David Giacomin, der im stillen den Fall Mortensen selbst überwacht hatte, entdeckte als erster, daß etwas nicht stimmte. Eine blinkende rote Lampe teilte ihm mit, daß Mortensen aus dem Bereich des Televektorfeldes Appalachia verschwunden war.
Giacomin fand sich nicht mehr zurecht. Der kritische Tag für Mortensen war der 4. Mai, und der 4. Mai kam erst in einigen Wochen. Er konnte doch nicht so früh Springer geworden sein, oder?
Doch, es war möglich, dachte Giacomin. Aber wenn es so war, weshalb wankt dann nicht das Gefüge von Zeit und Raum? Die Vergangenheit war verändert worden — oder die Aufzeichnungen stimmten nicht. Giacomin ordnete eine gründliche Untersuchung von Mortensens Verschwinden an und setzte alle Hilfsmittel der Hohen Regierung ein. Kloofman hatte Giacomin persönlich angewiesen, dafür zu sorgen, daß Mortensen nichts zustieß, und nun hatte es den Anschein, als sei ihm tatsächlich etwas zugestoßen. Giacomin sagte sich schwitzend, daß er Mortensen um jeden Preis zurückholen mußte, bevor Kloofman dahinterkam, daß er vermißt wurde.
Dann erfuhr Giacomin beinahe gleichzeitig, daß er Kloofman die Nachricht doch würde überbringen müssen.
Ein Anruf von Koll im Sekretariat Verbrechen kam, von dem kleinen Sechser mit dem Wieselgesicht, durch den Giacomin diesen Teil staatlichen Wirkens überwachte. Koll wirkte verstört, beinahe betäubt. Sein Gesicht war rot verfärbt, seine Augen sahen starr und glasig aus.
»Ich habe hier jemanden, der ein Gespräch mit Kloofman wünscht«, sagte Koll. »Stufe Sieben — nein, bald Sechs — in meiner Abteilung.«
»Er ist wahnsinnig. Kloofman würde ihn nicht empfangen, und das wissen Sie auch. Warum belästigen Sie mich damit?«
»Er sagt, er hat Mortensen entführt und möchte die Sache mit jemandem in Stufe Eins besprechen.«
Giacomin erstarrte. Seine Hände begannen hilflos zu zucken. Er bemühte sich um Beherrschung.
»Wer ist dieser Geisteskranke?«
»Quellen. Der KrimSek. Er —«
»Ja, ich kenne ihn. Wann hat er die Bitte ausgesprochen?«
»Vor zehn Minuten. Zuerst versuchte er Kloofman direkt anzurufen, aber das ging nicht. Jetzt beschreitet er den Dienstweg. Er hat mich gefragt, und ich frage Sie. Was bleibt mir anderes übrig?«
»Wohl nichts«, sagte Giacomin hohl. Sein schneller Verstand ging die Dinge durch, die man mit dem lästigen Quellen tun konnte, angefangen mit dem langsamen Ausweiden und noch Schlimmeres. Aber Quellen hatte Mortensen oder behauptete es jedenfalls. Und Kloofman hatte, was Mortensen anging, geradezu eine Psychose. Er sprach kaum von etwas anderem.
Da verflog Giacomins sorgfältig erwogener Plan, zu verhindern, daß die Nachricht von Mortensens Verschwinden zur Spitze gelangte. Er sah keine Möglichkeit mehr, das zu verhindern. Er konnte Zeit herausholen, aber am Ende würde Quellen sich durchsetzen.
»Nun?« sagte Knoll. Seine Nasenspitze bebte. »Kann ich sein Ersuchen offiziell an Sie weitergeben?«
»Ja«, sagte Giacomin. »Ich nehme Ihnen das ab. Geben Sie mir Quellen.«
Kurz danach erschien Quellen auf dem Schirm. Äußerlich sieht er normal aus, dachte Giacomin. Ein wenig erschreckt von seiner eigenen Kühnheit, ohne Zweifel, aber sonst bei Verstand. Mindestens im selben Maß wie Koll.
Aber entschlossen. Er wollte Kloofman sprechen. Ja, er habe Mortensen entführt. Nein, den Verbleib des Entführten wolle er nicht mitteilen. Überdies werde jeder Versuch, seine, Quellens, Freiheit zu beschneiden, zum sofortigen Tod von Mortensen führen.
Ein Bluff? Giacomin wagte das Risiko nicht einzugehen. Er starrte Quellen in stiller Verwunderung an und sagte: »Also gut. Sie haben gewonnen, Sie Wahnsinniger. Ich gebe Ihre Bitte um eine Audienz an Kloofman weiter. Wir werden sehen, was er sagt.«
Es war so lange her, daß Kloofman sich bereit erklärt hatte, von Angesicht zu Angesicht mit einem Angehörigen der unteren Klassen zu sprechen, daß er beinahe vergessen hatte, wie das war. Zu seinem Gefolge gehörten natürlich ein paar Dreier, Vierer und sogar Fünfer, aber sie sprachen nicht mit ihm. Sie hätten ebensogut Roboter sein können. Kloofman duldete von solchen Leuten keine Ansprache. Hoch auf dem einsamen Gipfel von Stufe Eins, hatte der Weltführer sich von der Berührung mit den Massen abgetrennt.
Er wartete deshalb mit einiger Neugier auf das Erscheinen dieses Quellen. Ärger, natürlich; er war an Zwänge nicht gewöhnt. Zorn. Gereiztheit. Trotzdem war Kloofman aber auch belustigt. Das Vergnügen der Verwundbarkeit war ihm viele Jahre versagt geblieben. Er konnte dieser unerwarteten Krise im leichten Tonfall begegnen.
Außerdem hatte er Angst. Soviel die Televektor-Leute zu sagen vermochten, hatte Quellen Mortensen wirklich in den Händen. Das war unangenehm. Eine direkte Bedrohung von Kloofmans Macht. Über solche Dinge konnte er nicht lachen.
Die Schädelsonde murmelte Kloofman zu: »Quellen ist hier.«
»Herein mit ihm.«
Die Wand rollte zur Seite. Ein schlanker, hager aussehender Mann kam linkisch herein und blieb plattfüßig vor dem riesigen Pneumonetz stehen, in dem Kloofman lag. Zwischen Kloofman und Quellen stand ein dünner, fast unsichtbarer Nebel, eine Attentats-Abschirmung vom Boden bis zur Decke. Jedes Partikel fester Materie, das hindurch wollte, würde auf der Stelle verflüchtigt werden, gleichgültig von welcher Masse oder Beschleunigung es war. Als zusätzliche Vorsichtsmaßnahme war Kloofman von Robotwächtern flankiert. Kloofman wartete geduldig. Die künstlichen Systeme in seinem rekonstruierten Körper summten gleichmäßig, pumpten Blut durch die Gefäße, umspülten das innere Gewebe mit Lymphflüssigkeit. Er sah, daß Quellen sich in seiner Gegenwart unbehaglich fühlte. Das wunderte ihn nicht.
Nach einiger Zeit sagte Kloofman: »Sie haben Ihren Wunsch durchgesetzt. Hier bin ich. Was wollen Sie?«
Quellen bewegte die Lippen, aber es dauerte einige Sekunden, bis er einen Ton herausbrachte.
»Wissen Sie, was ich denke?« stieß er hervor. »Ich bin froh, daß es Sie gibt. Das denke ich. Es ist eine Erleichterung, zu wissen, daß Sie echt sind.«
Kloofman brachte ein Lächeln zustande.
»Woher wissen Sie, daß ich echt bin?«
»Weil —« Quellen verstummte. »Also gut. Ich nehme das zurück. Ich hoffe, Sie sind echt.« Seine Hände am Körper zitterten. Kloofman beobachtete, wie der Mann sich erkennbar anstrengte, sich zusammenzunehmen — eine Bemühung, die wenigstens äußerlich erfolgreich zu sein schien.
»Sind Sie der Mann, der Mortensen entführt hat?«
»Ja.«
»Wo ist er?«
»Das kann ich nicht preisgeben, Sir. Noch nicht. Ich muß Ihnen zuerst einen Handel vorschlagen.«
»Einen Handel mit mir?« Kloofman lachte leise in sich hinein. »Sie sind in Ihrer Frechheit unglaublich«, sagte er mild. »Ist Ihnen nicht klar, was ich mit Ihnen machen kann?«
»Doch.«
»Und trotzdem kommen Sie her und wollen mit mir handeln?«
»Ich habe Mortensen«, erinnerte ihn Quellen. »Wenn ich ihn nicht freilasse, kann er am 4. Mai nicht springen. Und das bedeutet —«
»Ja«, sagte Kloofman scharf. Er spürte, wie in seinem Körper der Spannungspegel stieg. Dieser Mann hatte tatsächlich seine verwundbare Stelle gefunden. Es war lächerlich, daß ein Prolet ihn in Schach hielt, aber so war es nun einmal. Kloofman konnte kein Risiko eingehen bei einem Mann, der drohte, die Vergangenheit umzustürzen. Keine Computersimulation konnte auch nur von weitem die Wirkungen berechnen, die entstehen würden, wenn man den Springer Donald Mortensen aus seiner Zielzeit herausnahm. Der Weltführer war hilflos. Kloofman sagte: »Sie spielen ein gefährliches Spiel, Quellen. Sagen Sie, was Sie wollen. Dann werden Sie beseitigt, und der Ort, wo Mortensen sich befindet, wird aus Ihrem Gehirn herausgeholt.«
»Mortensen ist darauf programmiert, zu sterben, sobald in mein Gehirn eingegriffen wird«, erklärte Quellen.
Kann das wahr sein? fragte sich Kloofman. Oder ist das Ganze ein Riesenbluff?
»Was wollen Sie?«
Quellen nickte. Er schien an Haltung und Kraft zu gewinnen, so, als sei er dahintergekommen, daß Kloofman kein Übermensch war, sondern nur ein sehr alter Mann mit großer Macht.
»Ich bin mit der Aufklärung der Zeitreisen beauftragt worden«, sagte Quellen. »Es ist mir gelungen, den Mann zu finden, der das Unternehmen betreibt. Er ist in Gewahrsam. Leider besitzt er Informationen, die mich mit einer illegalen Tat belasten.«
»Sind Sie ein Verbrecher, Quellen?«
»Ich habe etwas Illegales getan. Das könnte mir Degradierung und Schlimmeres eintragen. Wenn ich den Mann Ihren Leuten übergebe, wird er mich bloßstellen. Deshalb verlange ich Straffreiheit. Das ist die Abmachung. Ich gebe Ihnen den Mann, und er wird meine Tat ausplaudern, aber Sie werden mich in meiner Stellung bestätigen und dafür sorgen, daß ich nicht verfolgt oder degradiert werde.«
»Was haben Sie getan, Quellen?«
»Ich besitze eine Villa Klasse Zwei in Afrika.«
Kloofman lächelte.
»Sie sind wirklich ein Schurke, nicht?« meinte er ohne Groll. »Sie schwingen sich über Ihre Stufe auf, Sie erpressen die Hohe Regierung —«
»Im Grunde halte ich mich für einigermaßen anständig, Sir.«
»Das mag schon sein. Aber ein Halunke sind Sie trotzdem. Wissen Sie, was ich mit einem gefährlichen Mann wie Ihnen tun würde, wenn ich die Wahl hätte? Ich würde Sie in die Zeitmaschine stecken und weit in die Vergangenheit schleudern. Das ist der sicherste Weg, um mit Agitatoren fertigzuwerden. So werden wir es auch machen, sobald wir —« Kloofman verstummte. Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: »Ihre Kühnheit bringt mich aus der Fassung. Was ist, wenn ich Sie anlüge? Ich sichere Ihnen Straffreiheit zu, Sie übergeben mir Mortensen und den Vokaten mit der Zeitmaschine, dann lasse ich Sie trotzdem festnehmen.«
»Ich habe noch zwei andere registrierte Springer versteckt«, sagte Quellen ungerührt. »Einer soll später in diesem Jahr, der andere Anfang nächsten Jahres springen. Sie sind meine Rückversicherung dafür, daß Sie mich ungeschoren lassen, sobald ich Mortensen zurückgegeben habe.«
»Sie bluffen, Quellen. Sie haben die beiden anderen Springer eben erfunden. Ich stecke Sie unter eine Hirnsonde und prüfe das nach.«
»Wenn die Sonde mein Gehirn berührt, stirbt Mortensen«, sagte Quellen.
Kloofman verspürte ungewohnte Pein. Er war überzeugt davon, daß dieser ärgerliche Prolet einen Bluff auf den anderen häufte — aber das war nicht nachzuweisen, wenn man nicht in sein Gehirn eindrang, und Bluff Nummer Eins sorgte dafür, daß das für Kloofman zu gefährlich war. Es mochte nicht nur ein Bluff sein.
»Was wollen Sie wirklich, Quellen?« fragte er.
»Das sagte ich schon. Eine Zusicherung der Straffreiheit, vor Zeugen. Ich verlange die Garantie, daß ich nicht bestraft werde, weil ich das Haus in Afrika hatte, und daß mir nichts passiert, weil ich so zu Ihnen vorgedrungen bin. Dann gebe ich Ihnen den Vokaten und Mortensen.«
»Und die beiden anderen Springer?«
»Auch die. Nachdem ich mir Ihres guten Willens sicher bin.«
»Sie sind unglaublich, Quellen. Aber Sie scheinen in einer sehr starken Position zu sein. Ich kann nicht zulassen, daß Sie Mortensen behalten. Und ich will diese Zeitmaschine. Sie ist für uns vielseitig verwendbar. Gewinnbringend. Politisch zweckmäßig. Zu gefährlich, als daß sie in privaten Händen bleiben dürfte. Also gut. Also gut. Die Zusicherung haben Sie. Ich gebe Ihnen sogar noch mehr, Quellen.«
»Mehr, Sir?«
»Ihre Villa ist Stufe Zwei, sagten Sie? Ich nehme an, Sie wollen weiter darin wohnen. Wir werden Sie also auf Stufe Zwei befördern müssen, nicht?«
»Mich in die Hohe Regierung aufnehmen, Sir?«
»Gewiß«, sagte Kloofman herzlich. »Bedenken Sie: Wie kann ich Sie auf niedere Ränge zurückschicken, nachdem Sie so über mich triumphiert haben? Sie haben an Rang gewonnen. Ich setze Sie hier herauf. Giacomin wird einen Platz für Sie finden. Ein Mann, der getan hat, was Sie taten, Quellen, kann nicht auf einem niederen Bürokratenposten bleiben. Wir werden das schon einrichten. Sie haben mehr erreicht, als Ihre Absicht war.« Kloofman lächelte. »Ich beglückwünsche Sie, Quellen.«
Quellen platzte an die Luft hinaus, nachdem er Etage um Etage in der legendären Katakombe hinaufgestiegen war, in der Peter Kloofman hauste. Er wankte hinaus auf die Straße und stellte sich fest auf die Füße, den Blick auf die Riesentürme über ihm gerichtet. Er sah die Träger der Verbindungsbrücken, die funkelnden Kegel auf den Gebäuden, das schwach leuchtende Blau hinter den Gipfeln.
Ich habe nicht viel Zeit, dachte Quellen.
Er war nach dem Gespräch mit Kloofman vor Schreck betäubt. Im Rückblick vermochte er sich nicht mehr vorzustellen, wie ihm ein solches Unternehmen gelungen sein konnte. Ins innerste Heiligtum eines Mannes auf Stufe Eins einzudringen, dort rundheraus Forderungen zu stellen und Kloofman zur Einwilligung zu zwingen, Betrug auf Betrug zu häufen und mit seinem Bluff durchzukommen — das war nicht wirklich wahr. Es konnte nicht wahr sein. Das mußte ein Tagtraum in einem Schnüffellokal sein, ein Traum von der Macht, der verblassen würde, sobald die Drogenwirkung nachließ.
Aber die Gebäude waren wirklich. Der Himmel war wirklich. Die Straßen waren wirklich. Und das Gespräch mit Kloofman war auch wirklich gewesen. Er hatte gewonnen. Er war eingeladen worden, sich auf Stufe Zwei befördern zu lassen. Er hatte Kloofman zum Rückzug gezwungen.
Quellen wußte, daß er gar nichts gewonnen hatte.
Er hatte sein kühnes Manöver mit einiger Selbstsicherheit ausgeführt, aber es war ein törichtes Manöver gewesen, das sah er jetzt deutlicher als noch vor einer Stunde. Jeder durfte stolz darauf sein, den Nerv besessen zu haben, sich mit Kloofman auf diese Weise anzulegen, aber nun, da es geschehen war, wußte Quellen, daß er keine wirkliche Sicherheit gewonnen hatte, nur eine zeitweilige Illusion des Triumphes. Es würde notwendig sein, den Ersatzplan in die Tat umzusetzen, den er seit einigen Stunden mit sich herumtrug. Sein Verstand hatte sich auf diese Eventualität vorbereitet, und er wußte, was er zu tun hatte, obwohl er durchaus nicht sicher war, daß ihm die Zeit dazu bleiben würde.
Er schwebte in Todesgefahr. Er mußte schnell handeln.
Kloofman hatte ihn nicht getäuscht mit seinem Lächeln, seinen Lobesworten, seinem Versprechen, ihn auf die Ebene der Hohen Regierung zu hieven, seiner scheinbaren Freude an Quellens Kühnheit. Kloofman fürchtete, Mortensen könnte etwas zustoßen, das seine eigene Macht zerstören würde, ja, aber Kloofman schien nicht so leicht nach der Pfeife eines anderen zu tanzen, wie es den Anschein hatte.
Er wird Lanoy und Mortensen von mir übernehmen und mich dann vernichten, dachte Quellen. Das hätte mir von Anfang an klar sein müssen. Wie konnte ich hoffen, Kloofman übertölpeln zu können?
Aber er bedauerte es nicht, den Versuch unternommen zu haben. Ein Mann ist kein Wurm; er kann sich auf die Hinterbeine stellen, er kann um seine Position kämpfen. Er kann es versuchen. Quellen hatte es versucht. Er hatte etwas so Törichtes getan, daß es beinahe absurd war, und es in Ehren abgewickelt, auch wenn der Erfolg wohl nur ein scheinbarer war.
Aber jetzt mußte er sich beeilen, um gegen Kloofmans Zorn geschützt zu sein. Er hatte immerhin ein wenig Zeit, die genützt werden konnte. Die Euphorie seiner Begegnung mit Kloofman war verflogen, er dachte wieder klar und logisch.
Er erreichte das Sekretariat Verbrechen und erteilte sofort Anweisung, Lanoy wieder aus dem Gewahrsamstank zu holen. Man brachte den Mann in Quellens Büro. Er wirkte bedrückt und niedergeschlagen.
»Das wird Ihnen noch leid tun, Quellen«, sagte Lanoy bitter. »Ich habe keine Witze gemacht, als ich sagte, Brogg hätte alle seine Anzeiger auf mich umgestellt. Ich kann die Nachricht von Ihrem Haus in Afrika der Hohen Regierung innerhalb von —«
»Sie brauchen mich nicht zu denunzieren«, sagte Quellen. »Ich lasse Sie gehen.«
Lanoy war entgeistert.
»Aber Sie sagten doch —«
»Das war vorher. Ich lasse Sie frei und lösche von den Aufzeichnungen über Sie, was ich kann.«
»Sie haben also doch nachgegeben, wie? Sie haben begriffen, daß Sie das Risiko, ich würde Sie bloßstellen, nicht eingehen können?«
»Im Gegenteil, ich habe nicht nachgegeben. Ich habe selbst der Hohen Regierung von meinem Haus in Afrika erzählt. Ich habe Kloofman persönlich die Wahrheit gesagt. Es hat keinen Sinn, lange mit Untergebenen zu reden. Ihre Geräte werden also nichts mitteilen, was nicht schon bekannt wäre.«
»Sie können nicht verlangen, daß ich das glaube, Quellen.«
»Es ist aber die Wahrheit. Und deshalb hat sich der Preis dafür, daß ich Sie freilasse, geändert. Es geht nicht mehr um Ihr Stillschweigen, sondern um Ihre Dienste.«
Lanoys Augen weiteten sich.
»Was haben Sie gemacht?«
»Allerhand. Aber wir haben keine Zeit dafür. Ich bringe Sie sicher aus diesem Gebäude. Zu Ihrem Labor müssen Sie auf eigene Faust zurück. Ich komme in ungefähr einer Stunde nach.« Quellen schüttelte den Kopf. »Nicht, daß ich glaube, Sie würden lange frei herumlaufen, Lanoy. Kloofman giert nach Ihrer Maschine. Er will damit politische Sträflinge fortschicken. Und die Einnahmen steigern. Sein Arbeitslosenproblem löst er, indem er die Proleten bis 500000 vor Christus zurückschickt und sie von Tigern fressen läßt. Man wird Sie wieder festnehmen, davon bin ich überzeugt. Aber wenigstens habe ich damit nichts zu tun.« Er begleitete Lanoy aus dem Gebäude. Der kleine Vokat warf Quellen einen verständnislosen Blick zu, als er zur Schnellboot-Rampe huschte.
»Wir sehen uns bald«, sagte Quellen.
Er bestieg ebenfalls ein Schnellboot und fuhr zu seiner Wohnung, um eine letzte Aufgabe zu erledigen. Hatte Kloofman schon Schritte gegen ihn unternommen? Ohne Zweifel. In den Räumen der Hohen Regierung würden Notsitzungen stattfinden. Es würde aber nicht mehr lange dauern, dann war Quellen in Sicherheit.
Er begriff inzwischen vieles. Etwa, weshalb Kloofman die Zeitmaschine unbedingt haben wollte: als ein Werkzeug, um seine Macht über die Welt auszudehnen. Skrupellos war das. Und ich hätte ihm beinahe geholfen, sie zu bekommen.
Quellen begriff auch, weshalb die registrierten Springer alle aus der Zeit zwischen 2486 und 2491 gekommen waren. Das hieß nicht, daß der rückwärts fließende Strom nächstes Jahr abgeschnitten wurde, wie er angenommen hatte. Es bedeutete lediglich, daß die Kontrolle über die Maschine von Lanoy an Kloofman überging und alle nach 2491 fortgeschickten Springer durch das neue Verfahren mit größerer Reichweite so weit zurückgeschleudert wurden, daß sie keinerlei Bedrohung mehr für Kloofmans Regime sein konnten. Und natürlich in keinen Geschichtsdokumenten mehr auftauchten. Quellen war entsetzt. Er wollte nichts mit einer Welt zu tun haben, in der die Regierung eine solche Macht besaß.
Er betrat seine Wohnung und schaltete das Statgerät ein. Das Leuchten der Thetakraft hüllte ihn ein. Quellen trat hindurch und kam in seinem Haus in Afrika heraus.
»Mortensen?« rief er. »Wo sind Sie?«
»Hier unten!«
Quellen schaute über die Veranda hinunter. Mortensen angelte. Er war nackt bis zu den Hüften, die blasse Haut war halb rot, halb gebräunt. Er winkte Quellen freundlich zu.
»Kommen Sie«, sagte Quellen. »Sie gehen nach Hause.«
»Ich bleibe lieber, danke. Mir gefällt es hier.«
»Unsinn. Sie sind vorgesehen zum Springen.«
»Warum springen, wenn ich hier sein kann?« fragte Mortensen vernünftig. »Ich verstehe nicht, warum Sie mich hergebracht haben, aber ich habe keine Lust mehr, wegzugehen.«
Quellen hatte keine Zeit für Diskussionen. Es paßte nicht in seinen Plan, Mortensen an seinem Sprung am 4. Mai zu hindern. Quellen hatte kein persönliches Interesse daran, die dokumentierte Vergangenheit auf den Kopf zu stellen, und Mortensens Wert als Geisel würde sehr bald gleich Null sein. Es war denkbar, daß Mortensens Versäumnis, planmäßig zu springen, den Fortbestand von Quellens eigener Existenz gefährdete, falls er zufällig ein später Nachkomme des Mortensen in der Vergangenheit war. Warum das Risiko eingehen? Mortensen mußte springen.
»Kommen Sie«, sagte Quellen.
»Nein.«
Quellen stieg seufzend hinunter und setzte den Mann wieder unter Narkose. Er schleppte den erschlafften Mortensen ins Haus, stieß ihn durch das Stat und folgte ihm. Mortensen lag ausgestreckt am Boden von Quellens Kleinwohnung. Nach kurzer Zeit würde er erwachen und zu begreifen versuchen, was ihm alles zugestoßen war. Vielleicht würde er auch versuchen, nach Afrika zurückzukehren. Aber bis dahin würde er schon auf dem Televektorfeld von Appalachia aufgetaucht sein, und Kloofmans Leute würden ihn holen. Kloofman würde dafür sorgen, daß Mortensen zum richtigen Zeitpunkt sprang.
Quellen verließ die Wohnung zum letztenmal. Er stieg die Flugrampe hinauf und wartete auf das Schnellboot. Er kannte dank Brogg den Weg zu Lanoys Hütte.
Er hätte lieber über Kloofman triumphiert, als diesen Weg zu gehen, aber er hatte in einer Falle gesessen, und dann mußte man den vernünftigen Weg zur Freiheit suchen, nicht den ruhmreichsten. Die Entscheidung war natürlich ironisch genug: Der Mann, der den Auftrag hatte, die Springersache zu klären, wurde selbst ein Springer. Trotzdem bestand hier eine gewisse Unausweichlichkeit, wie Quellen erkannte, schon von Anfang an. Sie hatte ihn dazu gezwungen, wie Norm Pomrath und Brogg und andere zu handeln. Er hatte seinen Sprung an dem Tag begonnen, an dem er seine afrikanische Zuflucht erworben hatte. Nun tat er nur den logischen letzten Schritt.
Bis Quellen ankam, war es später Nachmittag. Die Sonne sank zum Horizont hinab, auf dem verseuchten See tanzten Farben. Lanoy erwartete ihn.
»Alles ist bereit, Quellen«, sagte er.
»Gut. Kann ich mich darauf verlassen, daß Sie ehrlich sind?«
»Sie haben mich freigelassen, oder? Sogar unter uns gibt es Ehrlichkeit«, erwiderte Lanoy. »Sind Sie ganz sicher, daß Sie das tun wollen?«
»Eindeutig. Ich kann nicht hierbleiben. Für Kloofman bin ich jetzt verhaßt. Ich habe ihm zehn peinliche Minuten bereitet, und dafür läßt er mich bezahlen, falls er mich je erwischt. Aber er wird mich nicht erwischen. Dank Ihnen.«
»Kommen Sie rein«, sagte Lanoy. »Verdammt noch mal, ich hätte nie gedacht, daß ich Ihnen einmal so behilflich sein würde.«
»Wenn Sie klug sind, nehmen Sie denselben Weg«, meinte Quellen. »Kloofman wird Sie früher oder später erwischen. Das ist nicht zu umgehen.«
»Ich gehe das Risiko ein, Quellen.« Lanoy lächelte. »Wenn die Zeit kommt, sehe ich Kloofman in die Augen, vielleicht kann ich einen Handel abschließen. Kommen Sie. Die Maschine wartet.«