Quellen war froh, von Koll und Spanner fortzukommen. Sobald er wieder in seinem eigenen Büro war, an seinem eigenen kleinen, aber privaten Schreibtisch, konnte Quellen seinen Rang wieder fühlen. Er war mehr als ein Lakai, gleichgültig, wie sehr Koll ihn herumstoßen mochte.
Er läutete nach Brogg und Leeward, und die beiden Unterseks erschienen fast augenblicklich.
»Gut, Sie wiederzusehen«, sagte Stanley Brogg mürrisch. Er war ein großer Mann, schwermütig, mit groben Zügen und dicken, dichtbehaarten Fingern. Quellen nickte ihm zu und streckte die Hand aus, um den Sauerstoffschieber zu öffnen, ließ Luft ins Zimmer strömen und bemühte sich, den herablassenden Blick nachzuahmen, den Koll ihm vor einer Viertelstunde bei der gleichen Gelegenheit zugeworfen hatte. Brogg wirkte nicht ehrfurchtsvoll. Er war nur Stufe Neun, hatte aber Macht über Quellen, und beide wußten es.
Leeward sah auch nicht ehrfürchtig aus, aber das hatte andere Gründe. Leeward war für kleine Gesten einfach unempfindlich. Er war ein riesengroßer, hagerer, verschlossener Mann, der seiner Arbeit auf routinehaft methodische Weise nachging. Kein Dummkopf, aber auch dazu bestimmt, nie über Stufe Neun hinauszukommen.
Quellen betrachtete seine beiden Mitarbeiter. Er konnte die Art, wie Brogg ihn stumm und prüfend ansah, nicht ertragen. Brogg war der einzige, der das Geheimnis des afrikanischen Verstecks kannte; ein Drittel von Quellens beträchtlichem Gehalt war der Preis, der Brogg über Quellens geheime Zweitwohnung schweigen ließ. Leeward wußte nichts und kümmerte sich nicht; er empfing seine Befehle direkt von Brogg, nicht von Quellen, und Erpressung war keine Spezialität von ihm.
»Ich nehme an, Sie sind über unseren Auftrag unterrichtet, das Verschwinden von Proleten in der letzten Zeit aufzuklären«, begann Quellen. »Die sogenannten Zeitspringer sind, wie wir schon seit einigen Jahren vorausgesehen haben, unter die Zuständigkeit des Sekretariats Verbrechen gefallen.«
Brogg wies einen dicken Stapel Minizettel vor.
»Ich wollte mich wegen der Sache ohnehin mit Ihnen ins Benehmen setzen. Die Hohe Regierung läßt starkes Interesse erkennen. Koll hat keinen Zweifel daran, daß Kloofman selbst beteiligt ist. Ich habe die neuen Statistiken. In den ersten vier Monaten dieses Jahres sind achtundsechzigtausend Proleten verschwunden.«
»Aber Sie arbeiten an der Sache?«
»Selbstverständlich«, sagte Brogg.
»Fortschritte?«
»Tja«, sagte Brogg, ging in dem kleinen Raum hin und her und wischte sich den Schweiß vom Hals, »Sie kennen die Theorie, auch wenn sie verschiedentlich angefochten worden ist. Daß die Springer sich von unserem benachbarten Zeitnexus aus auf den Weg machen. Ich habe ein Diagramm erstellt. Berichten Sie, Leeward.«
»Die statistische Auswertung zeigt, daß die Theorie zutrifft. Das derzeitige Verschwinden von Proleten steht in direktem Zusammenhang mit historischen Dokumenten über das Auftauchen sogenannter Springer Ende des zwanzigsten Jahrhunderts und in den folgenden Jahren.«
Brogg zeigte auf einen blaubezogenen Band auf Quellens Schreibtisch.
»Geschichtsspule. Ich habe sie Ihnen herausgelegt. Sie bestätigt meine Erkenntnisse. Die Theorie ist richtig.«
Quellen fuhr mit dem Finger an seinem Unterkiefer entlang und fragte sich, wie das sein mußte, soviel Fett am Gesicht mit sich herumzutragen, wie Brogg das tat. Brogg schwitzte stark und machte ein trauriges Gesicht; er flehte Quellen mit stummen Blicken buchstäblich an, die Sauerstoffzufuhr zu erhöhen. Der Augenblick der Überlegenheit erfreute den gehetzten Krim-Sek, und er streckte die Hand nicht nach der Wand aus, Quellen sagte lebhaft: »Sie haben nur das Naheliegende bestätigt. Wir wissen, daß die Springer sich ungefähr von dieser Zeit aus auf den Weg machen. Das ist bekannt seit ungefähr 1979. Die Direktive der Hohen Regierung weist uns an, den Distributionsvektor zu klären. Ich habe sofort einen Aktionsplan aufgestellt.«
»Genehmigt natürlich von Koll und Spanner«, sagte Brogg frech. Seine Hängebacken bebten, während seine Stimme durch sie hindurchdröhnte.
»So ist es«, sagte Quellen so nachdrücklich, wie er konnte. Es ärgerte ihn, daß Brogg ihn so mühelos kleinmachen konnte. Koll, ja, Spanner, ja — aber Brogg war eigentlich sein Untergebener. Nur wußte Brogg zuviel über ihn. Quellen sagte: »Ich wünsche, daß Sie den Schlauberger aufspüren, der die Springer zurücklotst. Tun Sie alles im Rahmen des Erlaubten, um diese illegale Tätigkeit zu unterbinden. Bringen Sie ihn her. Ich wünsche, daß er gefaßt wird, bevor er auch noch andere in die Vergangenheit schickt.«
»Ja, Sir«, sagte Brogg mit ungewohnter Unterwürfigkeit. »Wir befassen uns damit. Das soll heißen, wir werden unsere schon eingeleiteten Ermittlungen fortsetzen. Wir haben in verschiedenen Proletenschichten Verbindungsleute. Wir tun, was wir können, um eine Spur zu finden. Ich glaube, daß es nur noch eine Frage der Zeit ist. Ein paar Tage. Eine Woche. Die Hohe Regierung wird zufrieden sein.«
»Das wollen wir hoffen«, knurrte Quellen und entließ sie. Er nahm ein Sichtfenster in Betrieb und starrte auf die Straße tief unten. Es schien ihm, als könne er die fernen Gestalten von Brogg und Leeward erkennen, als sie auf der Straße auftauchten, sich zu einem Gleitweg durchboxten und in den Menschenmengen verschwanden, die das Freie bevölkerten. Quellen wandte sich ab, griff mit beinahe wilder Freude nach dem Luftschieber und öffnete ihn weit. Er lehnte sich zurück. Verborgene Finger im Sessel massierten ihn. Er blickte auf das Buch, das Brogg für ihn dagelassen hatte, und preßte müde die Daumen auf die Augäpfel.
Springer!
Es war unausweichlich gewesen, daß man ihm das hinwarf, begriff er. Es geschah mit allen Seltsamkeiten, mit den dürren Verschwörungen gegen Recht und Ordnung. Vor vier Jahren war es das Syndikat für geschmuggelte künstliche Organe gewesen. Geschädigte Bauchspeicheldrüsen, verhökert in finsteren Gassen, pochende, blutgefüllte Herzen, endlose Windungen glänzender Eingeweide, an den Mann gebracht von zwielichtigen Gaunern, die lautlos von Zone zu Zone huschten. Dann die Fruchtbarkeitsbank und das schmutzige Geschäft mit den Sperma-Abhebungen. Und dann die angeblichen Geschöpfe aus dem Nachbaruniversum, die durch die Straßen von Appalachia gerannt waren, grauenhafte rote Kiefer klappern ließen und mit schuppigen Klauen nach Kindern griffen. Quellen hatte diese Aufgaben bewältigt, nicht glanzvoll, weil das nicht seine Art war, aber wenigstens sachkundig.
Und jetzt Springer.
Der Auftrag entnervte ihn. Er hatte um Nieren aus zweiter Hand gefeilscht und am Preis von Eizellen gemäkelt, das gehörte alles dazu, aber diese Geschichte, illegale Zeitreisen zu unterbinden, gefiel ihm nicht. Das Gefüge des Kosmos schien aus dem Lot zu geraten, sobald man die Möglichkeit einräumte, daß dergleichen geschehen konnte. Es war schon schlimm genug, daß die Zeit unerbittlich vorwärtsschritt; das konnte man verstehen, auch wenn es einem nicht unbedingt gefiel. Aber rückwärts? Eine Umkehrung aller Logik, Widerlegung aller Vernunft? Quellen war ein vernünftiger Mensch. Zeitparadoxien beunruhigten ihn. Wie leicht würde es fallen, ins Stat zu treten, Appalachia hinter sich zu lassen, in die friedliche Schwüle seiner afrikanischen Zuflucht zurückzukehren und alle Verantwortung abzuschütteln, dachte er.
Er rang die schleichende Teilnahmslosigkeit nieder, die ihn erfaßte, und knipste den Projektor an. Dreidimensionale Julesz-Figuren zuckten über den Schirm, während seine Augen sich an undifferenziertes Schwarz und Weiß gewöhnten. Der Julesz-Filter sorgte stets für Schärfentiefe, gleichgültig, wie stark die optische Verzerrung sein mochte. Die Geschichtsspule begann zu laufen. Quellen sah die Wörter messerscharf vorbeirollen:
Das erste Anzeichen der Invasion aus der Zukunft erschien um das Jahr 1979, als im Bezirk Appalachia, damals unter dem Namen Manhattan bekannt, mehrere Männer in seltsamer Kleidung auftauchten. Die Dokumente zeigen, daß sie im Lauf des nächsten Jahrzehnts mit zunehmender Häufigkeit erschienen. Auf Befragung gaben zuletzt alle zu, daß sie aus der Zukunft gekommen seien. Der Druck immer wieder erneuter Beweise zwang die Menschen des 20. Jahrhunderts schließlich dazu, sich mit der beunruhigenden Schlußfolgerung abzufinden, daß sie tatsächlich einer friedlichen, aber lästigen Invasion durch Zeitreisende ausgesetzt waren.
Es gab noch mehr, eine ganze Spule noch, aber Quellen hatte für den Augenblick genug. Er schaltete den Projektor ab. Die Hitze in dem kleinen Raum war bedrückend, trotz Klimaanlage und Sauerstoffzufuhr. Er konnte seinen eigenen scharfen Schweiß riechen und fand ihn unangenehm. Quellen blickte verzweifelt auf die beengenden Wände und dachte sehnsüchtig an den schlammigen Fluß vor der Veranda seiner afrikanischen Zuflucht.
Er trat auf das Pedal des Minizettel-Diktafons und entledigte sich einiger Notare:
›1. Können wir einen Springer in Aktion fassen? Das heißt, einen Menschen aus unserer eigenen Zeit, der, sagen wir, zehn oder zwanzig Jahre zurückgegangen ist und seine eigene Lebensspanne ein zweitesmal durchlebt hat? Gibt es solche Menschen? Was würde geschehen, wenn einer davon sich selbst im Vor-Springer-Dasein begegnen sollte?
2. Unterstellt, ein solcher Springer ist gefaßt: Verhörmethoden anwenden, um die Quelle der ursprünglichen Rückwärtsbewegung zu ermitteln.
3. Nach den heutigen Hinweisen hört die Springer-Erscheinung im Jahr 2491 auf. Deutet das auf den Erfolg unserer Verhütungsmaßnahmen hin oder lediglich auf Lücken in den Dokumenten?
4. Trifft es zu, daß vor A.D. 1979 keine Springer registriert wurden? Warum?
5. Möglichkeit erwägen, sich als Prolet Stufe Fünfzehn zu maskieren, um Angebote durch Springer-Transport-Agenten zu erleben. Müßte eine solche Festnahme als unzulässig gelten? Bei Juramaschinen prüfen.
6. Aussagen der Familien von kürzlich verschwundenen Proleten-Springern aufnehmen. Soziologische Einstufung, Zuverlässigkeitsbeurteilung usw. Außerdem Versuch, Ereignisse zurückzuverfolgen, die zum Verschwinden des Springers geführt haben.
7. Vielleicht —‹
Quellen verzichtete auf das letzte Notat und trat den Fußhebel durch. Das Gerät schob ihm Minizettel entgegen. Er ließ sie auf dem Schreibtisch liegen, nahm den Projektor wieder in Betrieb und ließ erneut die Geschichtsspule laufen.
Analyse der Zeitspringer-Dokumente zeigt, daß alle registrierten Ankünfte zwischen den Jahren A. D. 1979 und 2106 stattfanden — das heißt in einer Zeit vor der Entstehung der Hohen Regierung. (Quellen merkte sich das. Vielleicht war es von Bedeutung.) Diejenigen Springer, die beim Verhör bereit waren, ein Abgangsjahr anzugeben, führten dieses in der Zeit zwischen A. D. 2486 und 2491 auf, und zwar ohne jede Ausnahme. Das schließt selbstverständlich nicht die Möglichkeit von unregistrierten Springern aus, die sich von einer anderen Zeit aus auf den Weg gemacht haben, ebensowenig jede Möglichkeit, daß sich das Eintreffen nicht ausschließlich auf die vorerwähnte Zeit von 1 27 Jahren beschränkte. Nichtsdestoweniger…
Im Text gab es eine Unterbrechung. Brogg hatte hier eine eigene Notiz eingefügt:
Siehe Beweisstücke A und B. Möglichkeit von Zeitreisen außerhalb bekannter Zeitzonen prüfen. Okkulte Erscheinungen. Beschäftigung damit lohnend.
Quellen fand die Beweisstücke A und B auf seinem Schreibtisch: zwei weitere Spulen. Er steckte sie nicht in den Projektor und ließ auch die Geschichtsspule noch nicht weiterlaufen. Er legte eine Pause ein und dachte nach.
Alle Springer schienen aus einer einzigen Fünfjahresperiode zu kommen, von der dies das vierte Jahr war. Alle Springer waren in einem Zeitspektrum von ungefähr eineinviertel Jahrhunderten gelandet. Natürlich waren einige Springer der Entdeckung entgangen, gewandt in die Lebensmuster ihrer neuen Zeit geschlüpft und auf den Listen nie aufgetaucht. Vor drei- und vierhundert Jahren waren die Methoden der Personenermittlung noch ziemlich primitiv gewesen, wie Quellen wußte, und es war erstaunlich, daß man doch so viele Springer gefunden und registriert hatte. Proleten von niederem Rang waren aber kaum geschickt darin, sich in einer Zeit zu verbergen, die sie nicht gewöhnt waren. Aber das Syndikat, das den Springertransport betrieb, schickte doch gewiß nicht nur Proleten zurück!
Quellen nahm die Geschichtsspule aus dem Projektor, ersetzte sie durch Broggs Beweisstück A und schaltete das Gerät ein. Beweisstück A war wenig ermutigend: nicht mehr und nicht weniger als eine Liste registrierter Springer. Quellen schaltete sich wahllos ein, während die Daten abliefen:
BACCALON, ELLIOT V. Entdeckt 4. April 2007 in Trenton, New-Jersey. Elf Stunden lang befragt. Erklärter Geburtstag 17. Mai 2464. Eignungsklasse: Computertechniker 5. Grad. Verlegt in Springer-Rehabilitationszone Camden. Am 30. Februar 2011 überwiesen an Poliklinik Westvale. Entlassen am 11. April 2013. Beschäftigt als Schalttechniker 2013 bis 2022. Gestorben am 7. März 2022 an Brustfellentzündung mit Komplikationen.
BACKHOUSE, MARTIN D. Entdeckt 18. August 2102 in Harrisburg, Pennsylvania. Vernommen vierzehn Minuten. Erklärter Geburtstag 1. November 2488. Eignungsklasse: Computertechniker 7. Grad. Verlegt in Rehabilitationszone West Baltimore. Gesund entlassen 27. Oktober 2102. Beschäftigt als Computertechniker bei Finanzbehörden 2102 bis 2167. Heirat mit Lona Walk (s.d.) 22. Juni 2104. Gestorben 16. Mai 2187, Lungenentzündung.
BAGROWSKI, EMANUEL. Entdeckt —
Quellen brachte das Register zum Stillstand, als Ideen in ihm auftauchten. Er ließ vorauslaufen auf Lona Walk s.d. und machte die interessante Entdeckung, daß sie eine Springerin war, 2098 gelandet, die behauptete, 2471 geboren zu sein und sich am 1. November 2488 auf den Weg gemacht zu haben. Hier hatte es sich offenkundig um ein vereinbartes Zusammentreffen gehandelt; Junge von achtzehn, Mädchen von siebzehn Jahren, die das 25. Jahrhundert hinter sich ließen und in die Vergangenheit gingen, um miteinander ein neues Leben aufzubauen. Aber Martin Backhouse war 2102 gelandet, seine Freundin 2098. Geplant hatten sie das sicherlich nicht. Das zeigte Quellen, daß das Springer-Transportsystem im Erreichen seiner Ziele nicht präzise war. Oder es wenigstens bis vor einigen Jahren nicht war. Das mußte unerfreulich gewesen sein für die arme Lona Walk, dachte Quellen: in der Vergangenheit zu landen und dann festzustellen, daß ihr Herzensschatz nicht in dasselbe Jahr gelangt war.
Quellen konnte rasch einige traurige Springer-Schicksale dieser Art ermitteln. Romeo landet 2100, Julia 2025. Romeo stößt gebrochenen Herzens auf einen Jahrzehnte alten Grabstein von Julia. Schlimmer noch, der jugendliche Romeo begegnet der neunzigjährigen Julia. Wie verbrachte Lona Walk die vier Jahre des Wartens auf Martin Backhouse? Wie konnte sie sicher sein, er werde überhaupt kommen? Was, wenn sie den Glauben verlor und im Jahr, bevor er eintraf, einen anderen heiratete? Was, wenn die vierjährige Trennung ihre Liebe zerstört hatte — denn bis er in die Vergangenheit zurückkehrte, war sie objektiv einundzwanzig Jahre alt und er immer noch achtzehn?
Interessant, dachte Quellen. Ohne Zweifel hatten die Stückeschreiber des 22. Jahrhunderts glänzende Erfolge damit gehabt, diese Ader auszubeuten. Bombardiert mit Emigranten aus der Zukunft, gequält von Paradoxien — wie mußten diese Alten die Stirn bei den Springern gekraust haben!
Aber es lag natürlich fast vierhundert Jahre zurück, seit bekannte Springer aufgetaucht waren. Die ganze Erscheinung war generationenlang in Vergessenheit geraten. Nur die Tatsache, daß die Springer aus der Jetztzeit kamen, hatte sie wiederbelebt. Um so schlimmer, dachte Quellen dumpf, daß das zu meiner Amtszeit sein muß.
Er erwog andere Aspekte des Problems.
Angenommen, dachte er, angenommen, manche Springer hatten sich gut eingefügt, ein normales Leben aufgenommen, Menschen aus ihrer neuen Zeit geheiratet. Nicht wie Martin Backhouse andere Springer, sondern Menschen, deren Zeitlinien vier- oder fünfhundert Jahre vor ihrer eigenen begannen. Auf diese Weise wäre es gut möglich gewesen, daß sie ihre eigenen Ur-ur-ur-ur-Großmütter geheiratet hätten. Und damit ihre eigenen Ur-ur-ur-ur-Großväter geworden wären. Wie wirkte sich das auf genetischen Fluß und Fortgang des Erbplasmas aus?
Oder: Wie stand es mit dem Springer, der 2050 landet, sich mit dem Erstbesten, dem er begegnet, einen Boxkampf liefert, ihn aufs Pflaster schlägt und tötet — nur, um zu entdecken, daß er einen seiner direkten Vorfahren umgebracht und seine eigene Abstammungslinie unterbrochen hat? Quellens Kopf schmerzte ihn. Mutmaßlich würde jeder Springer, der so etwas tat, auf der Stelle aus dem Dasein verschwinden, weil er gar nicht geboren worden war. Gab es Nachweise über solche Vorfälle? Notier dir das, sagte er zu sich. Prüf das von allen Seiten.
Er hielt solche Paradoxien nicht für möglich. Er klammerte sich an den Gedanken, daß es unmöglich sei, die Vergangenheit zu verändern, weil die Vergangenheit ein versiegeltes Buch war, unveränderlich. Es war alles schon geschehen. Jede Manipulation, vorgenommen durch einen Zeitreisenden, war schon verzeichnet. Was Marionetten aus uns allen macht, dachte Quellen düster, in der Sackgasse des Determinismus angelangt. Angenommen, ich gehe in der Zeit zurück und töte 1772 George Washington? Aber Washington hat, wie wir wissen, bis 1799 gelebt. Würde das ausschließen, daß ich ihn 1772 töte? Er starrte finster vor sich hin. Solche Überlegungen machten ihn schwindlig. Brüsk befahl er sich, zu dem zurückzukehren, was anlag, nämlich, irgendeinen Weg zu finden, um den weiteren Abfluß von Springern zu unterbinden und die stillschweigende deterministische Prophezeiung zu bewahrheiten, daß nach 2491 ohnehin keine Springer mehr zurückgehen würden.
Hier ist ein Punkt, den es zu bedenken gilt, dachte er:
Viele dieser Springereintragungen gaben das genaue Datum an, an dem jemand sich auf den Weg in die Vergangenheit gemacht hatte. Dieser Martin Backhouse etwa; er hatte sich am 1. November 2488 verflüchtigt. Es war schon zu spät, um dagegen noch etwas zu unternehmen, aber wie, wenn das Register einen Springer aufführte, der sich am 4. April 2490 entfernt hatte? Das war nächste Woche. Wenn man eine solche Person unter Beobachtung stellte, seinen Weg zum Spediteur verfolgte, ihn sogar am Weggang hinderte —
Quellen verzagte. Wie konnte jemand daran gehindert werden, in der Zeit zurückzukehren, wenn jahrhundertealte Dokumente bewiesen, daß er sicher in die Vergangenheit gelangt war? Wieder das Paradoxe. Das mochte das Gefüge des Universums ausheben. Wenn ich mich einmische, dachte Quellen, und einen Menschen aus der Matrix reiße, gerade als er sich auf den Weg machen will —
Er ging die endlose Reihe von Springern durch, die Brogg für ihn zusammengestellt hatte. Mit dem verstohlenen Vergnügen eines Menschen, der weiß, daß er etwas durchaus Gefährliches tut, suchte Quellen nach der gewünschten Information. Er brauchte einige Zeit dazu. Brogg hatte die Liste alphabetisch aufgebaut und nicht nach dem Datum der Abreise oder der Ankunft geordnet. Außerdem hatten viele Springer sich einfach geweigert oder es versäumt, ihren Abreisetag anders als sehr vage anzugeben. Und da er die Liste der Daten nun schon fast zu vier Fünfteln durchgegangen war, blieb Quellen nicht mehr viel Spielraum.
Eine halbe Stunde geduldigen Suchens förderte den Gesuchten jedoch zutage:
RADANT, CLARK R. Entdeckt 12. Mai 1987 in Brooklyn, New York. Befragt acht Tage. Erklärter Geburtstag 14. Mai 2458, erklärter Tag der Abreise Mai 2490 (Tag?)…
Das genaue Datum war nicht angegeben, aber es würde genügen. Im kommenden Monat würde Clark Radant scharf überwacht werden, beschloß Quellen. Wollen doch sehen, ob er nach 1987 entwischen kann, während wir ihn beobachten.
Er rief das Hauptarchiv an.
»Die Unterlagen über Clark Radant, geboren 14. Mai 2458«, knurrte Quellen.
Der riesige Computer irgendwo unter dem Gebäude war darauf konstruiert, sofort zu antworten. Er verschaffte jedoch nicht auch automatisch sofortige Befriedigung, und die Antwort, die Quellen erhielt, war nicht sehr nützlich.
»KEINE UNTERLAGEN ÜBER CLARK RADANT, GEBOREN 14. MAI 2458«, erfuhr er.
»Keine Unterlagen? Soll das heißen, eine solche Person gibt es nicht?«
»BESTÄTIGT.«
»Das ist ausgeschlossen. Er steht im Springer-Register. Nachprüfen! Er ist am 12. Mai 1987 in Brooklyn aufgetaucht. Feststellen, ob er das nicht getan hat!«
»BESTÄTIGT. CLARK RADANT AUFGEFÜHRT UNTER ANKUNFT 1987, ABGANG 2490.«
»Na bitte! Es muß also Informationen über ihn geben. Warum wird behauptet, es gäbe keine Unterlagen über ihn, wenn —?«
»MÖGLICHERWEISE GEFÄLSCHTER SPRINGERVERMERK IST EINZIGER EINTRAG. NAME AUF LISTE BEGRÜNDET KEINE LEGITIME EXISTENZ. MÖGLICHKEIT UNTERSUCHEN, DASS NAME RADANT EIN PSEUDONYM.«
Quellen nagte an seiner Unterlippe. Ja, kein Zweifel! ›Radant‹ hatte, wer immer er sein mochte, nach der Landung 1987 einen falschen Namen angegeben. Vielleicht waren alle Namen auf der Liste Pseudonyme. Vielleicht wurden die Springer einzeln angewiesen, bei der Ankunft ihre wahren Namen zu verschweigen, oder sie wurden möglicherweise so behandelt, daß sie diese selbst bei einem Verhör nicht preisgeben konnten. Der rätselhafte Clark Radant war acht Tage lang vernommen worden, hieß es dort, und hatte trotzdem keinen Namen genannt, der mit irgendeinem in den Geburtsarchiven übereinstimmte.
Quellen sah seinen kühnen Plan in den Schlucker flattern. Er versuchte es aber noch einmal. In der Erwartung, erneut eine halbe Stunde suchen zu müssen, wurde er nach nur fünf Minuten mit einem neuen Hinweis belohnt:
MORTENSEN, DONALD G. Entdeckt 25. Dezember 2088 in Boston, Massachusetts. Vernommen vier Stunden. Erklärter Geburtstag 5. Juni 2462, erklärter Abreisetag 4. Mai 2490…
Er hoffte, daß das vor vierhundertzwei Jahren fröhliche Weihnachten für Donald Mortensen in Boston gewesen waren. Quellen fragte wieder im Hauptarchiv nach und wollte wissen, was über Donald Mortensen, geboren 11. Juni 2462, zu erfahren sei. Er rechnete mit der Mitteilung, daß keine solche Person in den umfangreichen Geburtsannalen dieses Jahres vermerkt sei.
Statt dessen schnatterte ihm der Computer etwas von Donald Mortensen vor — Eignungsklasse, Personenstand, Adresse, äußerliche Beschreibung, Gesundheitszustand und überstandene Krankheiten. Quellen mußte die Maschine schließlich zum Schweigen bringen.
Nun gut. Es gab einen Donald Mortensen. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht — würde sich keine machen —, ein Pseudonym zu benutzen, als er vor vierzig Jahrzehnten am Weihnachtstag in Boston aufgetaucht war. Falls er auftauchte. Quellen befragte noch einmal das Springer-Register und erfuhr, daß Mortensen Beschäftigung als Automechaniker gefunden (wie vorzeitlich! dachte Quellen) und 2091 eine Donna Brewer geheiratet hatte, um mit ihr fünf Kinder zu zeugen (noch vorzeitlicher!) und weiterzuleben bis 2149 und zu sterben an einer ungenannten Krankheit.
Diese fünf Kinder hatten ohne Zweifel selbst wieder unzählige Nachkommen gehabt, wurde Quellen klar. Tausende Menschen der modernen Zeit mochten von ihnen abstammen, inklusive Quellen selbst oder ein Mitglied der Hohen Regierung. Wenn Quellens Gehilfen sich nun am kritischen 4. Mai auf Donald Mortensen stürzten und ihn daran hinderten, sich ins Jahr 2088 zu verdrücken —
Quellen spürte ein Zögern. Das Gefühl kühner Entschlossenheit, das ihn vorher gepackt hatte, verflog völlig, als er über die Folgen nachdachte, die es haben konnte, wenn man Donald Mortensens feststehendes Vorhaben verhinderte.
Vielleicht sollte ich vorher mit Koll und Spanner darüber reden, dachte Quellen.