacht gehabt, Judith sei Galubers Geliebte. Das mochte sein, aber würde Galuber bei einer solchen Versammlung Ehefrau und Geliebte zusammenführen? Quellen konnte es nicht entscheiden. Freudel waren in ihren Motivationen oft sehr ungewöhnlich, und was Quellen anging, mochte Galuber bei seiner Ehefrau therapeutisch etwas bewegen wollen, indem er sie mitgenommen hatte.

Außerhalb der Gruppe sagte Judith: »Ich bin so froh, daß du gekommen bist, Joe. Ich hatte schon befürchtet, du wolltest dich aus der Affäre ziehen.«

»Ich hatte doch versprochen, daß ich komme, oder?«

»Ja, ich weiß. Du hast aber eine Neigung, vor möglicherweise feindseligen Erlebnissen in der Gemeinschaft zurückzuweichen.«

Quellen ärgerte sich.

»Du fängst schon wieder an, mich zu freudeln. Hör auf damit, Judith. Ich bin gekommen, nicht wahr?«

»Natürlich.« Ihr Lächeln wirkte plötzlich herzlich. »Ich freue mich sehr. Ich wollte dich nicht angreifen. Komm, ich mach’ dich mit Doktor Galuber bekannt.«

»Muß das sein?«

Sie lachte.

»Wie gesagt, du hast eine Neigung, dich vor möglicherweise —«

»Gut, gut. Führ mich hin.«

Sie gingen durch das Zimmer. Quellen war durch Judiths Nacktheit aus der Fassung gebracht. Ein polymerisierter Farbstreifen war eigentlich keine Kleidung. Er konnte unter dem dunklen Blau ihre Gesäßbacken unterscheiden. Sie wirkte entblößter als bei völliger Nacktheit. Die Wirkung war herausfordernd und beunruhigend. Ihr schlanker, fast knochiger Körper reizte ihn auf fast unerträgliche Weise, besonders im Rahmen dieser Umgebung. Auf der anderen Seite war Mrs. Galuber praktisch genauso entblößt, aber Quellen hätte ihr am liebsten eine Decke über die Schultern geworfen, um das Schandbare zu verdecken.

Der Freudel sah Quellen freudelhaft an.

»Es ist mir eine Freude, Sie kennenzulernen, Mr. Quellen. Ich habe viel von Ihnen gehört.«

»Davon bin ich überzeugt«, erwiderte Quellen nervös. Es enttäuschte ihn, daß Galuber trotz seines vielversprechend teutonischen Namens nicht den rituellen mitteleuropäischen Akzent nachahmte, den die meisten Freudels annahmen. »Ich wußte nicht, daß Männer in Ihrem Beruf solchen Sekten angehören.«

»Wir nehmen spirituelle Erlebnisse jeder Art auf«, erklärte Galuber. »Gibt es irgendeinen Grund, weshalb wir sie zurückweisen sollten?«

»Eigentlich nicht.«

Der Freudel wies mit einer Kinnbewegung auf seine Frau.

»Jennifer und ich gehören schon seit über einem Jahr einer Gemeinschaftserbrech-Gruppe an. Das hat uns bemerkenswerte Einsichten gebracht, nicht wahr, Liebste?«

Mrs. Galuber lächelte wieder einfältig. Sie beäugte Quellen auf so unverhohlen sexuelle Weise, daß ihn ein Stich durchzuckte.

»Es war außerordentlich aufschlußreich«, bestätigte sie. Sie hatte eine warme, tiefe Stimme. »Jede Art zwischenmenschlicher Beziehung ist günstig, finden Sie nicht? Soll heißen, wir erreichen Kathexis auf jene Art, die unseren Bedürfnissen am besten entspricht.« Jennifer Galubers üppiges Fleisch schwabbelte, als sie jovial lachte. Quellen ertappte sich dabei, daß er die häßlichen, hochgereckten Wölbungen ihrer nackten Brüste anstarrte, und er wandte schuldbewußt und angewidert den Blick ab. Die Galubers müssen eine sehr seltsame Ehe führen, dachte er. Doch ich lasse mich von der fetten Hexe nicht für ein Zwischenspielchen entführen. Galuber mag mit Judith schlafen, aber es bringt mir nichts ein, wenn ich dafür mit seiner Frau ins Bett gehe, weil die Rollen nicht gleich sind.

»Ich dränge Doktor Galuber schon seit Monaten, zu einer unserer Zusammenkünfte zu kommen«, sagte Judith. »Aber er hat sich immer gewehrt. Er meinte, bis er und ich bei meiner Behandlung das richtige Stadium erreicht haben, könne er sich auf eine solch intime Ebene nicht begeben.«

»Es geht natürlich um mehr«, sagte der Freudel wohlwollend. »Wie immer. In diesem Fall ging es darum, der Gruppe das Handikap meiner Frau aufzuerlegen, was besondere Vorbereitungen verlangt. Jennifer ist eine Mutantin mit Galaktosemangel. Sie muß sich galaktosefrei ernähren.«

»Aha«, sagte Quellen verständnislos.

»Ein genetischer Zufall«, fuhr Galuber fort. »Sie kann überhaupt keine Galaktose verarbeiten, weil ein Enzymdefizit vorliegt. Galaktosevorboten würden sich anstauen, und es käme zu Zellschädigungen. Sie mußte also von Geburt an galaktosefrei essen, aber das führt zu anderen Problemen. Wegen dem Enzymdefizit kann sie Galaktose nicht aus inneren Kohlehydraten abspalten, was unbehandelt zu einer Verdrängung von Galaktolipiden durch Glukolipide im Hirn führen würde, zu einem stark geschädigten Blutbild, zu schlechter Immunreaktion bei Organverpflanzungen, zu abnormer Hirnentwicklung — ach, in vieler Beziehung ein großes Problem.«

»Ist das heilbar?« fragte Quellen.


»Nicht im Sinne einer Vollremission. Aber man kann es in Schach halten. Erbliche Schäden am Galaktosemetabolismus können durch Enzymsynthese beherrscht werden. Trotzdem muß sie eine Spezialdiät einhalten und bestimmte Substanzen meiden, darunter diejenige, die heute abend bei der Zeremonie eine Hauptrolle spielt. Deshalb mußten wir unser eigenes vorbereitetes Material mitbringen. Für den Gastgeber lästig.«

»Durchaus nicht, durchaus nicht«, dröhnte Brose Cashdan unerwartet. »Nebensache! Wir freuen uns sehr, daß Sie kommen konnten, Mrs. Galuber!«

Quellen, verwirrt durch Galubers Strom von klinischem Jargon, war erleichtert, als Cashdan verkündete, die Zeremonie werde gleich beginnen. Der Freudel hat mir sein ganzes Gefasel aufgetischt, um seine geistige Überlegenheit zu bekunden, dachte Quellen gereizt. Statt den Jargon seines eigenen Berufs von sich zu geben, der leicht zu parieren war, wenn man sich mit Cocktailparty-Freudelismus auskannte, hatte Galuber es vorgezogen, Quellen mit einem Schwall unergründlicher Fremdwörter medizinischer Art zu überschütten. Quellen verfluchte im stillen Jennifer Galubers Enzymdefizit, ihre wollüstigen Blicke, ihre Galaktolipide-Stauung und ihre wippenden Brüste. Er entfernte sich und folgte Judith durch den Raum zu der mit einem Teppich ausgelegten Vertiefung in der Mitte, wo die Zeremonie stattfinden sollte.

Judith sagte warnend: »Joe, bitte, zieh dich nicht zurück, wie du es das letztemal getan hast. Du mußt lernen, dich von Stammesreaktionen zu befreien. Betrachte die Dinge objektiv. Was macht es, ein wenig Speichel zu vermischen?«

»Nichts«, sagte er. »Nehme ich an.«

»Und Verdauungssäfte — sie können dir nicht schaden. Das dient alles der geistigen Kommunion. Du darfst die Dinge nicht auf veraltete Art betrachten.«


»Bringst du so den Nerv auf, nackt zu einer Gesellschaft zu gehen?« fragte er. »Indem du die Dinge auf nicht-veraltete Art betrachtest?«

»Ich bin nicht nackt«, sagte sie spröde.

»Nein. Du trägst einen Farbüberzug.«

»Er verbirgt, was zu verbergen uns die Gesellschaft gebietet.«

»Er läßt deine sekundären Geschlechtsmerkmale frei«, betonte Quellen. »Das ist ziemlich nackt.«

»Aber nicht die primären. Sieh selbst. Ich bin dort völlig bedeckt, halte mich also durchaus in der Norm. Warum siehst du mich nicht an? Du kannst manchmal so absurd sein, Joe.«

Da sie darauf bestand, starrte er auf ihre Taille. Seine Augen glitten bis zu ihren Oberschenkeln hinunter. Er mußte es zugeben, dort war sie züchtig bekleidet. Sie sah nackt aus, war es aber nicht. Raffiniert, dachte er. Aufreizend. Er fragte sich, wie sie das Aufsprühkleid wieder wegbekam. Vielleicht würde sie ihm auch das zeigen, bis die Nacht um war. Ihr schmaler Körper übte einen überaus starken Reiz auf ihn aus. Im Gegensatz zu Helaine, deren Schlankheit die Folge von Verfall und allgemeiner Hagerkeit war, besaß Judiths Körper in seiner biegsamen, schlanken Eleganz Vollkommenheit. Quellen wäre nur zu gern sofort mit ihr weggegangen.

Aber erst mußte die Zeremonie erduldet werden.

Die Mitglieder dieser Kommunionsgruppe versammelten sich am Rand der Vertiefung. Brose Cashdan brachte als Gastgeber eine funkelnde Metallschüssel, in der eine teigige Masse von der ungefähren Größe eines Menschenkopfes lag. Das war die Substanz des Liebesmahles, wie Quellen wußte: ein unverdauliches Algenprodukt mit Brechreiz erregenden Eigenschaften. Ohne Zweifel auf Mrs. Galubers Galaktosedefizit abgestellt.

Cashdan sagte: »Doktor Galuber hat sich freundlicherweise bereit erklärt, heute abend unser erster Zelebrant zu sein.«

Die Beleuchtung dämpfte sich. Galuber nahm von Cashdan die schimmernde Schüssel entgegen und stellte sie auf seine Knie. Dann riß er feierlich ein faustgroßes Stück des Teigs ab und stopfte es sich in den Mund. Er begann zu kauen.

Es gab viele Sekten. Es war nicht Quellens Art, irgendwo einzutreten, aber selbst er war hier und da in ihre Zeremonien hineingezogen worden, in der Hauptsache auf Judiths Drängen hin. Sie kam auf ihrer Suche nach spiritueller Erfüllung überall hin — von Freudel zu Freudel, von Sekte zu Sekte. Quellen vermutete, daß sie auch bei den verbotenen Sekten gewesen war, vielleicht sogar bei der geächteten Flammen-Bess-Religion. Er konnte sich vorstellen, wie Judith nackt tanzte — kein Aufsprühkleid mehr, um ihre Scham zu bedecken —, während ein sabbernder Pyromane einen außersinnlichen Brand erzeugte und tobende Stimmen den Umsturz der Hohen Regierung forderten. Vor einer Generation hatten Pyromanen sogar mehrere Führer Stufe Eins durch Attentate getötet. Die Sekte bestand immer noch.

Aber in der Hauptsache waren die Sekten harmloser — abstoßend, ja, aber nicht verbrecherisch. Wie diese hier, wo Wiedergekäutes auf irgendeine Weise zu einem Gefühl zwischenpersönlicher Harmonie führte. Cashdan leierte irgendeine Digestivlitanei herunter. Galuber stopfte immer noch elastischen Teig in den Mund. Wieviel konnte dieser dicke Bauch aufnehmen? Jennifer beobachtete ihren Mann voll Stolz. Der Freudel schlang weiter. Sein Gesicht war verwandelt, die Augen sahen praktisch nichts. Jennifer leuchtete. Ihr nackter Körper wirkte noch riesiger, während sie sich in der Bedeutung ihres Mannes sonnte.

Sie sangen jetzt alle. Sogar Judith. Leise, ernsthafte Laute der Spiritualität ertönten.

Sie stieß ihn an.

»Du auch«, flüsterte sie.

»Ich kenne den Text nicht.«

»Dann summ einfach mit.«

Er zuckte die Achseln. Galuber hatte fast den ganzen Teig in sich hineingeschlungen. Sein Magen mußte schmerzhaft geweitet sein. Das Zeug war wie Gummi. Das Brechmittel darin wirkte auf der Grundlage kritischer Masse; sobald man genug von dem Stoff im Bauch hatte, wurde der Peristaltikreflex ausgelöst, und das geheiligte Erbrechen begann.

Judith neben Quellen flehte, in die Reiche des Einsseins aufgenommen zu werden. Nirwana durch Kotzen, dachte Quellen kalt. Wie konnte das sein? Was mache ich hier? Der Gesang hallte von den Glaswänden wieder und betäubte ihn. In subtilem Wechselgesang kreisten Lautströme durch das Zimmer. Er konnte nicht verhindern, daß er im Rhythmus mitschwankte.

Seine Lippen bewegten sich. Er wäre eingefallen, wenn er den Text gekannt hätte. Er ertappte sich dabei, daß er wortlos summte. Cashdan, der immer noch die Leitung hatte, wurde lauter. Seine Stimme war ein schöner, starker, schwarz er Baß von großer Ausdruckskraft.

Galuber saß regungslos in der Mitte der Vertiefung. Seine Augen waren geschlossen, die Hände auf dem Bauch gefaltet. Sein Gesicht war gerötet. Er allein war inmitten dieser schwankenden, singenden Gemeinde regungslos. Quellen zwang sich dazu, abseits zu bleiben und zu beobachten. Er sah das rhythmische Schaukeln von Jennifer Galubers anstößig großen Brüsten. Er sah, wie Judiths feingeschnittenes Gesicht aus einer inneren Ekstase heraus erstrahlte. Ein geschlechtsloser junger Mann mit glatten, kastanienbraunen Haaren zuckte, als halte er ein Starkstromkabel in der Hand. Im ganzen Zimmer begann sich die rätselhafte Leidenschaft des Gemeinschaftserbrechens durchzusetzen.

Dr. Galuber begann sich zu übergeben.

Der Freudel erbrach sich mit stiller Würde. Seine dicken Lippen öffneten sich, und Teigklumpen stürzten in die Schüssel. Sein rotes Gesicht war schweißbedeckt; jede Art von rückläufiger Peristaltik erforderte Anstrengung, selbst wenn die Medulla wie hier durch die Droge im Teig betäubt war. Trotzdem erfüllte Galuber seine Funktion im Ritus vornehm. Die Schüssel war voll.

Sie wurde herumgereicht.

Hände griffen nach feuchtem Teig. Nimm und iß, nimm und iß; das ist der Leib, die wahre Substanz der Gruppe. Nimm teil am Einssein. Brose Cashdan aß. Jennifer Galuber aß. Judith ließ sich friedvoll ihren Anteil geben. Quellen entdeckte in seiner Hand eine feuchte, teigige Masse.

Nimm. Iß.

Sei objektiv. Das ist Einssein. Seine Hand hob sich zitternd zum Mund. Er spürte Judiths warmen Schenkel an dem seinen. Nimm und iß. Nimm und iß. Galuber lag ausgestreckt in der Vertiefung, außer sich vor Ekstase.

Quellen aß.

Er kaute eifrig und gestattete sich kein Zögern. Die besondere Eigenschaft der unverdaulichen Substanz bestand darin, daß sie bei Berührung mit Speichel nach Eingang in den Verdauungskanal verdaut werden konnte. Einmal schlucken genügte nicht; Galuber hatte sie für ihre Aufnahme nur vorbereitet. Quellen schluckte. Seltsamerweise wurde ihm nicht übel. Er hatte schon Ameisen, rohe Schnecken, Seepferdchen und andere exotische Delikatessen gegessen und dabei keine Aussicht auf ein spirituelles Erlebnis gehabt. Warum hier zögern?

Die anderen Kommunikanten weinten vor Freude. Auf Judiths Aufsprühkleid glänzten Tränen. Quellen stand dem Universum noch immer bejammernswert objektiv gegenüber. Er hatte an der mystischen Kommunion also doch nicht teilgenommen, trotz der pflichteifrigen Beteiligung am Ritus. Er wartete geduldig darauf, daß bei den anderen die Ekstase abflaute.

Judith flüsterte ihm zu. »Willst du die nächste Runde feiern?«

»Keineswegs.«

»Joe —«

»Bitte. Ich bin gekommen, ja? Ich nehme teil. Verlang nicht, daß ich als Star auftrete.«

»Es ist üblich, daß Fremde in der Gruppe —«

»Ich weiß. Nicht bei mir. Jemand anderer kann die Ehre haben.«

Sie sah ihn vorwurfsvoll an. Quellen begriff, daß er bei ihr versagt hatte. Der heutige Abend war eine Art Probe gewesen, und er hatte sie beinahe bestanden. Beinahe.

Brose Cashdan hatte eine zweite Menge Ritualteig gebracht. Wortlos griff Jennifer Galuber nach der Schüssel und begann sich vollzustopfen. Der Freudel, erschöpft durch seine Anstrengungen, saß zusammengesunken neben ihr und sah kaum hin. Der Ritus lief ab wie der erste. Quellen nahm teil wie vorher, ohne je wirklich beteiligt zu sein.

Hinterher kam Brose Cashdan zu Quellen und sagte leise:

»Möchten Sie bei unserer nächsten Kommunion vorangehen?«

»Bedaure«, sagte Quellen. »Ich kann wirklich nicht. Ich muß bald gehen.«

»Das tut mir leid. Wir hatten gehofft, Sie würden voll und ganz teilnehmen.« Cashdan lächelte verträumt und gab die Schüssel an eine andere Person weiter.

Quellen zerrte an Judiths Handgelenk und zog sie beiseite.

»Komm mit mir nach Hause«, flüsterte er drängend.

»Wie kannst du hier an Sex denken?«

»Du bist nicht gerade züchtig bekleidet, weißt du. Du hast zwei Kommunionen gehabt. Gehst du mit mir?«

»Nein«, sagte sie entschieden.

»Wenn ich warte, bis die nächste Kommunion vorbei ist?«

»Nein. Auch dann nicht. Du mußt die Kommunion selbst nehmen, als Zelebrant, und es ernst meinen. Sonst würde ich mich dir später nicht verbunden fühlen. Im Ernst, Joe, wie kann ich mich einem Mann hingeben, mit dem ich nichts gemein habe? Das wäre völlig mechanisch und würde uns beiden schaden.«

Ihre Nacktheit, die keine war, versetzte ihm einen Stich. Er konnte es nicht ertragen, auf ihren reizvoll schlanken Körper zu blicken. Gequält sagte er: »Tu mir das nicht an, Judith. Sei fair. Gehen wir.«

Statt einer Antwort wandte sie sich ab und schloß sich den anderen an. Die dritte Kommunion sollte beginnen. Cashdan sah einladend Quellen an, der den Kopf schüttelte und rasch das Zimmer verließ. Draußen blickte er durch die Glaswand hinein und sah Judith mit zurückgelegtem Kopf und verzückt geöffneten Lippen. Die Galubers wirkten ebenso ekstatisch. Das Bild von Jennifer Galubers fettem Körper brannte sich unauslöschlich in Quellens Gehirn ein. Er floh.

Er war bald nach Mitternacht zu Hause, aber seine Wohnung bot keinen Trost. Er mußte fort von hier. Verwegen trat er in das Statfeld und ließ sich nach Afrika schleudern.

Dort war Morgen. Ein leichter, nebelartiger Regen fiel, aber der goldene Glanz der Sonne durchbohrte den grauen Dunst.

Die Krokodile waren, wo sie immer waren. Ein Vogel kreischte. Die dichtbelaubten Äste, schwer vom Regen, sanken auf die satte, nasse, schwarze Erde herab. Quellen versuchte sich vom Frieden gefangennehmen zu lassen. Er zog die Schuhe aus und ging zum Fluß hinunter. Der Schlamm quoll schwelgerisch zwischen seinen Zehen hindurch. Ein kleines Insekt stach ihn in die Wade. Ein Frosch sprang in den Fluß und hinterließ auf dem schwarzen Wasser einen Kreis von wandernden konzentrischen Ringen. Ein Krokodil öffnete träge ein schimmerndes Auge. Die duftende, schwere Luft strömte in Quellens Lunge.

Er fand in nichts Behaglichkeit.

Dieser Ort gehörte ihm, aber er hatte ihn sich nicht verdient. Er hatte ihn gestohlen. Er konnte hier keinen wahren Frieden erleben. Hinter ihm, in Appalachia, fand er ebensowenig Ruhe. Die Welt war zu nah an ihm, er zu wenig von dieser Welt. Er dachte an Judith, sah sie, wie sie das Wiedergekäute in den Mund nahm. Sie haßt mich, dachte Quellen, oder vielleicht bemitleidet sie mich auch, aber es läuft auf eins hinaus. Sie wird mich nie wiedersehen.

Er wollte nicht in dieser schönen Umgebung bleiben, solange er in einer solchen Stimmung war.

Quellen kehrte zum Stat zurück. Er trat in das Feld und wurde über das Meer hinweg in seine Wohnung zurückgeschleudert. Er ließ den Morgen zurück und geriet in die Faust der Nacht. Er schlief schlecht.

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