5

Martin Koll ordnete umständlich die Unterlagen auf seinem Schreibtisch, um eine Verwirrung zu verdecken, die Quellen zu zeigen er wenig Lust hatte. Der KrimSek hatte Koll eben einen sehr beunruhigenden Vorschlag gemacht, voller kaum überblickbarer Aspekte, wie ein Bild zwischen zwei Spiegeln. Koll seinerseits würde ihn zur Beurteilung der Hohen Regierung vorlegen müssen. Er hätte Quellen dafür, daß er ihm solche Schwierigkeiten bereitete, mit Vergnügen aufgespießt. Zugegeben, es war ein kluger Vorschlag. Doch Klugheit paßte zu Quellen nicht. Der Mann war beharrlich, methodisch, einigermaßen tüchtig, aber das war kein Grund, seinem Vorgesetzten einen derart hinterhältigen Vorschlag zu machen.

»Mal sehen, ob ich das richtig erfaßt habe«, sagte Koll, der nur zu gut begriff. »Ihre Durchforschung der Springer-Unterlagen hat einen wirklich vorhandenen Mann namens Mortensen ergeben, der dem Register nach vom nächsten Monat aus in die Vergangenheit abgereist ist. Ihr Vorschlag sieht vor, ihn zu überwachen, zu seiner Kontaktstelle zu verfolgen und ihn notfalls mit Gewalt daran zu hindern, daß er die Reise in die Vergangenheit antritt, indem diejenigen festgenommen werden, die sich bereit erklärt haben, ihn hinzuschicken.«

Quellen nickte.

»So ist es.«

»Ist Ihnen klar, daß das ein direkter Eingriff in die Vergangenheit wäre, auf eine überlegte Art, wie er, soviel ich weiß, bislang noch nie versucht worden ist?«

»Das ist mir klar«, sagte Quellen. »Deshalb bin ich vorher zu Ihnen gekommen. Ich sitze zwischen zwei Geboten: einerseits den Drahtzieher der Zeitreisen zu fassen und andererseits die geordnete Struktur der Geschichte zu bewahren. Offenbar steht jener Mortensen mit dem Drahtzieher in Verbindung oder er wird diese zu ihm aufnehmen, wenn der 4. Mai tatsächlich der Tag seiner Abreise ist. Sobald wir ihn also mit einem Peiler verfolgen —«

»Ja«, unterbrach ihn Koll trocken. »Das sagten Sie schon. Die Probleme sind mir klar.«

»Haben Sie eine Anweisung für mich?«

Koll schob wieder seine Papiere umher. Er argwöhnte, daß Quellen das absichtlich tat, daß er aufbegehrend seinen Chef in die Klemme bringen wollte. Koll war sich der Feinheiten der Situation voll bewußt. Zehn Jahre lang hatte er Quellen nach seiner Pfeife tanzen lassen, ihn gezwungen, einen schwierigen Auftrag nach dem anderen auszuführen, und hatte dann mit einiger Belustigung zugesehen, wie Quellen seine beschränkten Fähigkeiten ins Spiel brachte, um mit dem Problem fertigzuwerden. Koll räumte ein, daß bei der Art seines Umgangs mit Quellen ein sadistisches Element mitgespielt hatte. Das ging in Ordnung; Koll hatte, wie jedermann, Anspruch auf seine Charakterschwächen, und es erschien ihm gerechtfertigt, seine Aggressionen durch Feindseligkeit dem geduldigen Quellen gegenüber abzubauen. Trotzdem war es ärgerlich, daß Quellen, um sich zu rächen, so etwas anrichtete.

Nach einer langen Schweigepause der Verlegenheit sagte Koll: »Ich kann Ihnen noch keine Anweisung geben. Ich muß mich natürlich mit Spanner besprechen. Und sehr wahrscheinlich brauchen wir eine beratende Stellungnahme von anderer Stelle.«

Also von der Hohen Regierung. Koll übersah das kleine Triumphlächeln nicht, das rasch über Quellens Gesicht huschte. Quellen genoß das, kein Zweifel.

»Ich warte mit dem konkreten Einsatz, bis ich wieder höre, Sir«, sagte der KrimSek.

»Da tun Sie gut daran«, erwiderte Koll.

Quellen ging hinaus. Koll grub die Fingernägel in die Handfläche, bis es schmerzte. Dann drückte er mit schnellen, verärgerten Bewegungen die Autosek-Tasten, bis das Gerät eine Spule mit der Aufzeichnung des eben geführten Gesprächs ausspuckte. Damit sollte Spanner sich befassen. Und danach —

Spanner war gerade nicht da. Er ging einer Beschwerde in einer anderen Abteilung nach. Koll, der stark schwitzte, wünschte sich, daß Quellen einen Zeitpunkt abgewartet hätte, zu dem Spanner sich im Büro befand, als er diesen Unfug mit Mortensen vorlegte. Aber ohne Zweifel gehörte auch das zu Quellens teuflischem Plan. Koll empfand bitteren Groll darüber, von dem Untergebenen so drangsaliert zu werden. Er schloß die Augen und sah auf der Innenseite der Augenlider Quellens Gesicht: lange, gerade Nase, blaßblaue Augen, Kinn mit Grübchen. Ein gewöhnliches, leicht zu vergessendes Gesicht. Manche hätten sogar von einem gutaussehenden Gesicht gesprochen. Niemand hatte Martin Koll jemals als gutaussehend bezeichnet. Andererseits war er schlau. Viel schlauer als der unsägliche Quellen. Jedenfalls hatte Koll das bis zu diesem Nachmittag immer geglaubt.

Eine Stunde später kam Spanner zurück. Als er sich an seinem Schreibtisch wie ein wildes Tier niederließ das sich eben den Wanst vollgeschlagen hat, schob Koll ihm die Spule hinüber.

»Spielen Sie das ab und sagen Sie mir, was Sie davon halten.«

»Können Sie das nicht abkürzen?«

»Nein. So ist es einfacher«, sagte Koll.

Spanner ließ die Aufzeichnung ablaufen, benützte aber zu Kolls Erleichterung den Kopfhörer, so daß Koll sich das Ganze nicht noch einmal anhören mußte. Als die Spule durchgelaufen war, hob Spanner den Kopf. Er zupfte an seinen Halsfalten und sagte: »Das bietet gute Aussichten, den Kerl zu erwischen, nicht?«

Koll schloß die Augen.

»Verfolgen Sie meinen Gedankengang. Wir beobachten Mortensen. Er geht in der Zeit nicht zurück. Er bekommt nicht die fünf Kinder, die er in die Welt gesetzt haben soll. Drei von diesen Kindern sind vielleicht Träger bedeutsamer historischer Vektoren. Eines davon wächst zum Vater des Mörders von Generalsekretär Tse heran. Einer wird der Großvater des unbekannten Mädchens, das die Cholera nach San Francisco gebracht hat. Eines ist verantwortlich für die Abfolge, die mit Flaming Bess aufhört. Da Mortensen sein Ziel in der Vergangenheit nie erreicht hat, kommt also keine dieser drei Personen zur Welt.«

»Betrachten Sie es anders herum«, meinte Spanner. »Mortensen geht zurück und hat fünf Kinder. Zwei davon bleiben ledige Mädchen. Das dritte bricht im dünnen Eis ein. Das vierte wird gewöhnlicher Arbeiter und hat Kinder, aus denen nie etwas wird. Das fünfte —«

»Woher wissen Sie«, fragte Koll leise, »wie die Folgen aussähen, wenn ein einzelner einfacher Arbeiter aus der Matrix der Vergangenheit herausgelöst wird? Woher wissen Sie, welche unberechenbaren Veränderungen dadurch ausgelöst werden würden, daß man auch nur eine alte Jungfer herausnimmt? Wollen Sie das Risiko eingehen, Spanner? Wollen Sie die Verantwortung übernehmen?«

»Nein.«

»Ich auch nicht. Seit vier Jahren wäre es möglich gewesen, Springer abzufangen, einfach, indem man die Aufzeichnungen durchgegangen wäre und sie ergriffen hätte, bevor sie das Weite gesucht hätten. Niemand hat es getan. Niemand hat es, soviel ich weiß, auch nur vorgeschlagen, bis diese teuflische Idee im Kopf unseres Freundes Quellen entstanden ist.«

»Das bezweifle ich«, sagte Spanner. »Mir ist der Gedanke sogar selbst gekommen.«

»Und Sie haben ihn für sich behalten.«

»Hm, ja. Ich hatte nicht die Zeit, mir die Konsequenzen genau zu überlegen. Aber ich bin sicher, daß er auch noch anderen im Staatsdienst gekommen ist, die sich mit dem Springerproblem befaßt haben. Vielleicht ist es sogar schon geschehen, Koll.«

»Also gut«, sagte Koll. »Rufen Sie Quellen an und sagen Sie ihm, er soll einen formellen Antrag auf Genehmigung des Plans stellen. Dann unterschreiben Sie.«

»Nein. Wir unterschreiben beide.«

»Ich weigere mich, die Verantwortung zu übernehmen.«

»In diesem Fall ich auch«, sagte Spanner.

Sie lächelten einander ohne jede Belustigung an. Die naheliegende Schlußfolgerung war alles, was noch blieb.

»Dann müssen wir es Denen zur Entscheidung vorlegen«, sagte Koll.

»Das glaube ich auch. Übernehmen Sie das.«

»Feigling!« schnaubte Koll.

»Gar nicht. Quellen kam damit zu Ihnen. Sie haben die Sache mit mir besprochen und meinen Rat gehört, der Ihre eigene Meinung bestätigte. Jetzt ist der Ball wieder bei Ihnen, und Sie müssen ihn spielen. Spielen Sie ihn zu Denen hinauf.« Spanner lächelte verbindlich. »Sie haben doch keine Angst vor Denen, oder?«

Koll bewegte unbehaglich die Schultern. Auf seiner Ebene von Autorität und Verantwortung hatte er Zugangsrecht zur Hohen Regierung. Er hatte es früher schon mehrmals genutzt, nie mit Freude. Freilich keinen direkten Zugang; er hatte von Angesicht zu Angesicht mit ein paar Leuten von Stufe Zwei gesprochen, Verbindung mit Stufe Eins aber nur über den Bildschirm gehabt. Bei einer Gelegenheit hatte Koll mit Danton gesprochen und dreimal mit Kloofman, aber es gab keine Gewißheit für ihn, daß die Bilder auf dem Schirm wirklich auch die von authentischen menschlichen Wesen waren. Wenn jemand meinte, das sei Kloofman, spreche wie Kloofman und sehe aus wie die 3D-Abbilder Kloofmans in der Öffentlichkeit, dann hieß das noch lange nicht, es gäbe jetzt auch wirklich einen Peter Kloofman oder es hätte ihn jemals gegeben.

»Ich rufe an, dann sehe ich schon«, sagte Koll. Er wollte das nicht von seinem eigenen Schreibtisch aus machen. Das Bedürfnis nach körperlicher Bewegung erfüllte ihn plötzlich stark. Koll stand abrupt auf und huschte hinaus, den Korridor entlang, in eine dunkle Kommunikationszelle. Der Bildschirm wurde hell, als er die Konsole zuschaltete.

Man wagte es natürlich nicht, den Hörer abzunehmen und Kloofman anzurufen. Es gab Kanäle. Kolls Weg nach oben führte über David Giacomin, Stufe Zwei, Vizekönig für innere Kriminalangelegenheiten. Giacomin gab es wirklich. Koll hatte ihn in Fleisch und Blut gesehen, einmal sogar seine Hand berührt, hatte gar zwei lähmende Stunden auf Giacomins Privatsitz in Ostafrika verbracht; eines der prägendsten und schlimmsten Erlebnisse in Kolls ganzem Leben.

Er stellte die Verbindung mit Giacomin her. Nach weniger als fünfzehn Minuten war der Vizekönig auf dem Schirm und lächelte Koll mit dem mühelosen Wohlwollen an, das zu zeigen ein Zweier mit Selbstsicherheit sich leisten konnte. Giacomin war ein Mann um die Fünfzig, schätzte Koll, mit kurzgeschorenen, eisengrauen Haaren, mit Lippen, die schief im Gesicht standen, und mit zerfurchter Stirn. Sein linkes Auge war irgendwann irreparabel beschädigt worden; an dessen Stelle trug er einen stummelartigen Faser-Rezeptor, dessen Glasstäbchen direkt an sein Gehirn angeschlossen waren.

»Was gibt es, Koll?« fragte er freundlich.

»Sir, einer meiner Untergebenen hat eine ungewöhnliche Methode vorgeschlagen, Informationen über die Springererscheinungen zu beschaffen. Es besteht Uneinigkeit darüber, ob wir den empfohlenen Weg beschreiten sollen.«

»Warum erzählen Sie mir nicht einfach alles?« sagte Giacomin. Seine Stimme war so herzlich und tröstlich wie die eines Freundes, der alles über die ärgste Neurose des anderen wissen wollte.

Eine Stunde später, gegen Ende seines Arbeitstages, erfuhr Quellen von Koll, daß im Hinblick auf Mortensen noch nichts entschieden sei. Koll habe mit Spanner und dann mit Giacomin gesprochen, jetzt spreche Giacomin mit Kloofman, und ohne Zweifel werde jemand von Denen in wenigen Tagen eine Entscheidung verkünden. Inzwischen solle Quellen abwarten und nichts unternehmen, das etwas präjudizieren könne. Es sei noch Zeit genug bis zu Mortensens vorgesehenem Verschwinden am 4. Mai.

Quellen empfand angesichts der Unruhe, die er ausgelöst hatte, keine Freude. Mortensen zu verfolgen, war eine schlaue Idee, ja, aber es war manchmal gefährlich, allzu schlau zu sein. Quellen wußte, daß er Koll Unbehagen verursacht hatte. Das zahlte sich nie aus. Soviel zu erkennen war, hatte Koll auch Giacomin Unbehagen verursacht, und nun gab Giacomin das an Kloofman weiter. Das hieß, daß Quellens schlauer Vorschlag bis hinauf zur Spitze der Machthierarchie Unruhe und Ärger hervorrief. Als Quellen noch jünger und vom Ehrgeiz verzehrt war, den Hohen Rang von Stufe Sieben zu erreichen, wäre ihm nichts lieber gewesen, als in dieser Weise Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Jetzt war er aber auf Stufe Sieben, hatte die Alleinwohnung bekommen, die sein Traum gewesen war, und konnte sich von weiteren Beförderungen nicht mehr viel erhoffen. Außerdem belastete sein zutiefst illegales Versteck in Afrika sein Gewissen. Das letzte, was er sich wünschte, war, ein Mitglied der Hohen Regierung sagen zu hören: »Dieser Quellen ist sehr schlau — ermitteln Sie alles über ihn, was Sie ermitteln können.« Quellen verhielt sich jetzt am liebsten unauffällig.

Immerhin, er hatte die Idee mit Mortensen in sich nicht unterdrücken können. Er mußte amtlichen Verpflichtungen genügen, und das Ausmaß seiner privaten Abweichung von den Wohnvorschriften ließ ihn in seiner öffentlichen Pflicht um so gewissenhafter verfahren.

Bevor Quellen heimging, ließ er Stanley Brogg kommen.

Der korpulente Mitarbeiter sagte sofort: »Wir haben ein großes Netz nach dem Kerl ausgespannt, KrimSek. Es kann sich nur um Tage oder auch nur Stunden handeln, bis wir wissen, wer er ist.«

»Gut«, sagte Quellen. »Ich habe eine weitere Ermittlungsroute für Sie. Aber hier muß Vorsicht walten, weil sie offiziell noch nicht genehmigt ist. Ein Mann namens Donald Mortensen beabsichtigt, am 4. Mai seinen Zeitsprung auszuführen. Schlagen Sie in den Unterlagen nach, die Sie mir gegeben haben; so bin ich auf ihn gekommen. Überprüfen Sie sein Verhalten und seine Bekannten. Aber das muß mit äußerster Zurückhaltung geschehen. Ich kann das gar nicht stark genug betonen, Brogg.«

»Gut.«

»Wenn der Mann dahinterkommt, daß wir ihn überwachen, könnte uns das alle in Teufels Küche bringen. Degradierung oder Schlimmeres. Achten Sie also darauf. Nehmen Sie ihn ins Visier, aber er darf nicht das geringste merken, sonst ergeht es Ihnen schlecht.«

Brogg lächelte verschlagen.

»Sie wollen sagen, Sie stufen mich zurück, wenn ich einen Fehler mache?«

»Durchaus.«

»Ich glaube nicht, daß Sie das tun würden, KrimSek. Nicht mit mir.«

Quellen erwiderte den Blick des anderen unbeirrt. Brogg wurde in letzter Zeit frech und genoß die Macht, die er über Quellen hatte, allzu sehr. Seine zufällige Entdeckung von Quellens afrikanischer Villa war die große Qual in Quellens Leben.

»Verschwinden Sie«, sagte Quellen. »Und achten Sie darauf, bei Mortensen vorsichtig zu sein. Es ist durchaus möglich, daß diese Ermittlungen von der Hohen Regierung untersagt werden, und wenn das der Fall ist, sitzen wir alle in der Tinte, falls Denen bekannt wird, daß wir Mortensen aufgescheucht haben.«

»Ich verstehe«, sagte Brogg. Er ging.

Quellen fragte sich, ob es richtig gewesen war, das zu tun. Wie, wenn über Giacomin mitgeteilt wurde, daß man Mortensen in Ruhe lassen sollte? Nun, Brogg war da erfahren genug — manchmal sogar zu erfahren. Und es blieb wirklich nicht viel Zeit, bei Mortensen einzugreifen, falls die Zustimmung gegeben werden sollte. Quellen müßte das Projekt vorzeitig anlaufen lassen. Spekulativ, sozusagen.

Er hatte zunächst alles getan, was er konnte. Er überlegte, ob er Brogg beauftragen sollte, die ganze Angelegenheit zu bearbeiten, während er nach Afrika zurückkehrte, kam aber zu dem Schluß, daß das geheißen hätte, die Katastrophe auf sich zu ziehen. Er schloß sein Büro ab und verließ das Haus, um mit dem nächsten Schnellboot zu seiner kleinen Wohnung Stufe Sieben zurückzufahren. In den nächsten Wochen mochte er hie und da auf ein, zwei Stunden nach Afrika entwischen können, aber nie länger. Er saß in Appalachia fest, bis die Springerkrise vorüber war.

Quellen kehrte in seine Wohnung zurück und entdeckte, daß er es vernachlässigt hatte, seinen Speisenvorrat zu ergänzen. Da sein Aufenthalt in Appalachia lang zu werden drohte oder sogar von Dauer sein mochte, beschloß er, nachzufüllen. Manchmal bestellte Quellen telefonisch, aber nicht diesmal. Er brachte wieder das Zeichen ›Privat‹ an seiner Tür an und benützte die gewundene Flugrampe hinunter zum Warendepot, um sich für lange Zeit zu versorgen.

Auf dem Weg nach unten fiel ihm ein bleich wirkender Mann in einer weiten roten Tunika auf, der in umgekehrter Richtung die Rampe heraufkam. Quellen erkannte ihn nicht, aber das war nicht verwunderlich; im dichten Gedränge von Appalachia lernte man nie viele Leute kennen, nur eine Handvoll Nachbarn und Verwandte, dazu einige Personen vom Dienstpersonal, wie den Leiter des Warendepots.

Der bleiche Mann starrte Quellen neugierig an. Er schien ihm mit den Augen etwas mitzuteilen. Quellen fühlte sich dabei ausgesprochen unbehaglich. In seinem Beruf hatte er viel über die verschiedenen Arten von Belästigern gelernt, denen man auf den Straßen begegnen mochte. Die gewöhnliche sexuelle Sorte, natürlich, aber auch diejenigen, die sich heranschoben und einen in die Venen stachen, um die süchtig machende Dosis irgendeiner infernalischen Droge (wie Helidon) einzuspritzen, oder die unheimlichen Leute, die einem in der Menge Karzinogene an die Haut quetschten, oder vielleicht die Geheimagenten, die verstohlen eine Molekularsonde in die Haut stachen, welche jedes Wort eines Gesprächs in die Ferne übertrug. Solche Dinge kamen dauernd vor.

»Nehmen und lesen«, murmelte der Bleiche. Er streifte Quellen und stopfte ihm einen zerknüllten Minizettel in die Hand. Quellen konnte nicht ausweichen. Der Fremde hätte in diesem kurzen Augenblick alles mögliche mit ihm machen können; in diesem Augenblick hätte Quellens Knochenkalzium sich in Gallerte verwandeln oder sein Gehirn durch die Nasenlöcher herausrinnen können, all das, um die krankhaften Gelüste eines Rempelmörders zu befriedigen. Aber es hatte den Anschein, daß der Mann wirklich nur eine Art Werbung in Quellens Hand gedrückt hatte. Quellen faltete den Streifen auseinander, nachdem der Mann die Flugrampe hinauf verschwunden war, und las:


ARBEITSLOS?
ZU LANOY

Das war alles. Augenblicklich trat Quellen als KrimSek in Aktion. Wie die meisten Gesetzesübertreter in öffentlichen Ämtern verfolgte er andere Gesetzesbrecher unerbittlich, und Lanoys Flugzettel roch nach Gesetzlosigkeit, nicht nur wegen der beleidigenden Art und Weise, sie von Person zu Person weiterzugeben, sondern auch durch das Angebot selbst. Betrieb Lanoy eine Art Stellenvermittlung? Aber das war Sache des Staates! Quellen fuhr herum, in der Absicht, den rasch entschwindenden bleichen Mann zu verfolgen. Er erhaschte einen letzten Blick auf die weite rote Tunika, dann war der Mann verschwunden. Nach dem Verlassen der Flugrampe konnte er überall hingegangen sein.

›Arbeitslos? Zu Lanoy‹

Quellen fragte sich, wer Lanoy sein und über welches Wundermittel er verfügen mochte. Er nahm sich vor, Leeward oder Brogg darauf anzusetzen.

Quellen verstaute den Streifen sorgfältig in seiner Tasche und betrat den Laden. Die bleigefaßte Tür öffnete sich vor ihm. Waren-Greifroboter huschten zwischen den Regalen dahin, führten Zählungen durch, erledigten Bestellungen. Der kleine Mann mit dem roten Gesicht, der den Laden führte — als Fassade für die Computer natürlich; welche Hausfrau wollte schon mit einem Computer tratschen? —, begrüßte Quellen mit ungewohnter Herzlichkeit.

»Ah, der KrimSek! Wir hatten lange nicht die Ehre, Krim-Sek«, sagte der rundliche Geschäftsmann. »Ich dachte schon, Sie sind umgezogen. Aber das kann nicht sein, oder? Sie hätten mich verständigt, wenn Sie befördert worden wären?«

»Ja, Greevy, das ist richtig. Ich war in der letzten Zeit einfach nicht da. Sehr viel zu tun jetzt. Ermittlungen.« Quellen zog die Brauen zusammen. Er wünschte nicht, daß seine häufige Abwesenheit zum Tagesgespräch wurde. Rasch, nervös griff er nach dem schmierig-grauen Einband des Grundkatalogs und notierte Nummern. Büchsennahrung, Preßkonzentrate, Grundnahrungsmittel, alles Nötige. Er kritzelte seine Liste und hielt sie vor die Sensoren, während der Ladenbesitzer wohlwollend zuschaute.

»Ihre Schwester war gestern hier«, sagte Greevy.

»Helaine? Ich habe sie in der letzten Zeit kaum gesehen.«

»Sie sieht schlecht aus, KrimSek. Schrecklich dünn. Ich habe etwas Kalomix für sie programmiert, aber das wollte sie nicht. Ist sie bei den Sanis gewesen?«

»Das weiß ich leider nicht«, erwiderte Quellen. »Ihr Mann ist medizinisch ausgebildet. Kein Arzt, nur Techniker, aber wenn mit ihr etwas nicht in Ordnung ist, müßte er das diagnostizieren können. Falls sein Verstand noch funktioniert. Beim Rest ist das gewiß nicht der Fall.«

»Das ist ein bißchen ungerecht, KrimSek. Ich bin sicher, Mr. Pomrath wäre froh, öfter arbeiten zu können. Ich weiß es. Niemand ist gern untätig. Ihre Schwester sagt, daß er sehr leidet. Um ganz offen zu sein« — der Ladeninhaber beugte sich vor und senkte die Stimme zu einem vertraulichen Flüstern —, »ich wollte das gar nicht ausplaudern, aber gegen Sie herrscht in der Familie ein wenig Bitterkeit. Man meint, daß Sie vielleicht mit Ihrem politischen Einfluß —«

»Ich kann gar nichts für sie tun! Überhaupt nichts!« Quellen fiel auf, daß er schrie. Was ging es diesen verdammten Krämer an, daß Norman Pomrath arbeitslos war? Wie konnte er es wagen, sich einzumischen? Quellen rang um Beherrschung. Er fand sie auf irgendeine Weise, entschuldigte sich für seinen Ausbruch, verließ rasch den Laden.

Er trat kurz auf die Straße hinaus und sah die Menschenmassen vorbeiströrnen. Kleidung jeder Art und Farbe. Unaufhörliches Gerede. Die Welt war ein Bienenkorb, ungeheuer übervölkert, mit jedem Tag mehr, trotz aller Geburtenbeschränkungen. Quellen sehnte sich nach dem stillen Zufluchtsort, den er unter so großen Kosten und mit solcher Angst erbaut hatte. Je mehr er von den Krokodilen sah, desto weniger schätzte er die Gesellschaft des Pöbels, der in den verstopften Städten wimmelte.

Natürlich war diese Welt geordnet. Jedermann numeriert, etikettiert, registriert, kontrolliert, um nicht zu sagen, ständig observiert. Wie sonst sollte man eine Welt von elf oder zwölf oder vielleicht auch dreizehn Milliarden Menschen regieren, wenn man ihr nicht eine Ordnung auferlegte? Trotzdem wußte gerade Quellen, daß unter der oberflächlichen Ordnung alle möglichen beschämenden ungesetzlichen Dinge vorgingen — nicht, wie bei Quellen, gerechtfertigte Bemühungen, einem unerträglichen Dasein zu entfliehen, sondern zwielichtige, gemeine, unverzeihliche Dinge. Die Drogensucht, zum Beispiel, dachte er. Laboratorien auf fünf Kontinenten brachten neue Drogen so rasch hervor, wie die alten Abhängigkeiten beseitigt wurden. Zur Zeit brachte man tödliche Alkaloide unter die Leute, und das auf die schamloseste Weise. Da ging einer in ein Schnüffellokal, in der Hoffnung, sich eine halbe Stunde harmlosen Halluzinationsvergnügens zu kaufen; statt dessen erwarb er eine teuflische Sucht. Oder auf einem Schnellboot fuhr eine Männerhand über den Körper einer Frau; scheinbar war das nichts Anstößigeres als eine unerwünschte Zärtlichkeit, und zwei Tage später ging der Frau auf, daß sie süchtig geworden war und medizinische Hilfe brauchte, um herauszufinden, wodurch.

Und dergleichen mehr, dachte Quellen. Häßliche, unmenschliche Dinge. Wir sind entmenschlicht. Wir schädigen einander ohne Not, nur deshalb, weil wir Schaden anrichten wollen. Und wenn wir Hilfe suchen, erleben wir nichts als Angst und Zurückzucken. Bleib weg, bleib weg! Laß mich in Ruhe!

Und dann dieser Lanoy, dachte Quellen, während er den Streifen in der Tasche betastete. Da war eine Gaunerei im Gange, aber verdeckt genug, um der Aufmerksamkeit des Sekretariats Verbrechen entgangen zu sein. Was sagten die Datenspeicher über Lanoy? Wie brachte Lanoy es fertig, seine illegale Betätigung vor Familie oder Wohngenossen zu verbergen? Ganz gewiß lebte er nicht allein. Ein Gesetzloser von solcher Art konnte nicht Stufe Sieben sein. Lanoy — das mußte ein raffinierter Prolet sein, der einen Marktwirtschaftsschwindel zugunsten der eigenen Tasche betrieb.

Quellen empfand eine seltsame Artgenossenschaft mit dem unbekannten Lanoy, so sehr es ihm widerstand, das zuzugeben. Auch Lanoy lehnte sich auf. Er war ein ausgekochter Bursche, vielleicht lohnte es sich, ihn zu kennen. Quellen runzelte die Stirn und kehrte rasch in seine Wohnung zurück.

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