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Die Reise auf dem Rücken des Drachen würde nicht lange dauern, hatte Desharin erklärt und Thrall hatte zugestimmt. Schneesturm musste er zwangsläufig zurücklassen. Telaron selbst versicherte Thrall, dass man sich um sie kümmern würde.

„Eure Freundschaft mit Lady Jaina ist wohlbekannt“, hatte der Nachtelf gesagt. „Wir werden uns um Eure Wolfsfreundin kümmern, bis wir sie zurücksenden können. Schneesturm ist ein edles Tier und verdient nichts Geringeres.“ Die Druiden würden sich ausgezeichnet um das Wohl des Tieres kümmern und Jaina wäre sicher in der Lage, eine friedvolle Reise zu arrangieren. Schneesturm könnte in keinen besseren Händen sein. Thrall streichelte sie ein letztes Mal hinter den Ohren, bevor er sich an Desharin wandte.

Desharin hatte seine normale Gestalt angenommen und betrachtete Thrall, als er näher kam.

„Ihr ehrt mich, indem Ihr mich tragt“, sagte Thrall zu dem grünen Drachen.

„Ihr habt einen Auftrag von Ysera erhalten“, antwortete Desharin. „Die Ehre ist ganz auf meiner Seite. Habt keine Angst. Ich werde Euch schnell und sicher tragen. Darauf habt Ihr mein Wort. Ich bürge mit meinem Leben dafür, meinen Aspekt nicht zu enttäuschen.“

„Ist sie schrecklich in ihrer Wut?“

„Gut möglich, wenn sie mit Wut erwacht. Sie ist ein Aspekt.

Sie verfügt über eine unglaubliche Kraft. Doch ihr Herz ist freundlich“, sagte Desharin. „Wir dienen ihr nicht aus Furcht, sondern aus Liebe. Es würde mich vernichten, wenn ich ihr irgendwelche Sorge bereiten würde.“

Die Worte zeugten von Respekt und Verehrung, und die tiefe Loyalität, die Ysera in ihrem Schwarm genoss, berührte Thrall.

So merkwürdig dieses Abenteuer auch war, so war er doch froh, dass er es angenommen hatte. Langsam kletterte er auf das große Wesen und dann, fast ohne Anstrengung, war der Drache in der Luft.

Thrall blieb der Atem weg bei der Magie und Macht, die Desharin ausstrahlte. Seine Hügel schlugen kräftig, die Luft strömte kühl über Thralls Haut und er stieg scheinbar mühelos aufwärts. Als er wieder atmen konnte, wollte Thrall fast lachen. Früher, so erkannte er, hatte er Tiere geritten, die fliegen konnten. Doch nun fühlte er sich, als wäre er selbst so ein Tier.

„Könnt Ihr mir mehr von Euch erzählen? Von den anderen Drachen?“, fragte Thrall. „Ich weiß nur wenig, und um ehrlich zu sein... ich weiß nicht, was davon Legende und was Fakt ist.“

Desharin lachte tief und warm. „Das werde ich, Thrall, obwohl Ihr, wenn es um die aktuellere Geschichte geht, bedenken müsst, dass ich im Smaragdgrünen Traum war und gerade erst erwacht bin. Doch ich werde Euch alles berichten, was ich weiß. Eins ist auf jeden Fall klar: Aspekte mischen sich nur äußerst selten in die Angelegenheiten der kurzlebigen Völker ein. Und der Rest meiner Art? Viele sind fasziniert von den ‚niederen Völkern‘, wie sie sie arroganterweise nennen. Wir nehmen manchmal aus Spaß ihre Gestalt an.“

„So wie die von Kaldorei.“

„Genau“, stimmte Desharin zu. „Obwohl ich jede Gestalt annehmen kann, die ich will. Auch wenn wir Individuen sind und jeder von uns ein bevorzugtes Erscheinungsbild hat, werdet Ihr bei jedem Schwarm Vorlieben für eine bestimmte Erscheinungsform finden. Zum Beispiel neigen wir grünen Drachen dazu, uns als Kaldorei zu geben, weil eine Beziehung mit dem großen Druiden Malfurion Sturmgrimm besteht, der so lange den Traum mit uns geteilt hat.“

Thrall nickte. Das klang logisch.

„Ich habe beobachtet, dass die roten Drachen gern Teil der Sin’dorei sind und die blauen sich oft für eine menschliche Gestalt entscheiden. Die bronzenen Drachen, deren Aufgabe notwendigerweise eine Reihe von Formen erfordert, scheinen gern als Gnome Gestalt anzunehmen.“

Thrall lachte. „Vielleicht genießen sie es, klein zu sein und harmlos zu wirken.“

„Vielleicht könnt Ihr sie ja fragen.“

„Ich... nein, das glaube ich nicht.“

„Ihr seid weise.“

„Ich habe ein paar Dinge gelernt“, sagte Thrall. „Hat einer von Euch jemals...“ Wie sollte er es ausdrücken? Er zuckte mit den Achseln und sagte es geradeheraus: „... versucht, eine Positionen der Macht unter den kurzlebigen Völkern einzunehmen?“

„Generell nicht, obwohl Todesschwinge es probiert hat und seine Tochter Onyxia gerade damit Erfolg hatte“, knurrte Desharin. „Und Krasus ist... war... ein mächtiges Mitglied der Kirin Tor.“

„War?“

„Er hat sein Ende gefunden.“ Das war alles, was Desharin dazu sagte, und er wurde still. Es handelte sich eindeutig um eine delikate Angelegenheit.

Thrall wechselte das Thema. „Ich habe gehört, es soll noch andere Drachenarten geben als die fünf Schwärme.“

„Das stimmt – sie sind unser aller Feinde, mit Ausnahme der Schwarzen, denen sie dienen“, sagte Desharin. „Todesschwinges Sohn Nefarian versuchte, eine neue Art zu erschaffen, die er chromatische Drachen nannte. Mithilfe magischer Experimente wollte er die Fähigkeiten aller anderen Drachenschwärme kombinieren. Die daraus entstandenen Welpen waren oftmals missgestaltet und lebten glücklicherweise nie lange. Keiner davon existiert mehr. Die Zwielichtdrachen haben eine ähnliche Herkunft, allerdings benutzte ihre Schöpferin Sinestra einige alte Drachenartefakte und die Kraft der Netherdrachen. Ihre Welpen waren robuster und lebten länger... und können feinstofflich werden.“

„Ein herausfordernder Gegner“, sagte Thrall.

„Allerdings“, stimmte Desharin zu. „Besonders, wenn sie vom schwarzen Drachenschwarm kontrolliert werden.“

Thrall beobachtete, wie das Grün von Feralas in die weiten Wasser überging, die nun die Tausend Nadeln bildeten. Thrall schüttelte den Kopf, blickte hinunter zu den Dutzenden kleinen Inseln, die einst die Spitzen der Felsformationen gewesen waren, die den Tausend Nadeln ihren Namen gegeben hatten. Die Welt hatte sich so sehr verändert. Das war ihm natürlich bekannt. Er hatte alle Berichte gehört. Doch als er jetzt das Desaster mit eigenen Augen aus der Luft sah, fragte er sich, ob die anderen Schamanen vom Irdenen Ring auch mitbekommen hatten, was er gerade sah. Und wenn nicht, ob sie es vielleicht besser sollten.

Dann flogen Thrall und Desharin schnell über die Wüste von Tanaris und Thrall konnte die kantigen Spitzen der scharfen Felsen hervorstechen sehen. Die Landschaft wirkte wie verfallene Ruinen mit mehreren merkwürdigen Gebäuden darin. Dort stand ein eckiger Turm, da ein geborstenes kuppelförmiges Gebäude, das wie eine typische orcische Hütte wirkte und... war das ein zerlumptes Segel eines Schiffs? Von oben konnte Thrall zwei Bronzedrachen erkennen, die einander umkreisten.

„Dieser Bereich“, sagte Desharin ernst, „ist der Vorhof zu den Höhlen der Zeit. Ich werde landen und zu Fuß hineingehen. Sie werden wissen wollen, warum wir gekommen sind.“

„Dessen bin ich mir sicher“, sagte Thrall.

Desharin landete, behielt aber seine Drachengestalt. Thrall wollte von ihm herunterklettern, aber Desharin sagte: „Bleibt, wo Ihr seid, mein Freund Thrall. Es gibt keinen Grund, Eure kurzen Beine mehr als nötig zu ermüden.“ Desharin wanderte durch den weichen Sand und hielt auf den Bogen eines kuppelförmigen Gebäudes zu, das halb in den Fels hineingebaut schien. Fast augenblicklich kam einer der Drachen zu ihnen herabgeflogen.

„Das ist nicht dein Reich, grüner Drache“, erklärte der bronzefarbene Artgenosse mit tiefer, wütender Stimme. „Geh, und zwar schnell. Du hast hier nichts verloren.“

„Mein bronzener Bruder“, erwiderte Desharin mit tiefem Respekt. „Ich bin hier auf Anweisung meines Aspekts.“

Die großen Augen verengten sich und der bronzene Drache blickte Thrall an, der auf Desharins Rücken saß. Er sah ein wenig überrascht aus, dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder Desharin zu.

„Du sagst, du bist im Auftrag von Lady Ysera hier“, sagte er, seine Stimme klang nun weniger einschüchternd. „Ich bin Chronalis und ich bin der Torhüter der Höhlen der Zeit. Sag mir, warum du gekommen bist.“

„Ich bin Desharin und ich bin hier, um diesem Orc zu helfen. Das ist Thrall, einst Kriegshäuptling der Horde, jetzt Mitglied des Irdenen Rings. Ysera die Erwachte glaubt, dass er Nozdormu suchen und finden muss.“

Der bronzene Drache lachte. „Oh, ich habe von Thrall gehört“, antwortete er, dann wandte er sich direkt an den Orc. „Und nach allem, was ich über Euch weiß, seid Ihr für ein so kurzlebiges Wesen nicht gerade unbedeutend. Doch ich glaube nicht, dass ausgerechnet Ihr Nozdormu finden könnt, wenn sein eigener Schwarm es nicht vermag.“

Als Kriegshäuptling der Horde war Thrall nicht besonders überrascht, dass er dem bronzenen Drachenschwarm bekannt war. Was ihn mehr erschreckte, war das Verschwinden von Nozdormu.

„Vielleicht kann der Orc etwas, was der Rest von uns nicht kann?“, gab Desharin freundlich zu bedenken.

„Sie ist zu Euch gekommen? Ysera die Erwachte?“, fragte Chronalis Thrall neugierig.

Thrall nickte und berichtete von seinem Treffen mit Ysera. Er versuchte nicht, sich selbst besser darzustellen, als er war. Und er gestand ein, die Aufgabe anfangs unterschätzt zu haben. Schließlich erklärte er, dass er nun verstand, wie wichtig sie war, nachdem er erfahren hatte, dass der Hain die Heimat der Urtume war. Er berichtete Chronalis auch von der Antwort des Feuerelementars auf seine Bitte, die Bäume nicht mehr zu schädigen.

Chronalis nickte und hörte gebannt zu.

„Ich weiß nicht, wie ich Nozdormu finden kann, wo andere doch versagt haben“, sagte Thrall geradeheraus. „Doch ich gebe Euch mein Wort, ich werde mein Bestes geben.“

Chronalis dachte nach. „Wir haben schon andere in die Höhlen gelassen, um uns zu helfen, die Zeitwege rein zu halten“, sagte er nachdenklich. „Obwohl mich die darin liegende Ironie schon amüsiert. Wenn du ihn begleiten willst, Desharin, dann dürft ihr mir beide folgen.“

„Ironie?“, fragte Thrall, als die beiden großen Drachen den sandigen Weg entlanggingen, der zuerst in eins der Gebäude zu führen schien. Doch schnell stellte es sich als Herz des Berges heraus.

„In der Tat“, sagte Chronalis und blickte ihn über seine gefalteten Flügel hinweg an. „Wie ich bereits erwähnte, erlauben wir manchmal bestimmten Sterblichen, uns dabei zu helfen, die wahren Zeitwege wiederherzustellen. Die Zeitwege stehen... derzeit unter dem Angriff einer mysteriösen Gruppe namens ewiger Drachenschwarm. Der bronzene Drachenschwarm und vor allem der Zeitlose Nozdormu sollen die Zeitwege in dem Zustand bewahren, wie sie ursprünglich waren. Wenn sie beschädigt oder verändert werden, würde die Welt, wie wir sie kennen, aufhören zu existieren. Aus uns unbekannten Gründen hat der ewige Drachenschwarm verschiedene Zeitwege infiziert und versucht, sie zu verändern. Und Eure Flucht von Durnholde, Thrall, ist eins der Ereignisse, das sie ändern wollten.“

Thrall starrte ihn an: „Was?“

„Wenn Ihr niemals Durnholde entkommen wärt, wäre die Welt heute eine andere. Ihr hättet niemals die Horde neu aufgebaut oder Euer Volk aus den Internierungslagern befreit. Und so hättet Ihr keine Hilfe gegen die Brennende Legion sein können, als die Dämonen kamen. Azeroth wäre zerstört worden.“

Desharin blickte Thrall mit neuem Respekt an. „Ah, kein Wunder, dass der Aspekt Euch für bedeutend hält“, meinte er.

Thrall schüttelte den Kopf. „Dieses Wissen lässt mich vielleicht mehr über mich selbst nachdenken, aber dabei... fühle ich nur Demut. Bitte... dankt allen, die helfen, den Zeitweg zu sichern. Um mir zu helfen. Und...“ Seine Stimme brach. „... wenn sie Taretha sehen, sagt ihnen, sie sollen nett zu ihr sein.“

„Wenn sie Taretha sehen und alles gut geht, werdet Ihr mit ihr gehen, so wie es einst geschehen ist“, erwiderte Chronalis.

Sie gingen tiefer in den Berg hinein. Thrall fühlte sich, als hätte er einen Trank zu sich genommen wie beim Ritus der Vision. Doch seine Gedanken waren klar. Er erblickte ein Haus, das wirkte, als ob es sich mitten im Stein der Höhle materialisiert hätte. Ein anderes Haus ragte in einem unmöglichen Winkel auf, der Himmel wölbte sich darüber. Himmel? In einem Berg? Die Farben Lila und Magenta waren vermischt mit einer merkwürdigen Energie. Säulen schossen hoch und stützten nichts. Bäume wuchsen an Orten ohne Wasser oder Sonnenlicht. Sie kamen an einem Friedhof vorbei. Thrall fragte sich aber nicht, wer dort wohl begraben lag. Auf der anderen Seite konnte er merkwürdige schwebende Steine verschiedener Größe erkennen. Da lebte ein Nachtelf, dort drüben war ein Schiff.

Es gab Lebewesen, wahrscheinlich Bronzedrachen. Kinder von beinahe allen Völkern liefen herum. Und sechsgliedrige goldene, schuppige Drachenbrutpatrouillen, die mögliche Eindringlinge suchten. Und daneben bronzene Drachen in ihrer natürlichen Gestalt, die ruhig über ihnen flogen.

Irgendwann blickte Thrall über die Schulter und erkannte nach wenigen Augenblicken, dass die Fußabdrücke des Drachen verschwunden waren.

„Das ist kein normaler Sand“, sagte Chronalis. „Eure Anwesenheit hier hinterlässt keine Spuren. Schaut dort.“

Und Thralls Augen weiteten sich.

Die Apparatur schwebte in der Luft vor ihm. Sie war eines Goblins oder Gnomen Geist würdig. Das Ganze sah wie ein Stundenglas aus, aber keines, wie er es je zuvor gesehen hatte.

In drei Behältern rieselte endlos Sand herab.

Und in drei Behältern rieselte der Sand endlos hinauf.

Um alle sechs und um ihre Füße herumgewunden lag ein Rahmen, der sie umgab, ohne sie zu berühren. Er drehte sich langsam und der Sand der Zeit – Thrall war klar, dass es sich darum handeln musste – rieselte hinauf und herunter.

„Das ist alles so...“ Er suchte nach Worten, konnte sie nicht finden und schüttelte einfach den Kopf vor Verwunderung.

Desharin blieb stehen und Thrall deutete das als Zeichen, abzusteigen. Nachdem er es getan hatte, nahm der grüne Drache Elfengestalt an und legte seine Hand sanft auf Thralls Schulter.

„Für alle, die keine Drachen sind, ist es schwer zu erfassen“, sagte er und fügte grinsend hinzu: „Selbst für uns andere Drachen ist es schwer zu begreifen. Macht Euch keine Sorgen. Ihr müsst die Launen der Zeitwege nicht verstehen.“

„Nein“, sagte Thrall und ließ etwas Sarkasmus in seiner Stimme mitschwingen. „Ich muss nur den Zeitlosen finden, der die Launen der Zeitwege wirklich versteht und den sonst niemand finden kann.“

Desharin klopfte Thrall auf den Rücken. „Genau“, sagte er lachend.

Ihre Blicke trafen sich und Thrall grinste. Er entschied, dass er den grünen Drachen mochte. Nach Yseras fast exzentrischem Verhalten und der kalten Distanziertheit von Chronalis schien Desharin doch eher bodenständig zu sein.

„Ich weiß nicht, wie wir weitermachen sollen“, sagte Chronalis.

Thrall blickte zu Desharin.

„Ich glaube, wir sollten uns etwas Zeit nehmen, um darüber nachzudenken, bevor wir beginnen“, sagte der grüne Drache. „Klarheit findet sich oft in der Stille und Thrall ist wohl verständlicherweise noch überwältigt von allem, was er gesehen hat.“

Chronalis senkte den goldenen Kopf. „Wie Ihr wünscht. Ihr dürft Euch frei bewegen, aber bitte – die Zeitwege sind nichts, was man sorglos betreten sollte. Das könnte leicht Euer Ende sein. Unter keinen Umständen solltet Ihr sie betreten, ohne mit einem von uns gesprochen zu haben. Ich bin sicher, Ihr versteht, warum.“

Thrall nickte. „Ja, das tue ich. Danke dafür, dass Ihr uns aufgenommen habt, Chronalis. Ich werde mein Bestes geben, um Euch zu helfen.“

„Daran habe ich keinen Zweifel“, sagte Chronalis. Er schoss hoch und schien plötzlich zu verschwimmen. Dann war er fort.

„Was...“, wollte Thrall Desharin fragen, dann erkannte er, was geschehen sein musste. Chronalis war ein Meister der Zeit und hatte einfach ebendiese Zeit beschleunigt und war bereits zurück auf seinem Posten. Thrall schüttelte den Kopf und wunderte sich.

Sie entfernten sich von den Bronzedrachen, die offenbar dringende Angelegenheiten und Aufgaben zu erledigen hatten, selbst die Kinder. Es war leicht zu erkennen, dass es keine echten Kinder waren. Ihre Gesichter und ihre Haltung zeigten die Ernsthaftigkeit ihrer Aufgaben. Bäume wuchsen hier und dort, Immergrüne, die im Sand verwurzelt waren. Es war eine der Merkwürdigkeiten dieses Ortes und Thrall zuckte die Achseln und akzeptierte es. Der Geruch nach Pinien war scharf und frisch.

Augenblicklich wurde er an seine Jugend erinnert, wie er in Durnholde aufgewachsen war. Als ihm erlaubt wurde, draußen zu trainieren, hatte er diesen Geruch oft wahrgenommen. Es war merkwürdig, wie machtvoll Geruch mit Erinnerungen verbunden war. Sowohl an gute als auch schlechte Dinge. An ein Mädchen, das alles geopfert hatte, um ihm zu helfen, an einen „Herrn“, der ihn im Rausch fast totgeschlagen hatte. Im Hügelland hatte Thrall den ersten anderen Orc gesehen und seinen Bruder für ein Monster gehalten.

„Ihr seid aufgewühlt“, sagte Desharin ruhig. „Und wenn ich recht habe, liegt das nicht nur an diesen Offenbarungen.“

Thrall nickte. „Ich wurde an einen Ort meiner Jugend erinnert“, sagte er. „Die Erinnerungen sind nicht unbedingt angenehm.“

Desharin nickte. „Kommt, Freund Thrall. Lasst uns einen Ort finden, der still und schlicht ist, bevor wir versuchen, über diese Zeitwege zu gehen. Anders als die Bronzedrachen ist für uns die Vergangenheit einfach die Vergangenheit und sollte nicht eine übermäßige Bürde sein. Wir stehen schon vor genug Herausforderungen, ohne dass wir uns darüber auch noch Sorgen machen sollten.“

Sie gingen eine Weile still nebeneinanderher, bis Desharin stehen blieb. „Dieser Ort scheint Ruhe auszuströmen“, sagte er und blickte sich um. „Hier sollten wir nicht gestört werden.“ Er setzte sich zwischen zwei Bäume und legte die Hände auf die Knie. Thrall tat es ihm gleich.

Er war angespannt, doch nicht wegen dem, was er gerade erlebt hatte. Es lag auch nicht an den Erinnerungen, die der Geruch der Bäume ausgelöst hatte. Vielmehr erinnerte er sich an das letzte Mal, als er versucht hatte zu meditieren. Es war ein entsetzlicher Fehler gewesen. Der Drache bemerkte seine Unsicherheit.

„Ihr seid Schamane und das schon seit einiger Zeit“, sagte er. „Innere Ruhe zu finden, sollte Euch vertraut sein. Warum habt Ihr solche Schwierigkeiten?“

„Nun, Ihr seid ein grüner Drache. Ihr seid mehr ans Schlafen gewöhnt als ans Wachsein“, entgegnete Thrall.

Desharin ging auf die Provokation nicht ein und nahm sich einen Moment, um sein langes Haar zurückzustreichen, während Thrall versuchte, sich zu beruhigen. Der grüne Drache schloss die Augen und atmete tief ein.

Thrall tat dasselbe. Desharin hatte recht. Natürlich war ihm das vertraut. Er beobachtete den Drachen einen Moment, seine Gedanken aber tauchten nicht tief genug ab, sondern blieben bei den Ereignissen, die kürzlich geschehen waren. Er hatte die Führerschaft über die Horde abgegeben, war nach Nagrand gereist und hatte Aggra kennengelernt. Dann war da Cairnes Tod gewesen. Und der Kataklysmus hatte die Welt aufgerissen und sie auf den Kopf gestellt. Und schließlich seine Unsicherheit und die Unfähigkeit, sich zu fokussieren. Dann noch Yseras Aufgabe und das Zusammentreffen mit den Urtumen... und letztlich dieser Drache, der vor ihm saß und der nicht wie sein wahres Ich wirkte. Vielmehr erinnerte er an einen meditierenden Nachtelfen.

Dieser Ort zerrte an den Nerven. Thrall wollte die Augen nicht schließen und sein Inneres erforschen. Er wollte in die Höhlen der Zeit.

Und das würde er, schon bald. Aber er musste sich auf so eine wichtige Aufgabe so gut wie möglich vorbereiten. Und so schloss er, wenn auch ungern, die Augen und begann, langsam und ruhig zu atmen.

Es geschah blitzschnell. Erst als er den Lufthauch spürte, der über seine Wange strich und ihn so an die Gefahr gemahnte, öffnete er die Augen. Doch da war Desharins Kopf bereits von den Schultern getrennt worden.

Thrall warf sich zur Seite und landete auf den Füßen. Er gönnte dem Leichnam seines neuen Freundes keinen Blick. Desharin war tot und Thrall würde ihm bald folgen, wenn er nicht vorsichtig war. Er griff nach dem Schicksalshammer, packte ihn und wirbelte ihn mit der Leichtigkeit und Geschwindigkeit langer Vertrautheit herum. Seine Augen waren fest auf die plötzliche Bedrohung gerichtet: Sie war groß, doch nicht so groß wie ein Orc, und sie trug eine schwere schwarze Plattenpanzerung. Stacheln ragten aus Ellbogen, Schultern und Knien hervor. Und gepanzerte Hände hielten ein großes, leuchtendes zweihändiges Breitschwert. Aber was ein Streich gegen die Körpermitte des Fremden hätte werden sollen, um dessen Rüstung wie einen billigen Zinnkrug zu zerquetschen, traf nur auf leere Luft.

Sein Feind taumelte weg und der schwere Kopf des Schicksalshammers verpasste ihn um knapp eine Fingerbreite. Überrascht verlor Thrall eine wertvolle Sekunde bei dem Versuch, den mächtigen Schlag abzubremsen und den Hammer für einen zweiten Hieb herumzuwirbeln. Sein Angreifer hatte sich bereits erholt und schlug mit seinem massiven Breitschwert auf ihn ein, das vor Magie nur so leuchtete. Der Schlag kam viel schneller, als Thrall geglaubt hatte. Der Orc hatte eine düstere Vorahnung. Wer w a r dieser unbekannte Feind? Wild, schnell, stark...

Instinktiv ließ er sich von dem Schwung des Schicksalshammers aus dem Weg des angreifenden Gegenübers tragen. Er löste eine Hand von dem Griff, hob den Hammer und rief einen starken, konzentrierten Windstoß herbei. Der Mensch – zumindest glaubte Thrall angesichts der Größe und Art der Rüstung, dass es einer war – taumelte und fiel beinahe in den weichen Sand. Erneut rief Thrall den Wind und mehrere Handvoll Sand erhoben sich und rasten auf die Vorderseite des Helms zu. Der Helm bot zwar etwas Schutz, aber nicht genug – der Sand, von Thrall geleitet, durchdrang die Augenschlitze und machte den Gegner zeitweise blind. Ein Schrei drang aus dem Helm, die Stimme eines männlichen Menschen, der vor Schmerz und Wut heulte. Er hob sein Schwert, um das Gesicht abzuschirmen. Die leuchtende Aura des Breitschwerts pulsierte rot und so wütend wie ihr Herr, dann senkte sie sich auf Thrall herab.

Thrall erkannte, dass er nicht nur einem überraschend wendigen und starken Gegner gegenüberstand, sondern zudem einem, der eine Waffe führte, die genauso mächtig war wie der Schicksalshammer.

Desharin hatte es unvorbereitet erwischt – doch das hätte nicht sein dürfen. Wie hatte dieser Mann seine Anwesenheit verbergen können? Wie hatte er sich vor einem grünen Drachen und dem ehemaligen Kriegshäuptling der Horde verstecken können? Wo waren die anderen bronzenen Drachen? Thrall dachte daran, sie zu rufen, aber sie waren wahrscheinlich zu weit entfernt: Er und Desharin hatten – närrischerweise, im Rückblick – einen abgelegenen Ort für ihre Meditation aufgesucht.

Geister der Erde, werdet ihr mir helfen?

Ein Loch tat sich unter dem eine Fuß des schwarz gepanzerten Mannes auf. Er taumelte und stürzte auf ein Knie. All seine Anmut und Kraft verwandelten sich in verzweifelte Tollpatschigkeit, als er versuchte, sein Bein zu befreien. Thrall zischte, hob den Schicksalshammer und schlug damit zu...

Es klirrte und er traf auf die Klinge des zweihändigen Schwertes. Eine gepanzerte Hand hielt die Klinge gepackt. Magie knisterte entlang der Waffe und der Mensch drückte so kräftig, dass Thrall rückwärts taumelte, als würde er von einer Riesenhand weggeschleudert. Der Mensch war wieder auf den Beinen, stand über Thrall, die leuchtende Waffe erhoben. Er stach mit dem Schwert zu.

Thrall rollte sich zur Seite, doch nicht schnell genug. Das Schwert erwischte zwar nicht seinen Oberkörper, doch es fügte ihm eine Wunde an seiner Seite zu. Thrall sprang auf die Füße.

In diesem Moment fiel ein großer Schatten über sie. Bevor er begriff, was geschah, wurde Thrall von einer riesigen Hand gepackt. Der Drache war alles andere als freundlich.

„Wir kümmern uns um den Eindringling“, grollte der Drache. „Deine Aufgabe ist es, Nozdormu zu finden!“ Und da bemerkte Thrall, dass der Drache genau auf den wirbelnden, peitschenden Umriss des Portals zu einem der Zeitwege zuflog – zu welchem, wusste er nicht.

Bevor Thrall etwas sagen konnte – oder auch nur Luft holen konnte –, ließ sich der Bronzedrache fallen und warf den hilflosen Orc durch das Portal. Bevor er darin verschwand, konnte Thrall seinen Feind hinter sich rufen hören, mit einer Stimme, die ihm merkwürdig bekannt vorkam.

„Du wirst mir nicht so leicht entkommen, Thrall! Du kannst dich da drin nicht ewig verstecken, und wenn du zurückkommst, werde ich dich finden! Ich werde dich finden und ich werde dich töten! Hörst du mich?!“

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