15

Die blauen Drachen gewannen!

Sie waren unterlegen, doch sie gewannen fraglos diese Schlacht. Die blauen Drachen waren durch das Auftauchen des neuen Aspekts ermutigt. Das Ritual hatte funktioniert, die Segnung der Titanen war erbeten und gewährt worden. Freude und Erleichterung hatten den Drachen neue Energie gegeben und die Willensstärke, zu kämpfen und sich zu schützen.

So hatte es nicht ablaufen sollen!

Blutend, ein Teil von ihm erfroren, ein Flügel von einem gezielten Angriff von Kalecgos verletzt, hielt sich Arygos nur mit Mühe in der Luft. Er fühlte sich schwach, verängstigt und an keines der beiden Gefühle war er gewöhnt.

Wie hatten die Dinge nur so schrecklich schiefgehen können?

Alles, woran Arygos im Moment denken konnte – wie ein gefangenes Tier, überlegte er mit einer Mischung aus Panik und Empörung –, war Sicherheit. Eine Höhle. Ein Ort, wo er sich erholen, ausruhen und nachdenken konnte. Es gab so einen Ort, um sich zu beruhigen und den Schrecken abzuschütteln, der sich in sein Hirn gefressen hatte wie ein dunkler Nebel.

Er blickte sich hitzig nach Kalecgos um. Da war er, groß, leuchtend und stolz. Er strahlte mit all der Macht, die er, Arygos, sich entschlossen hatte zu verkörpern. Und wie eine zusätzliche Beleidigung saß auf seinem Rücken Kalecs geliebter Orc, der wie eine Klette an ihm hing, den Hammer schwang und die Schädel von Arygos’ Zwielichtdrachen zerschmetterte.

Das Auge. Er musste zum Auge der Ewigkeit, um nachzudenken, um sich zu sammeln, um einen Plan zu entwickeln. Es war das Herz des Nexus, der Rückzugsort seines Vaters, und es rief ihn in diesem Moment der Panik. Nur dieser Gedanke brachte ihm wenigstens etwas Ruhe. Wimmernd, was so unpassend für einen Drachen war, flog er los. Wie ein Stein stieß er von der Spitze des Nexus hinab, wo der Luftkampf so unerwartet schlecht lief. Er fiel mehr, als dass er flog, im letzten Moment öffnete er die Flügel und glitt in den Eingang des Nexus hinein. Dann segelte er durch die labyrinthartigen Gänge, sein Herz raste, während die Panik ihre eisigen Klauen in sein Herz schlug.

Und dort war es, ein wirbelndes, nebliges Portal. Auf der anderen Seite wartete das Auge der Ewigkeit. Arygos flog schnell hindurch, tauchte in den Nachthimmel dieser kleinen Dimension. Einst war dort eine blaugraue Plattform gewesen, auf der man landen und sich erholen konnte, während man über die Mysterien nachdachte, die die Vergangenheit umgaben. Magische Runen hatten getanzt, waren wie leicht fallende Schneeflocken erschienen und wieder verschwunden. Der schwarze Nachthimmel war mit kalten Sternen bedeckt gewesen, er hatte sich verändert, war verdreht, und in einem Teil wirbelte nun ein blauweißer Nebel.

Die Plattform gab es nicht mehr. Sie war zerschmettert, in der Schlacht vernichtet worden, in der seinem Vater das Leben genommen worden war. Eins der herumwirbelnden Bruchstücke enthielt immer noch eine magische Kugel, bekannt als die fokussierende Iris. Malygos hatte sein eigenes Blut benutzt, um die Kugel, die seit Jahrtausenden geschlafen hatte, zu aktivieren und zu beherrschen. Mit der geöffneten fokussierenden Iris war Malygos in der Lage gewesen, mächtige Nadeln zu kontrollieren, um damit arkane Magie aus Azeroths Leylinien zu ziehen und in den Nexus zu leiten. Und es war die Öffnung der fokussierenden Iris gewesen, ein dünner Riss mit einem lang vergessenen Schlüssel, die Malygos zu seiner letzten Schlacht gelockt hatte.

Auch wenn es ihn an einen schlimmen Moment seines Leben erinnerte, war dieser Ort tröstend und vertraut. Arygos spürte, wie er sich entspannte. Er landete auf einem der sich langsam bewegenden Teile der Plattform, faltete die Flügel zusammen und öffnete das Maul. Gierig sog er die Luft in tiefen Atemzügen ein.

„Arygos?“

Der Drache öffnete die Augen und entfaltete augenblicklich seine Flügel. Wer wagte es...?

„Schwarzmoor!“ Er atmete erleichtert aus. „Ich bin froh, Euch zu sehen.“

„Ich wünschte, ich könnte das Gleiche sagen“, erwiderte der Mensch und trat vor. Er stand auf einem der anderen Plattformteile und sah zu dem schwebenden Drachen empor. Er nahm den Helm herunter und sein langes schwarzes Haar fiel herab. Seine blauen Augen flackerten zu Arygos. „Was ist passiert? Ich weiß nicht viel über Aspekte, aber ich vermute mal, Ihr seid es nicht geworden.“

Arygos wimmerte. „Nein. Sie wählten... Kalecgosss.“ Er zischte den Namen, er war so wütend und es klang so falsch. „Dieser dumme Orc – er nahm mir das Herz des Drachenschwarms, das rechtmäßig mir zusteht!“

Schwarzmoor runzelte die Stirn. „Das ist nicht gut“, sagte er.

„Glaubt Ihr, das weiß ich nicht?“ Wütend schlug Arygos mit seinem Schwanz auf die Plattform, die sich gefährlich neigte. „Das ist alles Thralls Schuld. Wenn Ihr ihn einfach getötet hättet, wie Ihr solltet...“

Die Augen des Menschen verengten sich. „Ja, und wenn Ihr Aspekt geworden wärt, wie Ihr solltet, müssten wir jetzt nicht diese angenehme Unterhaltung führen.“ Seine Stimme knallte wie eine Peitsche. „Doch keiner von uns hat, was wir haben wollten, also schieben wir unsere Wut beiseite und finden heraus, wie wir es dennoch bekommen können.“

Der Mensch hatte recht. Arygos beruhigte sich. Er musste sich konzentrieren, deshalb war er ja hierhergekommen.

„Zusammen können wir vielleicht unsere beiden Ziele erreichen“, sagte Arygos, „und den Vater des Zwielichts und Todesschwinge zufriedenstellen.“

Schwarzmoor musterte ihn. „Fahrt fort.“

„Wir beide wollen, dass Thrall stirbt. Und wir beide wollen, dass ich Aspekt werde. Kommt mit mir zurück in den Kampf, König Schwarzmoor. Nehmt Eure Rache. Wenn Ihr den Orc tötet, wird Kalec sehen, dass nicht alles so läuft, wie er will. Und wenn Kalec wankt, wird das Vertrauen des Schwarms erschüttert – diese unseligen Wyrm. Dann ist Kalecgos verwundbar und ich kann ihn vernichten.“ Er wurde aufgeregter, während er sprach, den Plan ausarbeitete, sich jeden einzelnen Schritt ausmalte. „Wenn Kalecgos erst besiegt ist, werden die blauen Drachen verzweifelt nach jemandem suchen, der sie führt, und sich mir zuwenden – so erhalte ich die Kräfte eines Aspekts, wie ich sie von vornherein hätte erhalten sollen! Alles ist dann, wie es hätte sein sollen!“

„Ist das sicher?“, fragte ihn Schwarzmoor herausfordernd.

„Nein... nicht ganz, jedenfalls. Aber zu wem sonst sollte die Kraft übergehen? Ich war der Einzige, der gegen Kalec angetreten ist. Sie werden sich mir zuwenden, wenn ich ihn als den Feigling entlarve, der er ist.“

Schwarzmoor strich mit der gepanzerten Hand durch seinen Spitzbart und dachte nach. „Mir gefallen die Chancen nicht. Ich bin nur ein Mensch. Gegen einen oder ein paar Drachen komme ich vielleicht an – aber gegen einen ganzen Schwarm?“

„Vertraut mir. Thrall wird völlig verwirrt sein, wenn er Euch sieht“, drängte Arygos. Er mochte es nicht, zu betteln, aber er brauchte den Menschen. „Und wenn Thrall tot ist, sind die blauen Drachen geschlagen. Es sind immer noch viele Zwielichtdrachen in der Luft. Gemeinsam können wir es schaffen!“

Der Mensch nickte nachdenklich. „Nun gut. Ein riskanter Plan, aber was ist das Leben ohne Risiko, was?“ Er grinste, seine weißen Zähne leuchteten, das Lächeln eines Jägers.

„Es ist nur ein kleines Risiko“, sagte Arygos, „für so eine große Belohnung.“ Er war erleichterter, als er gedacht hatte. Er kannte die Geschichte dieses Menschen, kannte seinen Hass auf Thrall. Schwarzmoor wollte diesen Orc tot sehen. So wie Arygos Kalec tot sehen wollte. Arygos flog zur Plattform, auf der der Mensch stand. Er kauerte sich so hin, dass Schwarzmoor leicht auf seinen Rücken klettern konnte.

Sie konnten es schaffen. Er wusste, dass sie es konnten. Dann wären endlich alle Hindernisse beseitigt. Er wäre Aspekt, wie er es immer hatte sein wollen.

Sein Herz hob sich mit jedem Flügelschlag, während er auf das wirbelnde Portal zuflog. Unter ihm schwebten und drehten sich die Teile der Plattform träge. Arygos sah hinunter und bemerkte, wie sich eins überschlug und so die fokussierende Iris enthüllte, die sich direkt unter ihm befand.

Der Schmerz kam plötzlich, war schockierend und scharf. Eine glühende Nadel durchdrang seine Schädelplatte. Nachdem Schwarzmoors Schwert zugestoßen hatte, blieb Arygos noch lange genug am Leben, um zu sehen, wie sein rotes Blut auf die fokussierende Iris traf und wie sie sich weit öffnete. Als er hinabstürzte, verfolgte er, wie Schwarzmoor einen gewagten Sprung von seinem Rücken auf ein sich langsam drehendes Teil der Plattform vollführte. Arygos, der Sohn des Malygos, begriff, dass er durch Verrat gestorben war.


In der einen Hand hielt Thrall den Schicksalshammer, während er die andere hob. Blitze krachten, bildeten in einer Kettenreaktion eine Zickzacklinie und bedeuteten den brennenden Tod von nicht weniger als vier Zwielichtdrachen. Der Schlag ließ sie alle erstarren, versengte sie und ihre ledrigen Flügel. Sie schrien vor Schmerz und blieben gerade noch lange genug in ihrer körperlichen Gestalt, dass Thrall von Kalecs Rücken auf einen der Zwielichtdrachen springen, den Schicksalshammer heben und ihm dem Drachen über den Schädel ziehen konnte. Er traf nicht richtig und der Drache konnte sich noch feinstofflich machen. Thrall stürzte ab. Er blickte hinunter auf den Schnee, der ihm entgegenzurasen schien. Doch dann erkannte er plötzlich Kalecs’ breiten, leuchtend blauen Rücken. Thrall landete hart darauf, aber sicher.

Thrall suchte den nächsten Feind, als der Nexus plötzlich erschüttert wurde. Licht schien von überall her zu explodieren und selbst der mächtige Aspekt wirbelte herum und stürzte. Thrall klammerte sich an Kalecs Rücken.

„Was ist geschehen?“, rief Thrall.

„Eine Explosion arkaner Magie!“, rief Kalec zurück. Sein langer, geschmeidiger Hals war gesenkt, während er hinunter auf den Nexus blickte, der immer noch magische Energien wie ein Feuerwerk versprühte. „Ich bin nicht sicher, was...“

„Die Zwielichtdrachen!“ Thrall schaute sich um, während Kalec nach unten sah. „Sie fliehen zurück zum Tempel.“

„Blaue Drachen! Zu mir!“, rief Kalec, seine Stimme klang verstärkt und tiefer und bebte durch Thralls Sehnen. „Unser Feind flieht – wir sind im Vorteil! Vernichtet sie, bevor sie zu ihrem Herrn zurückeilen können!“

Wenn Thrall geglaubt hatte, Kalec wäre zuvor schnell gewesen, konnte er jetzt kaum atmen, so pfeilschnell flog der Drachenaspekt. Die Zwielichtdrachen gaben ihr Bestes bei ihrer verzweifelten, abrupten Flucht. Sie waren so mit Fliehen beschäftigt, dass sie das Kämpfen vergaßen. Alle waren in feinstofflicher Gestalt.

Die blauen Drachen antworteten einzig mit magischen Angriffen. Die Luft zischte und knisterte vor weißer arkaner Energie, schimmerte von eisigem Frost und den plötzlichen Böen eines einzigen Schneesturms. Mehrere Gegner fielen, doch noch mehr entkamen.

Die blauen Drachen folgten ihnen, grimmig und zu allem entschlossen.


Kirygosa beobachtete das alles und war erschrocken. Sie hoffte von ganzem Herzen, dass das Böse keinen Erfolg hatte.

Sie spürte, wie ihr Bruder starb, spürte, wie seine Lebensenergie, das Blut eines Nachkömmlings des Malygos, benutzt und in einer Art kanalisiert wurde, die ihr verstörend vertraut war. Der Vater des Zwielichts schien dank der Informationen, die Todesschwinge ihm gegeben hatte, zweifelsfrei genau zu wissen, was er tat.

Sekunden nach dem Tod ihres Bruders zog ein Sturm am Himmel über dem Wyrmruhtempel auf. Schwarz-lila Wolken wirbelten wütend umher. Mit einem mächtigen Krachen entlud sich der Himmel. Kirygosa schrie auf und presste die Hände auf ihre gepeinigten menschlichen Ohren.

Blendend weißes Licht schoss nach oben und unten. Es war wie eine Lanze, die den Himmel bis ins Unendliche durchstieß und ebenso tief in die Erde eindrang. Sie erkannte es als eine Nadel, ein Werkzeug, das aus arkaner Energie bestand. Einst hatte Malygos solche Nadeln benutzt, um arkane Magie aus den Leylinien von Azeroth in den Nexus zu transferieren.

Nun wurde der Prozess umgekehrt. Die Nadel zog Kraft aus dem Nexus.

Und gefangen von der Nadel zwischen Himmel und Erde war Chromatus.

Die Spitze von fast unfassbarer magischer Energie bohrte sich in den riesigen, gesprenkelten, leblosen Körper der Monstrosität. Kirygosa zitterte, während sie es beobachtete, schlang die Arme um sich und registrierte kaum die Nadeleinstiche und Narben auf ihrer bleichen Haut. Sie wusste nur zu genau, dass sie ein Grund von mehreren war, weshalb dieser gespenstische Vorgang vor ihr ablief. Sie hatten sie für Experimente benutzt. Doch sie hatten sie aus zwei Gründen am Leben gelassen: wegen ihrer Abstammung und ihres Geschlechts.

„Du hast Glück, meine Liebe“, sagte der Vater des Zwielichts neben ihr. „Glücklich unter den Drachen bist du, dies mitzuerleben... und etwas dazu beigetragen zu haben.“

„Sieht so aus, als hätte mein Bruder einen größeren Anteil geleistet“, sagte Kiry so zornig, dass ihre Stimme rau und brüchig klang. „So also belohnt der Schattenhammer Dienst und Treue. Arygos hat für Eure Sache einen ganzen Schwarm verraten – eigentlich ein ganzes Volk – und du hast ihn getötet!“

„Ich habe ihn getötet, weil er versagt hat, nicht, weil er diente“, erwiderte der Vater des Zwielichts milde. „Und ja, so honoriert der Schattenhammer Versagen.“

„Todesschwinge schien nicht sehr zufrieden mit den Fortschritten zu sein, die du gemacht hast“, zischte Kirygosa eisig. „Du könntest der Nächste sein, nach meinem armen irregeführten Brud...“

Er zog an der Kette. Ihre Worte wurden zu einem gequälten Wimmern, als sich die Kette in ihren Hals brannte. „Ich würde meine Worte sorgfältiger wählen, Kleine.“

Sie bekam wieder Luft und einen verzweifelten Moment lang erschien ihr der drohende Tod süßer als eine Existenz als Werkzeug, das ihrem Schwarm schadete. Sie öffnete den Mund zu einer beleidigenden Antwort, als ein wildes, euphorisches Brüllen von einer aufgeregten Gruppe Kultisten unter ihnen ihr die Worte in der Kehle ersterben ließ.

Chromatus bewegte sich.

Nur ein wenig und schwer zu erkennen, aber eine Klaue öffnete und schloss sich. Der Rest von ihm lag da wie tot. Dann zuckte der mächtige Schwanz. Ein Kopf – der Schwarze – drehte sich.

Der Vater des Zwielichts lief zum Rand der Plattform. „Er lebt! Er lebt!“ Er ballte eine Faust und stieß sie in die Luft.

Die Gruppe unten jubelte noch lauter.

Die magische Nadel pulsierte. Ihre Energie bohrte sich in den belebten Körper. Mit jedem Moment, der verging, schien es Kirygosa, als würde das Monster stärker. Seine anderen Gliedmaßen begannen zu zucken. Einer nach dem anderen hoben sich die hässlichen Köpfe. Wie Tentakel eines riesigen Seeungeheuers zuckten und bewegten sie sich, sahen sich um, öffneten ihre Mäuler. Zehn Augen standen nun offen und ihre Farbe zeigte eine Übereinstimmung, die dem Rest des Drachen fehlte. Jedes Augenpaar war von hell leuchtendem Lila. Er war zwar am Leben und bewegte sich. Aber an einigen Stellen waren die Knochen zu sehen. Schuppen waren abgefallen, verwesende Haut darunter sichtbar geworden. Jedem der Köpfe schien etwas zu fehlen – ein Ohr, ein triefendes Auge...

„Chromatus!“, rief der Vater des Zwielichts. „Zu mir, mein Sohn, den ich geboren habe. Sieh mich an!“

Ein rotes Ohr zuckte. Grüne Nüstern leuchteten. Der bronzefarbene Kopf drehte sich langsam auf dem Hals. Einer nach dem anderen, zunächst noch unbeholfen, da ungeübt, folgten die Köpfe, bis alle fünf den Vater des Zwielichts ansahen.

„Unser... Vater“, sprach der bronzefarbene Kopf mit vornehmer Stimme, obwohl die Worte zunächst noch schwerfällig klangen.

Die lila Augen in dem blauen Kopf zogen sich zusammen, als ihr Blick auf Kirygosa fiel. Düsteres Gelächter dröhnte durch den blauen Kopf. Als er sprach, klang seine Stimme merkwürdig lieblich, auch wenn die Worte nur zögernd kamen.

„Hab keine Angst, kleine Blaue. Dein Bruder lebt – in mir. Wir spüren unsere Verwandtschaft.“ Die anderen Köpfe wandten sich ab, waren wenig interessiert an dem, was der blaue Kopf zu sagen hatte. „Auch du wirst dienen.“

„Niemals!“, schrie Kirygosa, deren Geist sich aufzulösen drohte angesichts der Schrecken, die sie gezwungen war mitanzusehen. „Die blauen Drachen werden dir niemals dienen! Nicht, solange Kalecgos sie anführt!“ Sie erwartete einen harten Zug an der Kette und wappnete sich gegen den scharfen Schmerz.

Stattdessen lachte der Vater des Zwielichts. „Verstehst du es denn immer noch nicht? Und ich dachte, die blauen Drachen wären intelligent!“

Sie wollte es nicht hören. Sie wollte es nicht verstehen. Aber sie bemerkte, wie ihre Lippen die Frage stellten: „Was verstehen?“

„Wofür er gemacht wurde!“

Kirygosa zwang sich, Chromatus anzusehen. Sie sah einen hässlichen chromatischen Drachen, wegen seiner fünf Köpfe schrecklicher als jeder andere, die...

„Nein“, flüsterte sie, als sie die Erkenntnis wie ein physischer Schlag traf. „Nein...“

„Jetzt... jetzt erkennst du es“, säuselte der Vater des Zwielichts, seine Stimme klang fröhlich. „Herrlich, nicht wahr, dieser kommende Untergang in all seiner Unausweichlichkeit! Es ist uninteressant, ob die blauen Drachen wieder einen Aspekt haben. Es ist uninteressant, ob Ysera erwacht ist oder ob Nozdormu gefunden wurde, selbst ob die Lebensbinderin zurückkehrt.“ Er presste die Lippen an ihr Ohr und flüsterte, als würde er ein besonders intimes Geheimnis verraten: „Chromatus lebt... damit die Aspekte sterben.“

Kirygosa verlor den letzten Halt, den sie vielleicht noch gespürt hatte. Sie warf sich auf den Vater des Zwielichts, schrie, kratzte und biss. Ihre einfache menschliche Attacke war seiner Magie nicht gewachsen – und der Kraft der Kette. Sie schrie ein einziges vergebliches Wort, als könne das die kommende Katastrophe verhindern.

„Nein!... Nein!... Nein!...“

„Ruhe!“, brüllte der Vater des Zwielichts und zerrte an der silbernen Kette.

Kiry stürzte und zuckte vor Schmerz.

„Ach nein“, fuhr der schwarze Kopf von Chromatus fort. Seine Stimme war seidig, zischend, kalt. Chromatus erhob sich langsam, aber seine Bewegungen wurden immer anmutiger, während er entdeckte, wie er seinen Körper kontrollieren konnte. „Lass die kleine Blaue ruhig reden. Es wird später umso süßer. Sie wird...“

Der rote Kopf unterbrach den schwarzen und wandte sich in Richtung Westen. Er bewegte sich ungelenk, immer noch nicht richtig vertraut mit seinem Körper. „Sie kommen“, schrie der Kopf mit klarer, kräftiger Stimme. „Ich bin noch nicht völlig erholt! Was hast du getan, Vater?“

Und Kirygosa begann zu lachen. Es schrillte ihr in den Ohren und sie wusste, dass es hysterisches Gelächter war, aber es sprudelte aus ihr heraus wie ein plötzlich gebrochener Damm. Sie hob einen zitternden Finger, wies auf die Zwielichtdrachen, die mit vollem Tempo auf den Tempel zuflogen, nicht weit dahinter ihr eigener blauer Schwarm.

„Du hast dich verrechnet!“, rief sie. „Der große Vater des Zwielichts mit all seinen wundervollen Plänen! Aber deine Drachen haben den Schwanz zu schnell eingezogen und mein Schwarm kommt, um euch zu vernichten, deine Abscheulichkeit und dich! Welchen Plan hast du nun, o weiser Mann?“

Der Vater des Zwielichts war so wütend, dass er sich gar nicht erst mit der Kette abgab. Seine behandschuhte Hand traf ihre Wange so hart, dass ihr Kopf zur Seite flog. Doch Kirygosa lachte immer noch und winkte mit den Armen.

„Kalecgos! Kalec!“

Und da war er!

Ihr Herz pochte. Weisheit und Mitgefühl hatten sich durchgesetzt. Der Aspekt der Magie war größer als jeder andere Drache und er trug in seinem strahlenden Licht eine kleine Gestalt auf dem Rücken. Es hatte lange gedauert, aber nun wurde all die Kraft weder von einem wahnsinnigen Geist geleitet noch von einem, der auf Rache und Verrat aus war. Tränen füllten ihre Augen und sie weinte vor Glück.

Er würde nicht sterben und auch keiner der anderen Aspekte. Sie schlugen endlich zu, bevor Chromatus sein volles vernichtendes Potenzial erreicht hatte.

Unter ihr warf Chromatus seine Köpfe zurück und brüllte, alle Stimmen – zischend, stark, melodisch – vereinten sich zu einer schrecklichen Symphonie. Das Monster stieß sich ab und flog hoch in den Himmel. Einen Augenblick lang wankte es, dann wurde sein Flügelschlag kräftiger und es griff an.

Kirygosa hatte vor allem in den letzten Monaten ihrer Gefangenschaft Albträume gehabt. Täglich war sie gefoltert worden, gefangen in ihrer menschlichen Gestalt. Dabei hatte sie auf den Tod gewartet. Ja, sie hatte viele Albträume durchlitten. Doch die waren nichts gegen die schreckliche Realität gewesen, die sie nun miterleben musste.

Chromatus bewegte sich ruckartig, wie eine Puppe, ein Ding, das niemals existieren dürfte. Doch er war sogar größer als der Aspekt Kalecgos. Und seine ungelenken Bewegungen liefen irgendwie schneller ab, seine brutalen Schläge waren tödlicher als die der lebendigen Drachen, egal, ob sie an seiner Seite oder gegen ihn kämpften. Er setzte mehr als physische Stärke und Beweglichkeit ein. Unter das Weiß arkaner Magie und das Lila der Zwielichtdrachenangriffe mischten sich andere Farben: das Rot vom Feuer der roten Drachen, eine smaragdgrüne Giftwolke der grünen Drachen: Chromatus kämpfte mit den Fähigkeiten aller anderen Drachenschwärme gleichzeitig.

Kirygosa konnte die Triumphschreie der Zwielichtdrachen hören, die plötzlich mit neuem Enthusiasmus kämpften. Noch vor wenigen Augenblicken hatten sie feige den Schwanz herumgeworfen, jetzt waren sie wieder eisern entschlossen und unerbittlich in ihrem Kampf.

Schon der reine Anblick dieser Obszönität war erschreckend. Dieses Monster hätte nicht sein sollen und doch war es hier, spie Feuer, benutzte Illusionen, ging mit dem Tod auf seine ungelenke Art um, die irgendwie brutal und zugleich tödlich effektiv war.

Mehrere Drachen aus Kirygosas Schwarm wurden unmittelbar von Chromatus getötet. Andere waren starr vor Schreck und wie hypnotisiert von dem Anblick des chromatischen Drachen, dass sie nicht auf die Zwielichtdrachen achteten, die immer noch in der Luft waren. Kirygosa sah, wie ein blauer Drache versuchte, von hinten an Chromatus heranzukommen. Doch mit einem einzigen, fast beiläufigen Schlag seiner machtvollen Klaue brach er ihm das Genick. Der blaue Drache war augenblicklich tot und wieder mit seinem Artgenossen vereint. Schmerzerfüllt wandte sich Kirygosa ab und verbarg ihr Gesicht. Eine feste Hand packte ihre und zog sie weg. Sie richtete ihre tränenerfüllten Augen auf den Vater des Zwielichts. Dabei hätte sie beinahe die Gesichtszüge unter der dunklen Kapuze erkannt.

„Wer lacht jetzt, kleines blaues Mädchen?“, zischte er. „Chromatus ist kaum aus dem Schlaf des Todes erwacht und sieh nur, was er tut! Sieh!“ Er zerrte sie zum Rand der Plattform, packte ihr Kinn und schob die Arme beiseite. „Sieh!“

Immerhin, dachte Kirygosa, kann er mich nicht zwingen, meine Augen zu öffnen.


Thrall konnte förmlich spüren, wie das Gefühl der Niederlage durch den blauen Drachenschwarm lief. Er fühlte es mit ihnen.

Es war ein Drache, aber ein Drache, der aus dem schlimmsten Albtraum der Verlassenen hervorgegangen schien. Er hatte fünf Köpfe, jeder von einer anderen Farbe. Das Monster bewegte sich ruckartig und war halb verrottet, als würde die Geißel zum Angriff blasen. Doch dieses Ding lebte, es war nicht untot. Jeder der Köpfe griff mit solcher Gewalt an, dass ein ganzer Schwarm, der den Sieg praktisch schon in Händen gehalten hatte, in Panik verfiel.

„Was ist das?“, rief er Kalec zu.

Der Aspekt antwortete nicht sofort. Er war zu beschäftigt, ein paar Angriffe abzuwehren. Dann schrie er zurück: „Ein chromatischer Drache!“

Thrall erinnerte sich, was Desharin ihm über diese Kreaturen berichtet hatte. Es waren Flickwerk-Monster, deren Teile aus allen fünf Schwärmen stammten. Desharin hatte gesagt, sie alle wären tot.

Dieses hier war jedoch offensichtlich sehr lebendig.

Thrall starrte eine Sekunde das Biest an, versuchte herauszufinden, was es war und was es dem blauen Drachenschwarm und selbst Kalecgos, dem neuen Aspekt, antat. Es war nur ein Augenblick der Unachtsamkeit, des Schrecks – aber es war ein Augenblick zu lang.

Das Ding griff sie an, die fünf Köpfe bereit. Der Gestank seines verrotteten Fleischs war fast übermächtig. Kalec warf sich aus dem Weg. Thrall klammerte sich mit all seiner Kraft fest. Er wähnte sich schon in Sicherheit, als etwas gegen seinen Körper krachte. Irgendetwas schlug nach ihm, als wäre er nicht mehr als eine Fliege, die auf dem Rücken eines Wolfs ritt. Obwohl Kalecs kunstvolles Manöver ihn vor einem direkten Angriff des vielköpfigen chromatischen Drachen bewahrt hatte, erkannte er, dass selbst dieser fast beiläufige Schubser ausreichte, um ihn von Kalec herunterzuschlagen.

Das ist also schließlich der Tod, dachte er, als er vom Rücken des Aspekts stürzte und auf die rauen Felsen zu krachen drohte.

Er schloss die Augen, drückte den Schicksalshammer an sein Herz und war froh, mit einer Waffe in der Hand zu sterben. Er fragte sich, ob er den Aufprall wohl spürte, bei dem sein Rückgrat zerschmettert oder sein Schädel zertrümmert würde.

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