Am nächsten Morgen im Büro warteten seine beiden UnterSek mit einem dritten Mann auf ihn, einem hochgewachsenen, linkischen, schäbig gekleideten Burschen mit gebrochener Nase, die schnabelartig aus seinem Gesicht stand. Brogg hatte den Sauerstoff voll aufgedreht, wie Quellen feststellte.
»Wer ist das?« fragte Quellen. »Sie haben eine Festnahme durchgeführt?« Konnte es sein, daß das Lanoy war? Nicht sehr wahrscheinlich. Wie konnte dieser abgerissene Prolet — offenbar zu arm, um sich eine kosmetische Nasenoperation leisten zu können — die Macht sein, die hinter den Springern stand?
»Sagen Sie dem KrimSek, wer Sie sind!« befahl Brogg und stieß den Proleten grob mit dem Ellenbogen an.
»Heiße Brand«, sagte der Prolet mit dünner, klagend hoher Stimme. »Stufe Fünfzehn. Ich hab’s nicht bös gemeint, Sir — es war nur so, daß er mir ein eig’nes Haus versprochen hat und einen Job und frische Luft —«
Brogg schnitt ihm das Wort ab. »Wir sind in einem Trinklokal auf den Mann gestoßen. Er hatte ein, zwei Glas zuviel erwischt und erzählte jedem, daß er bald Arbeit haben würde.«
»Das hat der Mann gesagt«, murmelte Brand. »Sollte ihm nur zweihundert Kred geben, dann würde er mich dahin schicken, wo jeder Arbeit hat. Und ich könnte Geld schicken, damit meine Familie durchkommt.«
»Das kann nicht richtig sein«, meinte Quellen. »Geld zurückschicken? Kontakt den Zeitpfad aufwärts?«
»Das hat er gesagt. Es klang so gut, Sir.«
»Ein Schwindel als Anreiz«, sagte Brogg. »Wenn es hin und her Kontakt gibt, stimmen alle unsere Vermutungen nicht. Aber das kann nicht sein.«
»Wie heißt der Mann?« fragte Quellen.
»Lanoy, Sir.«
Lanoy! Überall Lanoy, Fühler gleichzeitig in alle Richtungen!
»Jemand hat mir das gegeben und gesagt, ich soll mich mit ihm in Verbindung setzen«, brummte Brand. Er hielt ihm einen zerknüllten Minizettel hin. Quellen faltete ihn auseinander und las:
»Die gibt es überall«, sagte Quellen. Er griff in seine Tasche und zog den Streifen heraus, der ihm auf der Flugrampe in die Hand gedrückt worden war. Er trug ihn seit Tagen bei sich wie einen Talisman. Er legte ihn neben den ersten. Sie waren gleich.
»Lanoy hat viele Bekannte von mir hingeschickt«, sagte Brand. »Er sagt, sie hätten alle Arbeit und wären glücklich, Sir —«
»Wo schickt er sie hin?« fragte Quellen leise.
»Weiß nicht, Sir. Lanoy sagt, das erklärt er mir, wenn ich ihm die Zweihundert gebe. Ich hab’ alle Ersparnisse abgehoben. Ich war auf dem Weg zu ihm und wollte nur noch einen kippen, als — als —«
»Als wir ihn fanden«, ergänzte Brogg. »Er erzählte allen Leuten, er gehe zu Lanoy, um Arbeit zu bekommen.«
»Mhm. Wissen Sie, was die Springer sind, Brand?«
»Nein, Sir.«
»Schon gut. Wie wär’s, wenn Sie uns zu Lanoy bringen würden?«
»Das geht nicht. Wär’ nicht gerecht. Alle meine Freunde —«
»Wenn wir Sie nun zwingen?« sagte Quellen.
»Aber er wollte mir Arbeit geben! Ich kann nicht. Bitte, Sir.«
Brogg sah Quellen scharf an.
»Lassen Sie es mich versuchen«, sagte er. »Lanoy wollte Ihnen Arbeit geben, sagen Sie? Für zweihundert Kred?«
»Ja, Sir.«
»Wenn wir Ihnen nun sagen, daß wir Ihnen umsonst Arbeit geben? Es kostet überhaupt nichts. Führen Sie uns zu Lanoy, und wir schicken Sie da hin, wo er sie hinschicken wollte, nur ohne Kosten. Und Ihre Familie schicken wir mit.«
Quellen lächelte. Wenn es um niedrige Proleten ging, war Brogg ein viel besserer Psychologe als er. Das mußte er zugeben.
»Hört sich gut an«, sagte Brand. »Aber mir ist nicht wohl dabei. Lanoy war gut zu mir. Doch wenn Sie sagen, daß Sie mich umsonst schicken —«
»Ganz richtig, Brand.«
»Dann mach ich’s, denk’ ich.«
Quellen zog den Sauerstoffschieber herunter. Brogg gab Leeward ein Zeichen, der Brand hinausführte.
»Gehen wir, bevor er es sich anders überlegt«, sagte Quellen. »Er schwankt offenkundig.«
»Kommen Sie mit, Sir?« fragte Brogg. Sein serviler Ton hatte einen Anflug von Sarkasmus. »Das wird vermutlich ein ziemlich schmutziges Viertel sein. Überall Ungeziefer. Die Unterwelt —«
Quellen zog die Brauen zusammen.
»Sie haben recht«, sagte er. »Ich brauche nicht mitzugehen. Machen Sie beide das. Ich habe hier genug zu tun.«
Sofort, als sie gegangen waren, rief Quellen Koll an.
»Gute Arbeit«, sagte Koll kalt. »Sollten interessante Ermittlungen werden.«
»Ich melde mich sofort, wenn —«
»Lassen Sie sich Zeit. Spanner und ich sprechen über Umstufungen im Amt. Wir möchten in der nächsten Stunde nicht gestört werden.« Er legte auf.
Was hieß das? dachte Quellen. Die Kälte in Kolls Stimme — nun, das war nichts Besonderes, aber doch bedeutsam. Koll hatte ihn die ganze Woche nach Fortschritten in Sachen Springer gedrängt. Jetzt, da endlich Fortschritte erzielt worden waren — seit ein Mann in Haft war, der sie zu dem schwer faßbaren Lanoy führen konnte —, war Koll brüsk gewesen, fast gänzlich uninteressiert. Koll verbirgt etwas, dachte Quellen.
Sein Gewissen drückte ihn. Sofort war der Verdacht wieder da: Koll weiß Bescheid über Afrika. Der Ausflug von gestern nacht ist bemerkt worden, und das war das letzte Beweisstück in der Kette gegen mich. Jetzt bereiten sie die Anklage vor.
Ohne Zweifel war Brogg ein höherer Preis dafür geboten worden, daß er redete, als er von Quellen für sein Schweigen erhalten hatte. Er war zum Meistbietenden übergegangen. Koll wußte jetzt alles. Degradierung würde noch die geringste Strafe für Quellen sein.
Quellens Tat war einzigartig. Seines Wissens war sonst niemand raffiniert genug gewesen, diesen Ausweg aus dem stark übervölkerten Appalachia, dem Kraken von Stadt, ausgebreitet über die ganze östliche Hälfte von Nordamerika, zu finden. Von all den Hunderten von Millionen Einwohnern hatte allein Joseph Quellen, KrimSek, die Schlauheit besessen, ein Stück unbekanntes und unregistriertes Land im Herzen Afrikas zu finden und sich dort ein zweites Heim zu bauen. Das war Anlaß zum Stolz. Er hatte die übliche Wohnkabine in Appalachia und dazu eine Villa Stufe Zwei, außerhalb der Träume der meisten Sterblichen, an einem schlammigen Fluß in Afrika. Das war schön, sehr schön für einen Mann, dessen Seele sich gegen die höllischen Umstände des Lebens in Appalachia auflehnte.
Aber es kostete Geld, die Menschen laufend zu bestechen. Quellen hatte jeden zum Schweigen gebracht, der wissen mochte, daß er, Quellen, ein Luxusleben in Afrika führte, statt in einer drei mal drei Meter großen Zelle in Nordwest-Appalachia zu hausen, wie es sich für einen braven Siebener gehörte. Irgend jemand — gewiß Brogg hatte ihn an Koll verkauft. Und nun stand Quellen auf sehr dünnem Eis.
Eine Degradierung würde ihn sogar des Vorrechts berauben, eine Einzelkabine zu bewohnen, und er würde seine Wohnung wieder mit einem anderen teilen müssen, wie damals mit dem unbeweibten Bruce Marok. Es war nicht so arg gewesen, als Quellen sich noch unter Stufe Zwölf befunden und zuerst in öffentlichen Schlafsälen für Junggesellen und dann mit immer weniger Leuten zusammengewohnt hatte. Aber als er Stufe Acht erreicht hatte und in ein Zimmer mit nur einer anderen Person gesteckt worden war, hatte sich das als die größte Qual erwiesen und Quellen für alle Zeit verbittert.
Auf seine Art war Marok ohne Zweifel ein sehr netter Mensch gewesen, dachte Quellen. Aber er war Quellen auf die Nerven gegangen, hatte ihn mit seiner Schlampigkeit und seinen endlosen Videofongesprächen und seiner ständigen Anwesenheit gemartert. Quellen hatte sich nach dem Tag gesehnt, an dem er Stufe Sieben erreichen und allein leben konnte, nicht mehr mit einem Wohngenossen zusammen, der ihn immerzu behinderte. Dann würde er frei sein — frei, sich vor der nachdrängenden Masse zu verbergen.
Wußte Koll die Wahrheit? Quellen würde es bald erfahren.
Ruhelos ging er durch den hallenden Korridor zum Monitorflügel. Kannst ebensogut feststellen, was sie über Norm herausgebracht haben, dachte er. Das braune Metallportal glitt zur Seite, als Quellen die Handfläche auf die Ausweisplatte drückte. Er ging hinein. Überall summten Geräte. Techniker begrüßten ihn unterwürfig. In der Luft hing ein Geruch nach einer antiseptischen Chemikalie, wie in einem Krankenhaus.
»Der Pomrath-Monitorspeicher«, sagte Quellen.
»Hier entlang, KrimSek.«
»Wer ist dort tätig?«
»Er läuft auf Automatik, Sir. Hier.« Der Mann zog einen Pneumosessel heraus. Quellen setzte sich an die rotierenden Spulen eines Tonbandgeräts. Der Techniker sagte: »Möchten Sie zuerst Echtzeit-Anschluß oder erst durchgehen, was seit gestern abend aufgezeichnet worden ist?«
»Von beidem etwas«, sagte Quellen.
»Das ist der Echtzeit-Anschluß, und hier —«
»Ich weiß. Ich kenne mich mit dem Gerät aus.«
Der Techniker wurde rot und eilte davon. Quellen stellte den Echtzeit-Anschluß her und schaltete schlagartig wieder aus. Sein Schwager übte natürliche Körperfunktionen aus. Quellen biß sich auf die Unterlippe. Mit einer hastigen, eckigen Bewegung ließ er die Reservespulen laufen und hörte ab, was Norm Pomrath getrieben hatte, seit Brogg ihn überwachen ließ.
Quellen konnte sich natürlich keinen direkten Ablauf leisten. Er mußte auswählen. Er überflog das Band und fand bemerkenswertwenig Gespräche. Pomrath war gestern abend in einem Schnüffellokal gewesen. Dann war er heimgegangen. Er hatte mit Helaine gestritten. Quellen lauschte.
POMRATH: Ist mir völlig egal. Ich brauche Entspannung.
HELAINE: Aber wir haben mit dem Essen auf dich gewartet. Und du kommst vollgepumpt mit Drogen daher. Du hast nicht einmal Appetit.
POMRATH: Na und? Ich bin hier. Her mit dem Essen! Du programmierst, ich esse!
So ging es weiter, alles unerbittlicher Alltag und schrecklich langweilig. Quellen ließ fünfzehn Minuten vorlaufen und stellte fest, daß der Streit immer noch weiterging, untermalt jetzt vom Schluchzen seines Neffen und den verärgerten Kommentaren der kleinen Marina. Es quälte Quellen, daß die Familienstreitigkeiten der Pomraths so alltäglich waren. Er ließ etwas vorlaufen. Das Ohr hatte andere Laute aufgefangen. Schweres Atmen.
HELAINE: Tu deine Hand da wieder hin.
POMRATH: O Schatz, das weißt du doch.
HELAINE: Genau da. Oh! O Norm!
POMRATH: Bist du schon soweit?
HELAINE: Ein bißchen noch. Laß mir Zeit, das ist so schön, Norm.
Quellen starrte beschämt auf den Boden. Eine vage inzestuöse Lust erfaßte ihn, als er den Liebesakt der Pomraths belauschte. Er griff nach dem Schalter, zögerte, hörte plötzliche Lustschreie, biß die Zähne zusammen, als die Worte auf dem Band intimer wurden und sich in einer Flut stöhnender Seufzer auflösten.
Den Teil sollte ich löschen, dachte Quellen. Ich sollte wenigstens nicht selbst lauschen. Wie abscheulich neugierig wir manchmal sind!
Mit einer ruckhaften Bewegung ließ er das Band weiterlaufen. Nichts als Schlafgeräusche jetzt. Dann Morgengeräusche. Kinder, die herumtappten. Pomrath unter dem Molekularbad. Helaine gähnte und fragte nach den Frühstückswünschen.
POMRATH: Ich gehe heute früh weg.
HELAINE: Glaubst du, daß aus dem Stellenangebot etwas wird?
POMRATH: Was für ein Stellenangebot?
HELAINE: Du weißt schon, der Streifen, den du hattest. Mit dem Hinweis auf den Mann, zu dem du gehen sollst, wenn du arbeitslos bist.
POMRATH: Ach so, der.
Quellen wartete auf mehr. Die Telemetrie verriet ungewöhnliche Erregung bei Pomrath, eine Pulsbeschleunigung, eine Steigerung der Hauttemperatur. Trotzdem wurde das Gespräch ohne Hinweis auf Lanoy abgebrochen. Quellen ließ erneut vorlaufen. Die Zeituhr teilte ihm mit, daß er sich dem Echtzeit-Bereich näherte. Quellen schaltete sich wieder ein.
POMRATH: Sie können mich zu Lanoy bringen, ja?
Der Monitor war darauf programmiert, Alarm auszulösen, sobald der Name ›Lanoy‹ fiel. Es gab eine kaum merkliche Pause, als der Computer die Wellen von Pomraths Worten analysierte, dann wurde der Alarm ausgelöst. An der Steuertafel blinkte eine rote Lampe. Im ganzen Raum schrillten Signale. Eine Warnglocke ertönte. Pöng. Pöng.
Drei Techniker kamen herangestürzt.
Pöng.
»Schon gut«, sagte Quellen. »Ich überwache das. Schalten Sie die verdammte Alarmanlage ab.«
Pöng. Pöng.
Quellen beugte sich vor, seine Hände waren schweißfeucht, während er zuhörte, als sein Schwager den höchsten Verrat an seiner Familie beging.
Pomrath hatte an diesem Morgen eine beträchtliche Strecke zurückgelegt, natürlich ohne zu ahnen, daß alles, was er tat, in die Zentrale des Sekretariats Verbrechen übertragen wurde und man sogar seinen Herzschlag registrierte.
In den letzten Tagen hatte er viele Fragen gestellt, zumeist, bevor das Ohr angebracht worden war. Die Minizettel, die Lanoys Dienste anpriesen, waren weit verbreitet. Informationen über den wahren Aufenthalt Lanoys waren nicht so leicht zu bekommen. Aber Pomrath war beharrlich.
Er war jetzt entschlossen, fortzugehen.
Er hielt es nicht mehr aus. Helaine und die Kinder taten ihm natürlich leid. Er würde sie vermissen. Trotzdem, er hatte genug und spürte, daß er am Rand des psychischen Zusammenbruchs stand. Die Wörter verloren ihren Sinn für ihn. Er starrte oft eine halbe Stunde lang auf ein Fakband und versuchte die Bedeutung der Reihe von Symbolen auf dem gelben Blatt zu erkennen. Sie waren für ihn wimmelnde Mikroben geworden. KLOOFMAN: ARBEITSLOSIGKEIT. STEUERSATZ. DANTON. MAN-KLOOF. LOSKEITARBIGS. TONDAN. REUETSZATS. KL. OOF. LOSK. ETS TS. Tanzende Mikroskoptierchen. LOSIG. FMAN. Es wurde Zeit, fortzugehen. ANTO. ARBE. KEITS. FLOOK. FLOOK! FLOOK! FLOOK!
Kloof!
Ein einfacheres Wort, das war es, was er brauchte. Dorthin springen, wo nicht alles von Menschen überquoll — ja. Ja. Lanoy war die Lösung. Pomraths Kopf dröhnte. Er hatte das Gefühl, seine Vorderlappen schwollen an und trieben seine Stirn gefährlich auf. »Können Sie mich zu Lanoy bringen?« Sein Kopf mochte zerspringen und das Gehirn auf die Straße verspritzen. »Ich bin arbeitslos. Ich möchte zu Lanoy.« FLOOK! REUETSZATS! »Lanoy?«
Ein gedrungener Mann mit schwabbeligem Gesicht — oben eine Reihe natürlicher Zähne, unten ein fugenloses Schneidegebiß — sagte: »Ich bringe Sie zu Lanoy. Macht vier, ja?«
Pomrath bezahlte.
»Wo muß ich hin? Was muß ich machen?«
»Schnellboot. Linie Sechzehn.«
»Wo steige ich aus?«
»Sie steigen nur ein, das ist alles.«
ARB! FMAN! Pomrath begab sich zur Schnellboot-Rampe. Er ging gehorsam an Bord. Es scheint ein erfreulicher Zufall zu sein, daß jemand passenderweise zur Verfügung steht, der mir sagt, wie ich zu dem schwer erreichbaren Lanoy komme, dachte Norm. Aber kurze Überlegung sagte ihm, daß von Zufall keine Rede sein konnte. Der Mann mit dem schwabbeligen Gesicht war vermutlich ein Mittelsmann von Lanoy gewesen, auf seinen Fersen, bereit, ihn auf den richtigen Weg zu bringen, sobald der kritische Augenblick erreicht war. Natürlich. Seine Augen schmerzten. Etwas Grobes, Körniges war in der Luft, ein spezielles Gas, das auf die Augen wirkte, vielleicht freigesetzt auf Befehl der Hohen Regierung, um die Augenhornhäute der Bevölkerung zu putzen. MANK! NOTD! Pomrath kauerte in einer Ecke des Schnellbootes. Eine Figur mit Kapuze kam heran, ein Mädchen mit rasiertem Kopf, hohen Backenknochen, ohne Lippen.
»Für Lanoy?« fragte sie.
»Warum nicht?«
»Umsteigen in die Northpass-Linie.«
»Wenn Sie meinen.«
»Das ist der einzige Weg.« Sie lächelte ihn an. Ihre Haut schien die Farbe zu wechseln, auf reizvolle Weise das Spektrum durcheilend von Infragrün bis Ultrazitron. LISKGO: REUT! Pomrath zitterte. Er fragte sich, was Helaine sagen würde, wenn sie es erfuhr. Würde sie weinen? Wie bald würde sie wieder heiraten? Würden seine Kinder seinen Namen tragen? Die Pomraths ausgestorben? Ja. Ja. Denn dort würde er einen anderen Namen annehmen müssen. FMANK! Wie, wenn er sich Kloofman nannte? Höchste Ironie: mein Ur-Urenkel ein Mitglied der Hohen Regierung. Große Aussichten.
Pomrath stieg aus. Das Mädchen mit der Kapuze blieb an Bord. Woher wußten sie, wer er war und wohin er wollte? Er fürchtete sich. Die Welt war voller Gespenster. Betet für den Frieden meiner Seele, dachte er. Ich bin so müde. OOF! TON!
Er wartete an der Rampe. Ringsum stachen die Türme häßlicher Gebäude des vergangenen Jahrhunderts Löcher in den Himmel. Er hatte jetzt die Hauptsanierungszone hinter sich. Wer wußte, in welch stinkendes Viertel er mußte? Ein neues Schnellboot kam. Pomrath stieg ein. Ich bin in euren Händen, dachte er. LANOY! YONAL! Irgendeiner. Irgendeiner. Nur holt mich hier raus.
Raus!
Er fuhr nach Norden. War das immer noch Appalachia? Der Himmel war hier dunkel. Vielleicht auf Regen programmiert. Ein reinigender Guß, um die Straßen zu säubern. Was, wenn Danton einen Regen aus Schwefelsäure empfahl? Das Pflaster zischend und rauchend, die Bürger hin und her stürzend, während ihr Fleisch sich auflöste. Der Gipfel an Bevölkerungskontrolle. Tod vom Himmel. Geschieht dir recht, wenn du ins Freie gehst. Das Schnellboot hielt. Pomrath stieg aus und wartete auf der Rampe. Hier fiel Regen und klatschte auf den Gehsteig.
»Ich bin Pomrath«, sagte er zu einer netten alten Dame.
»Lanoy wartet. Kommen Sie.«
Zehn Minuten später befand er sich auf dem Land. An einem See stand eine Hütte. Gestalten eilten geheimnisvoll hinein und heraus. Pomrath wurde vorwärtsgestoßen. Eine säuselnde Stimme sagte: »Lanoy wartet hinten auf Sie.«
Er war ein kleiner Mann mit einer großen Nase. Er trug Kleidung, die zweihundert Jahre alt zu sein schien.
»Pomrath?«
»Ich glaube.«
»Was sind Sie, Stufe Zwölf?«
»Vierzehn«, gestand Pomrath. »Holen Sie mich hier heraus, ja, bitte.«
»Mit Vergnügen«, sagte Lanoy.
Pomrath blickte auf den See. Es war ein grauenhafter Anblick, totale Verseuchung. Riesige, schmierige Klumpen grober Algen quollen durch das ölige Wasser.
»Ist das nicht herrlich?« sagte Lanoy. »Sechs Jahrhunderte unaufhörlicher Verseuchung, dazwischen hochtönende offizielle Reden. Die Erneuerungszone ist nach dem letzten Stand noch zwanzig Jahre entfernt. Möchten Sie schwimmen? Wir machen hier keine Taufe, können aber eine Zeremonie abhalten, die jedermanns religiösem Geschmack entspricht.«
Pomrath schauderte.
»Ich kann nicht schwimmen. Holen Sie mich nur heraus.«
»Die Algen sind Cladaphora. Manchmal kommen Biologen her, um sie zu bewundern. Sie werden dreißig Meter lang. Wir haben hier auch anaerobische Schlammwürmer und Fingernagelmuscheln. Ganz Urzeit. Ich weiß nicht, wie sie am Leben bleiben. Sie wären entsetzt, wenn Sie den Sauerstoffgehalt des Wassers kennen würden.«
»Mich entsetzt gar nichts«, sagte Pomrath. »Bitte. Bitte.«
»Es ist auch voll von Koli-Darmbakterien«, sagte Lanoy. »Ich glaube, derzeit zehn Millionen auf hundert Milliliter. Das ist das Zehntausendfache der Sicherheitsgrenze für Menschen. Schön? Kommen Sie rein, Pomrath. Sie wissen, daß es nicht leicht ist, ein Springer zu sein.«
»Heutzutage ist gar nichts leicht.«
»Aber denken Sie an die Herausforderung.«
Lanoy führte ihn in die Hütte. Pomrath sah erstaunt, daß das Innere zum verwitterten Äußeren nicht paßte. Im Inneren war alles geordnet und sehr sauber. Eine Trennwand teilte die Hütte in zwei große Räume. Lanoy ließ sich in ein Netz fallen und lag dort schaukelnd wie eine Spinne. Pomrath blieb stehen. Lanoy sagte: »Ich kann Sie nehmen und ins Jahr 1990 kippen, wenn Sie wollen, oder in 2076 absetzen oder in fast jedem anderen Jahr. Lassen Sie sich von dem, was Sie in den Fakzeitungen lesen, nicht verwirren. Wir sind in Wirklichkeit vielseitiger, als die Leute wissen. Wir verbessern das Verfahren ständig.«
»Schicken Sie mich irgendwohin«, sagte Pomrath.
»Der richtige Ausdruck ist ›irgendwannhin‹. Aber hören Sie: Ich schicke Sie nach 1990. Können Sie das aushalten? Sie werden nicht einmal richtig die Sprache beherrschen. Sie werden einen fremdartigen Jargon sprechen, den man nicht versteht, die ganze Grammatik wird falsch sein. Kennen Sie den Unterschied zwischen ›wer‹ und ›wem‹? Zwischen ›werde‹ und ›würde‹? Kommen Sie mit den Zeiten zurecht?«
Pomrath spürte, wie das Blut in seinen Adern rauschte. Er verstand nicht, warum Lanoy diesen Kokon aus Wörtern um ihn spann. Er hatte Worte genug gehört.
Lanoy lachte.
»Lassen Sie sich von mir nicht erschrecken. Sie brauchen diese Dinge nicht zu kennen. Sie sind vergessen, schon damals. Die Leute sprachen schlampig. Nicht so schlampig wie wir heute, weil wir noch ein paar Jahrhunderte Zeit gehabt haben, die Sprache zu verhunzen. Aber sie hatten schon alle Konjugationen und Deklinationen ausgelöscht. Immerhin werden Sie zwei Wochen brauchen, bis Sie sich verständigen können. Sie können in zwei Wochen in allerhand Schwierigkeiten kommen. Sind Sie bereit, sich in ein Irrenhaus schicken zu lassen? Elektroschocks, Zwangsjacke, alle Barbareien unserer Vorfahren?«
»Holen Sie mich bloß hier raus.«
»Die Polizei wird Sie verhören. Sagen Sie nicht Ihren richtigen Namen, Pomrath. Sie sind in den Springerlisten nicht aufgeführt, und das heißt, daß Sie nie Ihren richtigen Namen angegeben haben. Versuchen Sie ja nicht, das zu tun. Erfinden Sie einen. Sie können zugeben, daß Sie ein Springer sind, wenn Sie in 1979 oder später landen. Wenn Sie weiter zurückgehen, stehen Sie ganz allein. Ich würde es, offen gesagt, nicht versuchen. Ich glaube nicht, daß Sie das Kaliber für einen solchen Ausflug aufs Geratewohl haben. Sie sind ein intelligenter Mann, Pomrath, aber durch die Sorgen zermürbt. Gehen Sie keine Risiken ein. Gehen Sie als orthodoxer Springer, und liefern Sie sich der Gnade der Vergangenheit aus. Dann geht es schon.«
»Was kostet es?«
»Hundert Kred. Eigentlich nur ein nomineller Betrag. Deckt kaum die Energiekosten.«
»Ist es ungefährlich?«
»So ungefährlich wie eine Schnellbootfahrt.« Lanoy grinste. »Es ist entnervend. Keine Hohe Regierung, die über einen wacht. Dutzende unabhängiger Nationalstaaten. Örtliche Rivalität. Steuerbehörden, die einander ins Gehege kommen. Sie müssen sehen, wie Sie zurechtkommen, aber das geht schon. Ich glaube, Sie schaffen es.«
»Es kann nicht schlimmer sein als hier.«
»Sind Sie verheiratet, Pomrath?«
»Ja. Zwei Kinder. Ich liebe sie sehr.«
»Wollen Sie die ganze Familie mitnehmen?«
»Geht das?«
»Mit Ungewißheiten. Wir müssen Sie getrennt schicken, Massebegrenzungen. Sie könnten über ein Dutzend Jahre verteilt werden. Zuerst könnten Ihre Kinder ankommen, dann Sie und Ihre Frau ein paar Jahre später.«
Pomrath zitterte.
»Angenommen, ich gehe voraus. Vermerken Sie, wo ich hingeschickt werde — nach wann, vielmehr —, damit meine Familie nachkommen kann, wenn meine Frau das will?«
»Versteht sich. Wir haben ein Auge auf Ihr Wohlergehen. Ich melde mich bei Mrs. Pomrath. Sie hat die Wahl, ob sie Ihnen folgen will. Das tun natürlich nicht viele Ehefrauen, aber sie hat die Wahl. Also, Pomrath? Immer noch dabei?«
»Sie wissen es«, sagte Pomrath.
Quellen, der das Gespräch abhörte, saß wie zu Eis erstarrt. Er konnte Lanoy nicht sehen, er wußte nicht wirklich, wo das Gespräch stattfand, aber ihm war klar, daß sein Schwager im Begriff stand, sich der Legion der Springer anzuschließen, und es gab nichts, was man dagegen tun konnte, falls Brogg und Leeward nicht noch rechtzeitig Lanoys Unterschlupf erreichten und hineinstürzten, um ihn festzunehmen.
Eine Stimme sagte: »UnterSek Brogg ruft an, Sir.«
Quellen riß sich vom Monitor los. Ein Fonapparat ohne Bildschirm wurde herangerollt. Quellen nahm den Hörer.
»Wo sind Sie?« fragte er scharf. »Haben Sie Lanoy schon aufgespürt?«
»Wir bemühen uns«, sagte Brogg. »Es stellte sich heraus, daß Brand den genauen Ort nicht kannte. Er kannte nur jemanden, der ihn zu jemandem bringen, der ihn zu Lanoy führen sollte.«
»Verstehe.«
»Aber wir haben ein größeres Gebiet abgesteckt. Wir sperren es ab und rücken mit dem Televektor an. Es handelt sich nur um eine Frage der Zeit, bis wir Lanoy selbst ausgemacht haben.«
»Wieviel Zeit?« fragte Quellen eisig.
»Sechs Stunden, würde ich sagen«, erwiderte Brogg. »Plus oder minus neunzig Minuten. Wir erwischen ihn heute ganz bestimmt.«
Sechs Stunden, dachte Quellen. Plus oder minus. Dann würde Lanoy in Gewahrsam sein.
Aber inzwischen war Norm Pomrath schon Springer.