Helaine Pomrath sagte: »Norm, wer ist Lanoy?«
»Wer?«
»Lanoy. L-A-N-«
»Wo hast du den Namen gehört?«
Sie zeigte ihm den Minizettel und beobachtete scharf sein Gesicht. Seine Augen zuckten. Er war aus dem Gleichgewicht.
»Das habe ich gestern abend in deiner Tunika gefunden«, sagte sie. »›Arbeitslos? Zu Lanoy‹, steht da. Ich habe mir nur überlegt, wer das sein und was er für dich tun kann.«
»Er — äh — betreibt eine Art Stellenvermittlung, glaube ich. Ich weiß es nicht genau.« Pomrath wirkte zutiefst verlegen. »Jemand hat mir das zugesteckt, als ich das Schnüffellokal verließ.«
»Was soll das nützen, wenn keine Adresse draufsteht?«
»Man soll den Dingen wohl nachgehen«, meinte Pomrath. »Suchen, sich als Detektiv bestätigen, ich weiß nicht. Um ehrlich zu sein, ich hatte das schon ganz vergessen. Gib her.«
Sie gab ihm den Streifen. Er steckte ihn rasch in die Tasche. Helaine gefiel es nicht, mit welcher Schnelligkeit er das belastende Schriftstück wegräumte. Sie hatte zwar nicht einmal entfernt eine Ahnung, was es bedeutete, aber es fiel ihr nicht schwer, Schuldbewußtsein und Verlegenheit ihres Mannes zu erkennen.
Vielleicht hat er sich eine Überraschung für mich ausgedacht, sagte sie sich. Vielleicht ist er schon bei diesem Lanoy gewesen und hat etwas unternommen, um Arbeit zu bekommen, wollte es mir aber erst nächste Woche sagen, wenn wir unseren Hochzeitstag haben.
Und ich habe es ihm durch meine Fragen verdorben. Ich hätte es eine Weile auf sich beruhen lassen sollen.
Ihr Sohn Joseph trat splitternackt von der Bodenplatte des Molekularbades. Seine Schwester, ebenso nackt, stieg hinauf. Helaine beschäftigte sich damit, das Frühstück zu programmieren.
»Wir lernen heute in der Schule Geographie«, sagte Joseph.
»Wie schön«, meinte Helaine zerstreut.
»Wo ist Afrika?« fragte der Junge.
»Weit weg. Irgendwo auf der anderen Seite des Ozeans.«
»Kann ich nach Afrika gehen, wenn ich groß bin?« fragte Joseph.
Von der Dusche her ertönte ein schrilles Kichern. Marina fuhr herum und sagte: »Afrika, da leben die Zweier! Wirst du ein Zweier sein, Jo-Jo?«
Der Junge starrte seine Schwester finster an.
»Vielleicht. Vielleicht sogar ein Einer. Woher willst du das wissen? Du wirst gar nichts. Ich habe schon was, das du nicht hast.«
Marina streckte ihm die Zunge heraus. Trotzdem drehte sie sich herum und versteckte ihren unentwickelten neunjährigen Körper vor seinen bohrenden Augen. Aus seiner Ecke des Zimmers schaute Pomrath zum Fakband des Morgens hinauf und brummte: »Hört auf damit! Jo-Jo, zieh dich an! Marina, du duschst dich fertig!«
»Ich hab’ nur gesagt, daß ich nach Afrika will«, murmelte der Junge.
»Widersprich deinem Vater nicht«, sagte Helaine. »Außerdem ist das Frühstück fertig. Zieht euch an.« Sie seufzte. Ihr Kopf fühlte sich an, als hätte jemand zermahlenes Glas hineingeschüttet. Die Kinder dauernd im Zank. Norm in der Ecke wie ein Gast bei der eigenen Totenwache. In der Wäsche rätselhafte Minizettel. Vier fensterlose Wände, die sie einsperrten — nein, es war zuviel. Sie begriff nicht, wie sie das ertragen sollte. Essen, schlafen, baden, lieben, alles in einem einzigen kleinen Zimmer. Tausende von verdreckten Nachbarn im selben Sumpf. Picknick einmal im Jahr, mit Stat in eine ferne Gegend, wo noch nicht alles zugebaut war — Brot und Spiele, damit die Proleten zufrieden sind. Aber es tat weh, einen Baum zu sehen und dann nach Appalachia zurückzukommen. Es ist wirklich qualvoll, dachte Helaine elend. Das war nicht zu erwarten gewesen, als sie Norm Pomrath geheiratet hatte. Er war voller Pläne gewesen.
Die Kinder aßen und gingen zur Schule. Norm blieb, wo er war, und drehte das Fakband mit den kurzen Fingern hin und her. Ab und zu machte Norm Helaine mit einer Nachricht bekannt. »Danton weiht nächsten Dienstag in Pacifica ein neues Krankenhaus ein. Völlig automatisch, ein großer Homöostat und überhaupt keine Techniker. Ist das nicht schön? Die Kosten für den Staat sinken, wenn keine Angestellten gebraucht werden. Und jetzt noch etwas Gutes: Ab ersten Mai werden die Sauerstoffmengen in allen gewerblichen Gebäuden um zehn Prozent herabgesetzt. Damit zusätzliche Mengen für die Privatwohnungen frei werden, heißt es. Du erinnerst dich, Helaine, als im August auch die Haushaltsmengen gekürzt worden sind. Es wird immer weniger. Wenn es schon soweit ist, daß sie die Luft rationieren —«
»Norm, reg dich nicht auf.«
Er beachtete sie nicht.
»Wie ist das alles soweit gekommen mit uns? Wir haben ein Anrecht auf etwas Besseres. Vier Millionen Menschen auf den Quadratmeter, das blüht uns noch. Die Häuser tausend Stockwerke hoch, damit jeder Platz hat, und es dauert einen Monat, bis man zur Straße hinunterkommt oder an eine Schnellbootrampe, aber was macht das schon? Das ist der Fortschritt. Und —«
»Glaubst du, du kannst diesen Lanoy finden und durch ihn Arbeit bekommen?« fragte sie.
»Was wir brauchen«, fuhr er fort, »ist eine erstklassige Erregerseuche. Selektiv, versteht sich. Weg mit allen, denen es an nutzbaren Berufskenntnissen fehlt. Damit wird die Alu-Liste am Tag schon um ein paar Milliarden Einheiten erleichtert. Das Steueraufkommen für Arbeitsbeschaffungsprogramme bei den übrigen aufwenden. Wenn das nicht klappt, einen Krieg anfangen. Außerirdische Feinde, die Krebsgeschöpfe vom Krebsnebel, alles für Patriotismus. Einen Krieg anfangen, der verlorengeht. Kanonenfutter.«
Er schnappt über, dachte Helaine, als ihr Mann weitersprach. In der letzten Zeit war das ein endloser Monolog, eine rauschende Fontäne der Bitterkeit. Sie versuchte nicht zuzuhören. Da er keine Anstalten machte, die Wohnung zu verlassen, tat sie es. Sie warf das Geschirr in den Schlucker und sagte: »Ich besuche die Nachbarn.« Sie verließ den Raum, als er die Vorzüge des beherrschten Atomkriegs zum Zweck der Bevölkerungseindämmung aufführte. Willkürliche Lautstöße, das war alles, was Norm Pomrath seit einiger Zeit nur noch hervorbrachte. Er mußte sich selbst reden hören, um nicht zu vergessen, daß es ihn noch gab.
Wohin soll ich gehen? fragte sich Helaine.
Beth Wisnack, verwitwet durch ihren zeitspringenden Ehemann, wirkte heute kleiner, grauer, trauriger als bei Helaines letztem Besuch. Beths Mund war in niedergehaltenem Zorn straff gespannt. Hinter dem Ausdruck weiblicher Resignation verbarg sich grenzenlose Wut: Wie kann er es wagen, mir das anzutun, wie konnte er mich so im Stich lassen?
Höflich bot Beth ihrem Gast ein Alkoholröhrchen an. Helaine lächelte liebenswürdig, griff nach dem roten Plastikröhrchen mit den stumpfen Enden und stieß es an die Haut des Oberarms. Beth tat dasselbe. Die Ultraschalldüsen surrten; der anregende Stoff spritzte in ihre Blutbahn. Ein müheloser Schwips für diejenigen, denen der moderne Alkohol nicht schmeckte. Helaine klapperte mit den Wimpern und wurde ruhig. Sie hörte sich eine Weile Beths Klagelied an.
Dann sagte Helaine: »Beth, kennst du einen Lanoy?«
Beth horchte sofort auf.
»Welcher Lanoy? Was für ein Lanoy? Wo hast du von ihm gehört? Was weißt du von ihm?«
»Nicht viel. Deshalb frage ich dich.«
»Ich habe den Namen gehört, ja.« Ihre wasserhellen Augen wirkten erregt. »Bud hat ihn erwähnt. Ich hörte ihn mit einem anderen Mann reden, Lanoy hin und Lanoy her… Das war in der Woche, bevor er mir davongelaufen ist. Lanoy, sagte er. Lanoy wird das einrichten.«
Helaine griff nach einem zweiten Alkoholröhrchen, ohne auf die Einladung zu warten. In ihr breitete sich plötzlich Eiseskälte aus, die bekämpft werden mußte.
»Lanoy wird was einrichten?« fragte sie.
Beth Wisnack sackte erschöpft zusammen.
»Ich weiß nicht. Bud hat mit mir nie etwas besprochen. Aber ich habe ihn auf jeden Fall von diesem Lanoy reden hören. Da wurde viel gewispert. Kurz bevor er ging, sprach er nur von Lanoy. Ich habe da meine Meinung zu Lanoy. Willst du sie wissen?«
»Natürlich.«
Lächelnd sagte Beth: »Ich glaube, Lanoy ist der Mann, der das mit den Springern betreibt.«
Helaine hatte das auch vermutet. Aber sie war hergekommen, um das Gegenteil zu erfahren, nicht, um ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt zu hören. Verkrampft, die Hände ein wenig zitternd, strich sie über ihre Tunika, verlagerte das Gewicht und sagte: »Meinst du wirklich? Hast du irgendeinen Grund, das anzunehmen?«
»Bud sprach die ganze Woche nur von Lanoy. Dann verschwand er. Er heckte etwas aus, und das hing mit Lanoy zusammen. Ich soll wissen, was? Aber ich habe meine Meinung. Bud hat diesen Lanoy irgendwo getroffen. Sie wurden sich einig. Und — und —« Qual und Zorn quollen an die Oberfläche. »Und Bud ist gegangen«, sagte Beth Wisnack gepreßt. Sie drückte wieder ein Röhrchen auf den Arm. Dann sagte sie: »Warum fragst du?«
»Ich habe in Normans Kleidung einen Streifen gefunden«, sagte Helaine. »Eine Art Werbung. ›Arbeitslos? Zu Lanoy.‹ Ich habe Norman danach gefragt. Er wurde sehr verlegen, nahm mir den Zettel weg, versuchte mir einzureden, das sei eine Stellenvermittlung oder dergleichen. Ich konnte sehen, daß er log. Etwas verbarg. Das Dumme ist nur, ich weiß nicht, was.«
»Da fängst du besser an, dir schwere Sorgen zu machen, Helaine.«
»Du glaubst, es ist schlimm?«
»Ich glaube, es ist dasselbe wie bei Bud. Norm ist in Verbindung mit ihnen. Wahrscheinlich versucht er gerade, das Geld aufzubringen. Und sie schicken ihn fort. Peng! Kein Mann mehr. Witwe Pomrath. Zwei Kinder, sieh, wie du zurechtkommst.«
Beth Wisnacks Augen glitzerten sonderbar. Sie wirkte bei der Möglichkeit, daß Helaines Ehemann Springer werden mochte, nicht unglücklich. Es war das Elend, das Genossen sucht, wie Helaine wußte. Mochten alle Ehemänner auf der Welt im Schlund der Vergangenheit verschwinden, und Beth Wisnack würde vielleicht ein wenig Freude empfinden.
Helaine bemühte sich, ruhig zu bleiben.
»Hast du bei der Polizei Lanoys Namen erwähnt, als sie Buds Verschwinden untersuchte?« fragte sie.
»Ich habe ihn erwähnt, ja. Sie wollten wissen, ob Bud neue Leute getroffen hätte, bevor er verschwand, und ich sagte, das wüßte ich nicht, aber er hätte ein paarmal diesen Lanoy erwähnt, den ich nicht kenne. Sie schrieben es auf. Ich weiß nicht, was sie unternommen haben. Das bringt Bud nicht zurück. Man kann in der Zeit nur in einer Richtung gehen, weißt du. Rückwärts. Es gibt hinter uns keine Maschinen, um die Leute wieder vorwärts zu schicken, und außerdem geht das gar nicht, soviel ich weiß. Wenn du zurückgehst, sitzt du fest. Wenn Norm also geht —«
»Er geht nicht«, sagte Helaine.
»Er sucht doch nach Lanoy, oder?« meinte Beth.
»Alles, was er hatte, war der Streifen. Da stand nicht einmal eine Adresse. Er sagte, er wüßte nicht, wo Lanoy zu finden sei. Und wir wissen auch gar nicht, ob Lanoy mit den Springern etwas zu tun hat.«
Beths Augen funkelten.
»Lanoys Leute sind mit ihm in Verbindung«, sagte sie. »Das heißt, sie können ihn jederzeit erreichen. Und er sie. Und sie werden ihn fortschicken. Er wird Springer werden, Helaine. Er muß.«
Ein Schnellboot brachte sie zu dem auffälligen Wolkenkratzer, der das Sekretariat Verbrechen beherbergte. Beharrlichkeit am Empfang erbrachte Helaine die Erkenntnis, daß ihr Bruder heute im Büro war und sie vielleicht empfangen würde, wenn sie bereit sei, eine Weile zu warten. Sie erbat einen Termin bei ihm. Die Maschine verlangte ihren Daumenabdruck. Sie gab ihn und setzte sich dann in ein mit düster rotem Stoff ausgekleidetes Vorzimmer und wartete.
Helaine war es nicht gewöhnt, sich in die Welt von Bürogebäuden und wandelnden Servomechanismen hinauszuwagen. Sie blieb in der Nähe ihrer Wohnung und kaufte über Fernbedienung ein. Die Innenstadt — die Welt am Ende der Schnellbootstrecken — war für sie erschreckend. Sie zwang sich, ruhig zu bleiben. In einer so ernsten Angelegenheit mußte sie ihrem Bruder am Schreibtisch direkt gegenübersitzen, damit er ihr nicht mit einer Schalterdrehung entwischen konnte. Sie war außer sich vor Angst.
»Der KrimSek hat jetzt Zeit für Sie«, erklärte ihr eine tonlose, unpersönliche Vocoderstimme.
Sie wurde zu ihrem Bruder geführt. Quellen stand auf, ließ ein kurzes, unbehagliches Lächeln aufblitzen und winkte sie zu einem Sessel. Der Stuhl packte sie und begann ihre Rückenmuskeln zu kneten. Helaine zuckte erschrocken weg, als die unsichtbaren Hände im Sessel sich über ihre Oberschenkel und das Gesäß hermachten. Die Rückkopplungs-Sensoren des Stuhls registrierten ihre Stimmung, die Bestrebungen wurden eingestellt.
Sie sah ihren Bruder unsicher an. Quellen schien sich bei ihr so unbehaglich zu fühlen wie sie bei ihm; er zupfte an seinem Ohr, preßte die Lippen zusammen, ließ die Fingerknöchel knacken. Sie waren einander praktisch Fremde. Sie trafen sich bei Familienanlässen, aber schon seit langer Zeit hatte es keine echte Verbindung mehr zwischen ihnen gegeben. Er war einige Jahre älter als sie. Früher einmal waren sie sich sehr nah gewesen, eng verbundene Geschwister, die einander neckten und piesackten, ganz so, wie jetzt Joseph und Marina. Helaine konnte sich an ihren Bruder als Jungen erinnern, der in ihrer Einzimmerwohnung verstohlen auf ihren Körper blickte, an ihren Haaren zerrte, Hilfe bei den Hausaufgaben leistete. Dann war er für den Staatsdienst ausgebildet worden und hatte von da an nicht mehr auf sinnvolle Weise zu ihrer Welt gehört. Jetzt war sie eine überbeanspruchte Hausfrau und er ein vielbeschäftigter Beamter, und sie hatte undeutlich Angst vor ihm.
An die drei Minuten tauschten sie kleine Freundlichkeiten über häusliche Dinge aus. Helaine erzählte von ihren Kindern, ihrem Gerät für Sozialgewissen in der Wohnung, ihrem persönlichen Leseprogramm. Quellen sagte nur wenig. Er war Junggeselle und dadurch noch weiter von ihr entfernt. Helaine wußte, daß ihr Bruder mit irgendeiner Frau zusammenlebte, die Judith hieß, aber er sprach nur selten von ihr und schien kaum je an sie zu denken. Manchmal argwöhnte Helaine, daß es Judith gar nicht gab — daß Quellen sie als Tarnung für ein einsam ausgeübtes Laster benützte, das ihm lieber war, oder, schlimmer noch, für eine homosexuelle Beziehung. Schwulsein war heutzutage akzeptabel; es trug dazu bei, die Geburtenrate niedrig zu halten. Aber Helaine fand die Vorstellung, ihr Bruder könnte an dergleichen teilhaben, nicht erfreulich.
Sie machte dem ziellosen Gerede dadurch ein Ende, daß sie nach Judith fragte.
»Geht es ihr gut? Du hast dein Versprechen, uns mit ihr zu besuchen, nie gehalten, Joe.«
Quellen wirkte, als Judiths Name fiel, genauso verlegen wie Norm Pomrath, als Helaine ihn nach Lanoy gefragt hatte. Er sagte ausweichend: »Ich habe das bei ihr erwähnt. Sie hält es für gut, dich und Norm kennenzulernen, aber noch nicht gleich. Judith scheut ein wenig davor zurück, deine Kinder kennenzulernen. Kinder bringen sie aus der Fassung. Aber ich bin sicher, das gibt sich noch.« Er ließ wieder das schnelle, gezwungene Lächeln aufblitzen. Dann schob er das delikate Thema Judith beiseite, indem er zur Sache kam. »Ich bin sicher, das ist nicht nur ein freundschaftlicher Besuch, Helaine.«
»Nein. Es geht um Dienstliches. Ich ersehe aus den Fakbändern, daß du die Springer unter die Lupe nimmst.«
»Ja. Stimmt.«
»Norm will springen.«
Quellen richtete sich steif auf, die linke Schulter höher als die rechte.
»Wie kommst du darauf? Hat er dir das selbst gesagt?«
»Nein, natürlich nicht. Aber ich habe den Verdacht. Er ist in letzter Zeit sehr deprimiert, weil er keine Arbeit hat und so.«
»Das ist bei ihm nichts Neues.«
»Aber es ist schlimmer geworden. Du solltest hören, wie er redet. Er ist so verbittert, Joe. Er redet absoluten Unsinn, nur eine Flut zorniger Worte, die keinerlei Sinn ergeben. Wenn ich mir das nur merken könnte! Er geht auf eine Art psychologische Explosion zu, das weiß ich. Ich spüre, wie es sich in ihm anstaut.« Sie zuckte zusammen. Der Sessel fing wieder an, sie zu massieren. »Er hat seit Monaten nicht mehr gearbeitet, Joe.«
»Das ist mir klar«, sagte Quellen. »Die Hohe Regierung fördert eine ganze Reihe von Programmen zur Lösung des Arbeitslosenproblems, weißt du.«
»Das ist schön. Aber inzwischen hat Norm keine Arbeit, und ich glaube nicht, daß es noch lange darauf ankommen wird. Er ist in Verbindung mit den Springerleuten und wird springen. Während ich hier sitze, steigt er vielleicht schon in die Maschine.« Ihre Stimme war dünn und schrill geworden. Sie konnte hören, wie das Echo ihres Geschreis von den Wänden widerhallte. Es kam ihr vor, als wären ihre Nervenenden am ganzen Körper aus der Haut geplatzt und ragten heraus wie Stacheln. Quellens Haltung veränderte sich. Er schien eine bewußte Anstrengung zu unternehmen, sich zu fassen, beugte sich wohlwollend vor und zeigte ihr ein Lächeln. Helaine erwartete halb die Frage: ›Wollen wir jetzt versuchen, Ihrem Wahn auf den Grund zu kommen?‹ In Wirklichkeit sagte er überfreundlich und nachsichtig: »Vielleicht regst du dich ganz ohne Grund auf, Helaine. Wie kommst du darauf, er könnte mit den Springer-Verbrechern zu tun haben?«
Sie erzählte ihm von dem Lanoy-Streifen und von Norms übertriebener, gespielter Sorglosigkeit, als sie ihn nach Lanoy gefragt hatte. Sie zitierte die drei Worte auf dem Zettel und sah verblüfft, daß der strahlende Ausdruck vorgetäuschter Fürsorge auf dem Gesicht ihres Bruders einen Augenblick lang völliger Leere Platz machte, die tiefstes Entsetzen verriet. Quellen erholte sich sofort, hatte sich aber schon verraten. Helaine war sehr schnell darin, derart vorbeihuschende Offenbarungen des inneren Ichs zu erkennen.
»Du weißt von Lanoy?« sagte sie.
»Zufällig habe ich einen von diesen Zetteln gesehen, Helaine. Sie kursieren überall. Du gehst zu einer Schnellboot-Rampe, jemand kommt daher und drückt dir einen in die Hand. Ohne Zweifel hat Norm den seinen auch auf diese Art bekommen.«
»Und das ist Werbung für die Springerleute, nicht?«
»Ich habe keinen Anlaß, das zu vermuten«, sagte Quellen gedehnt, während seine Augen verrieten, daß er log.
»Aber nimmst du Lanoy unter die Lupe? Ich meine, wenn Grund zu dem Verdacht besteht —«
»Wir ermitteln, ja. Und ich wiederhole, Helaine: Es besteht kein zwingender Grund, anzunehmen, dieser Lanoy stehe in irgendeiner Beziehung zum Springerproblem.«
»Aber Beth Wisnack sagte, ihr Mann Bud hätte in der Woche, bevor er gegangen sei, dauernd von Lanoy gesprochen.«
»Wer?«
»Wisnack. Einer, der kürzlich gesprungen ist. Als ich sie nach Lanoy fragte, erklärte mir Beth rundheraus, er sei für Buds Verschwinden verantwortlich, und es sei sicher, daß Norm es ihm nachmachen würde.« Erregt schlug Helaine die Beine anders herum übereinander.
Das dumpfe Hirn des Sessels registrierte ihre Unruhe und begann nach einer Pause von einigen Minuten wieder an ihr herumzutasten.
»Wir können die Frage, ob Norm Springer werden will, leicht klären.« Er drehte sich herum und griff nach einer Spule. »Ich habe hier die vollständige Liste aller nachgewiesenen Springer, die registriert wurden, als sie in der Vergangenheit auftauchten. Die Liste ist vor kurzem für mich zusammengestellt worden, und ich habe sie natürlich noch nicht durchgearbeitet, weil sie Hunderttausende von Namen enthält. Aber wenn Norm gesprungen ist, finden wir ihn hier.« Er ließ die Spule ablaufen und begann zu suchen. Nebenbei erklärte er murmelnd, daß sie alphabetisch geordnet sei. Helaine saß starr dabei, als die Suche im Tempo von mehreren Tausend Bits in der Sekunde voranging. Es würde nicht lange dauern, bis Quellen bei ›P‹ angelangt war. Und dann —
Wenn Norm gegangen war, würde er hier festgehalten sein. Sein Schicksal würde für sie deutlich sichtbar werden — das seine und das ihre, eingetragen in dieses Grundregister aus Thermoplastband. Sie würde erfahren, daß ihre Ehe zum Untergang verurteilt gewesen war, dreihundert Jahre, bevor man sie geschlossen hatte. Sie würde sehen, daß der Name ihres Mannes vor Jahrhunderten in eine Liste von Flüchtlingen aus diesem Jahrhundert eingetragen worden war. Warum hatte man diese Liste nicht schon längst veröffentlicht? Deshalb, weil, wie sie wußte, sie wie eine Totenhand auf der Seele derjenigen gelegen hätte, die gesprungen waren, springen würden, springen mußten. Wie mußte das sein, unter dem drohenden Schatten des Wissens aufzuwachsen, daß man dazu bestimmt war, aus der eigenen Zeit fortzugehen?
»Siehst du?« sagte Quellen triumphierend. »Er steht nicht auf der Liste.«
»Heißt das, daß er nicht gesprungen ist?«
»Das würde ich sagen.«
»Aber wie kannst du sicher sein, daß wirklich alle Springer erfaßt sind?« fragte Helaine scharf. »Was ist, wenn viele unbemerkt geblieben sind?«
»Möglich ist es.«
»Und die Namen«, fuhr sie fort. »Wenn Norm einen anderen Namen angegeben hat, als er in die Vergangenheit kam, würde er auch nicht auf deiner Liste stehen. Richtig?«
Quellen sah sie düster an.
»Die Möglichkeit, daß er ein Pseudonym gewählt hat, besteht immer«, gab er zu.
»Du weichst aus, Joe. Du kannst keine Gewißheit haben, daß er nicht gesprungen ist. Selbst mit der Liste nicht.«
»Was soll ich denn tun, Helaine?«
Sie atmete tief ein.
»Du könntest Lanoy festnehmen lassen, bevor er Norm in der Zeit zurückschickt.«
»Ich muß Lanoy erst finden«, wandte Quellen ein. »Und dann brauche ich Beweise dafür, daß er wirklich beteiligt ist. Bis jetzt gibt es nicht einmal Indizien, sondern nur voreilige Schlußfolgerungen von dir.«
»Dann nimm Norm fest.«
»Was?«
»Weise ihm irgend etwas nach und sperr ihn ein. Verordne ihm ein, zwei Jahre Korrektivbehandlung. Dann ist er aus dem Verkehr gezogen, bis die Springerkrise vorüber ist. Nenn es Schutzhaft.«
»Helaine, ich kann das Gesetz nicht als Privatspielzeug für meine Familienangehörigen benutzen.«
»Er ist mein Mann, Joe. Ich will ihn behalten. Wenn er in der Zeit zurückgeht, habe ich ihn für immer verloren.« Helaine stand auf. Sie schwankte und mußte sich an der Schreibtischkante festhalten. Wie konnte sie ihm begreiflich machen, daß sie am Rand eines Abgrunds stand? Springen war im Endeffekt dasselbe wie Sterben. Sie kämpfte darum, ihren Mann zu behalten. Und hier saß ihr Bruder im Mantel der Rechtschaffenheit und unternahm nichts, während kostbare Sekunden verrannen.
»Ich werde tun, was ich kann«, versprach Quellen. »Ich befasse mich mit Lanoy. Wenn du Norm hierherschicken willst, rede ich mit ihm und versuche herauszufinden, was ihn bewegt. Ja. Das ist vielleicht am besten. Bring ihn dazu, daß er mich besucht.«
»Wenn er vorhat, zu springen, wird er dir das kaum erzählen«, sagte Helaine. »Er wird sich hüten, näher als fünf Meilen an dieses Haus heranzukommen.«
»Warum sagst du ihm nicht, ich möchte wegen einer Arbeitsmöglichkeit mit ihm sprechen? Er hat sich darüber beklagt, daß ich nichts für ihn unternehme, nicht? Also gut. Er wird zu mir kommen in der Meinung, ich hätte eine Stelle für ihn. Und ich forsche ihn wegen des Zeitsprungs aus. Unauffällig. Wenn er etwas weiß, erfahre ich das von ihm. Wir zerschlagen den Springerring, und es besteht keine Gefahr mehr, daß Norm verschwindet. Was meinst du, Helaine?«
»Das klingt immerhin ermutigend. Ich rede mit ihm. Ich schicke ihn zu dir, falls er nicht schon verschwunden ist.«
Sie ging zur Tür. Ihr Bruder lächelte noch einmal. Helaine verzog den Mund. Sie fürchtete, Norm könnte schon unwiederbringlich verschwunden sein, während sie hier saß und redete. Sie mußte so schnell wie möglich zu ihm zurück. Bis diese Krise überstanden war, mußte sie scharf aufpassen, soviel stand fest.
»Grüß Judith von mir«, sagte Helaine und ging hinaus.