21

Sie wandten ihm ihre müden Köpfe erwartungsvoll zu. Er sah sie der Reihe nach an. „Es funktioniert vielleicht nicht, aber ich glaube – ich glaube, es ist einen Versuch wert“, sagte er. „Das klingt vielleicht – nun, ich bitte euch einfach, mich anzuhören.“

„Mein Freund, das tun wir natürlich“, sagte Kalec. „Und ich hoffe mit meinem ganzen Wesen, dass Ihr eine Lösung für uns habt.“

„V...vielleicht. Hier sind vier Aspekte versammelt: die Lebensbinderin, die erwachte Träumerin, der Hüter der Magie, der Wächter der Zeit. Es fehlt nur einer und das ist der Erdenhüter. Ich bin Schamane. Ich arbeite mit den Elementen. Ich könnte nichts tun, um euch zu helfen, wenn einer von euch fehlen würde. Ich könnte nicht in die Rolle schlüpfen, die einer von euch vieren besetzt. Aber euch fehlt weder Magie noch die Herrschaft über die Zeit oder die Kraft des Lebens oder das Wissen der Traumerzeugung. Euch fehlt die Erde. Und das... nun, ich weiß, wie man damit arbeitet.“ Er hoffte, dass sie nicht wütend wurden. Er, ein einfacher Schamane, bot an, den Platz eines Drachenaspekts einzunehmen.

Ysera richtete sich auf. Nozdormu beobachtete ihn abschätzend und Alexstrasza blickte unsicher zu Kalecgos.

„Ich wusste, dass Ihr wichtig sein würdet“, sagte Ysera glücklich. „Ich wusste nur nicht, wie.“

„Bitte fühlt Euch nicht angegriffen, mein Freund“, sagte Kalec. „Aber... Ihr seid nicht mal ein Drache, schon gar kein Aspekt.“

„Das weiß ich“, sagte Thrall. „Aber ich habe Jahre damit verbracht, mit den Elementen zu arbeiten. Und ich habe viel gelernt während meiner Reise.“ Er sah zu Nozdormu. „Ihr wisst, dass das stimmt.“

Der Zeitlose nickte langsam. „Ihr habt Einsicht erlangt, die Ihr vorher nicht hattet“, sagte er. „Die Sorte Einsicht, die den Geist beruhigt, statt ihn aufzuwühlen. Es ist nichts Schlechtes, das zu versuchen.“

„Aber wie könnt Ihr uns helfen, Thrall?“, fragte Alexstrasza. „Ihr könnt nicht mit uns gemeinsam kämpfen.“

„Ich wiederhole es, Lebensssbinderin, hier geht es nicht um individuelle Taten in der Schlacht“, fuhr Nozdormu fort. „Es geht darum, unsere Esssenzen zu vereinen. Offensichtlich kann Thrall nicht selbst angreifen. Aber er kann uns möglicherweise über seinen Geist die Unterstützung bieten, die uns sonst nur ein anderer Aspekt liefern könnte. Ich sage dir, sonst gibt es keine Hoffnung. Keine. Jeder Aspekt allein wird fallen und es wird dasss Ende sein: Zuerst sterben die Drachenschwärme, dann ganz Azeroth. Ich... habe dasss Ende gesehen.“

Das hatte Ysera auch, die ihnen davon berichtet hatte. Nozdormus Stimme war düster und Thrall spürte, wie ihm ein Schauer über den Rücken lief. Doch merkwürdigerweise dachte Thrall nicht weiter darüber nach. Er spürte direkt in seinem Herzen einen Weg, den er nicht recht beschreiben konnte. Es schien Jahre her zu sein, dass er abgelenkt und unentschlossen gewesen war, dass er beim Versuch des Irdenen Rings, die Elemente zu beruhigen, versagt hatte. Seine gestärkte Verbindung mit dem Geist des Lebens machte die Arbeit mit den anderen Elementen leicht – sogar freudvoll. Die Erde enthielt Leben, sie nährte die Samen und die Wurzeln, die wiederum von den Tieren gefressen wurden. Der Geist der Erde und der Geist des Lebens würden ihn nun willkommen heißen. Sie würden ihm vertrauen. Er konnte sie sanft leiten, auch wenn er mit den vier Drachenaspekten zusammenarbeitete. Die Erde war riesig, ihr Geist war groß und Thrall wusste, dass er sein Ziel erreichen konnte.

„Lasst es mich wenigstens versuchen“, sagte er.

„Mein Schwarm hat getan, was wir einst für unmöglich gehalten haben“, sagte Kalecgos. „Wir haben einen neuen Aspekt erwählt. Nach allem, was ich von Thrall, Chromatus und meinem eigenen Schwarm weiß, glaube ich, es könnte vielleicht funktionieren. Ich sage, lasst es uns versuchen.“

„Ja“, sagte Ysera. „Thrall hat hier immer noch eine Rolle zu spielen. Die Puzzlestücke in meinem Kopf passen noch nicht wirklich zusammen.“

Alexstrasza sah ihn freundlich an. „Ihr habt mir geholfen, mein Herz zu öffnen, als ich dachte, es wäre ein für alle Mal gebrochen. Wenn Ihr glaubt, Ihr könnt diese Dinge tun, dann bin auch ich bereit, es zu versuchen. Aber bitte... beeilen wir uns.“

„Es ist ein altes, formelles Ritual“, sagte Thrall. Er glitt von Torastraszas breitem Rücken. „Ich mache, so schnell ich kann. Könntet ihr vier eure menschliche Gestalt annehmen?“

Schnell folgten sie seiner Bitte. Thrall blickte auf die Hoch- und Halbelfen. Drei der Aspekte hatte er bereits so gesehen, aber nicht Nozdormu, dessen Aussehen völlig anders war. Die übrigen hatten sich allesamt schöne Gestalten ausgesucht, voller Anmut. Einige behielten ihre Hörner, andere nicht. Nicht so der Zeitlose. Während er einen schlanken, aber starken, elfenähnlichen Körperbau hatte, schien daraus Sand zu strömen. Er trug simples weißes Leinen und sein Gesicht war wie das einer Eule – weise und ruhig.

„Ich habe bereits an ähnlichen Zirkeln teilgenommen“, begann Thrall, der sich nun auf das bevorstehende Ritual konzentrierte und nicht auf Nozdormus überraschendes Erscheinungsbild, „aber niemals mit so mächtigen Teilnehmern.“

„Wir vertrauen Euch“, sagte die Lebensbinderin und lächelte.

Thrall war tief bewegt. Er dachte an Aggra. Sie konnte ihm in diesem Moment sicherlich nicht mangelnde Demut vorwerfen.

„Ich werde den Kreis beschwören und das Einverständnis der Elemente erbitten“, sagte er. „Offensichtlich müssen wir diese Aufgabe bewältigen, um zu einer anderen zu gelangen. Eure Herzen und Geister, alles, was euch zu euch macht, macht euch auch zu einem Aspekt. Das ist nicht die Zeit für Geheimnisse, auch nicht zum Selbstschutz. Ich bin geehrt, dass ihr mir vertraut. Aber ihr müsst auch euch selbst trauen – und jedem anderen. Nehmt euch an den Händen, stärkt diese Verbindung. Seid ihr bereit?“

Sie blickten einander an, nickten und taten, was er verlangte. Thrall nahm einen tiefen Atemzug – durch die Nase ein, durch den Mund aus – und ließ sich an einen friedlichen Ort fallen. Er sah nach Osten, der schon seit Langem mit dem Element der Luft verbunden war.

„Gesegneter Osten“, sagte Thrall, seine Stimme stark und klar. „Du neuer Anfang, wo die Sonne aufgeht. Die Heimat der Luft, die den Geist belebt und die Gedanken regiert. Ich ehre und...“

Sie kommen!“ Der gequälte Ruf erfüllte die Luft.

Thrall öffnete die Augen, seine Konzentration schwand. Plötzlich hörte er das nun vertraute Dröhnen Hunderter ledriger Flügel, die in der Luft schlugen. Die Zwielichtdrachen waren zurückgekehrt. Und dieses Mal würden sie gewinnen. Geschwächt, wie die Aspekte waren, würden sie als einzelne Wesen nicht gegen den wiederbelebten Chromatus ankommen, wenn er erst ins Gefecht eingriff.

Thrall empfand bittere Verzweiflung. Er war so überzeugt gewesen, dass es funktionieren würde – so voll Hoffnung –, und sie waren so nahe dran gewesen. Und nun war keine Zeit mehr, das Ritual zu beenden.

Etwas blitzte in seinem Geist auf.

Es war noch Zeit, erinnerte er sich.

Bilder erfüllten plötzlich seinen Geist: die aufgehende Sonne, stark und lebensspendend. Die Freude, die mit neuen Ideen kam, lebhafte Gespräche, Durchbrüche und Erfolge und neue Anfänge.

Zu seiner Überraschung sah er die Aspekte einander ansehen, nicken und lächeln, und er wusste, dass sie durch ihn diese Bilder auch sehen konnten.

Und das war alles in der Zeit geschehen, die ein Auge zum Blinzeln brauchte.

Nun waren diese Bilder in ihm – von Lagerfeuern, dem Dschungel des Schlingendorntals, den glutheißen Landen von Durotar. Das war das Feuer, dessen Heimat der Süden war, das allen lebenden Wesen die Leidenschaft gab, ihre Ziele und Träume zu erreichen.

Schwach konnte Thrall die Geräusche der Drachen hören, die um ihn herum kämpften: die Wutschreie, das Brüllen des Schmerzes. Er konnte das brennende Fleisch riechen. Er hielt die Augen fest geschlossen. Noch ein Moment und sie konnten helfen.

Noch ein Moment...

Schnell kamen die Bilder vom Westen: Ozeane, Wasser, Tränen an diesem Ort des Herzens, tiefe Gefühle.

Und dann der Norden, das Reich der Erde. Thrall sah Berge und Höhlen und den lautlosen, friedlichen Schleier des Winters auf dem Land.

In den tanzenden Bildern ihrer geteilten Visionen saßen sie nicht länger auf dem kalten Stein, auf der Spitze eines Berges auf dem Dach der Welt. Ersah jeden der Aspekte, aber nicht, wie sie gerade tatsächlich aussahen, mit umklammerten Händen, nicht einmal, wie sie in ihrer Drachengestalt aussahen.

Thrall sah nicht, was sie waren, sondern wer sie waren, und ihre Schönheit war fast überwältigend.

Die sanfte Ysera, ein leuchtender grüner Nebel, die Essenz der Schöpfung, des Wandels und des Wachsens. Du bist gebunden an den erwachenden Traum der Schöpfung. Die Natur ist dein Reich und alle Dinge erhaschen einen kurzen Blick auf den Smaragdgrünen Traum, wenn sie schlafen. Du siehst sie alle, Ysera. Und sie sehen dich, obwohl sie es vielleicht nicht wissen. Wie die Lebensbinderin berührst du alle lebenden Wesen und singst ihnen die Lieder der Schöpfung.

Die Aspekte seufzten leise und Thrall verstand, dass er irgendwie hörte, was einer der Titanen in dem Augenblick gesagt hatte, als Ysera ihre Kräfte erhalten hatte. Die Stimme in ihrem Kopf war tot, aber nicht der Sinn für Ehrfurcht.

Ehrwürdiger Kalec, ein Splitter glitzernden Eises, so schön wie ein Edelstein, schimmernder Kern der arkanen Magie, die Magie der Macht und der Zauber und der Runen, selbst des Sonnenbrunnens. Magie der Gedanken, des Verständnisses, der Verbindung. Ich glaube, du wirst herausfinden, dass mein Geschenk an dich nicht nur eine tiefgründige Pflicht ist – was sie natürlich auch ist –, sondern auch eine Freude! Magie muss reguliert werden, verwaltet und kontrolliert. Doch sie muss auch wertgeschätzt werden und nicht gehortet. Das ist der Widerspruch, mit dem du zurechtkommen musst. Möge es dir eine Pflicht sein... und gleichzeitig eine Freude.

Die Schlacht über ihnen tobte nach wie vor. Thralls Herz schmerzte, aber er schloss die Geräusche aus, schloss das Verlangen aus, seinen Kriegsschrei auszustoßen und sich in den Kampf zu stürzen. Es war Zeit dafür, wenn...

Zeit...

Der Sand der Zeit rieselte hoch und hinunter, in alle Richtungen – Vergangenheit und Zukunft und dieser wertvolle Moment.

Dir ist die große Aufgabe auferlegt, die Zeit rein zu halten. Wisse, dass es nur eine wahre Zeitlinie gibt, doch es gibt auch alle anderen, die sonst möglich wären. Du musst sie beschützen.

Ohne die Wahrheit der Zeit wird mehr verloren, als du dir vielleicht vorstellen kannst. Der Stoff der Realität wird sich auflösen. Es ist eine schwere Aufgabe – die Grundlage edler Aufgaben dieser Welt, weil nichts ohne die Zeit geschehen kann.

Und Alexstrasza...

Thrall liebte sie. Wie hätte er nicht? Wie konnte auch nur irgendjemand die feurige und gleichermaßen sanfte Essenz der reinen Herzensenergie nicht lieben? Sie war wie eine Kohlenpfanne in kalter Nacht; das Leben, das in einem Samen oder einem Ei steckt; war wie alle wachsenden Dinge hell und schön. Kein Wunder, dass die Schwärme aller Farben sie verehrten. Kein Wunder, dass sie der letzte Gedanke von Korialstrasz gewesen war, bevor er so viel zerstörte, aber dadurch auch so viel mehr bewahrte.

Das ist mein Geschenk – Mitgefühl für alle lebenden Dinge. Die Neigung, sie zu schützen und zu nähren. Und die Fähigkeit, zu heilen, was andere nicht heilen können, zu gebären, was andere nicht gebären können, und selbst die Unliebbaren zu lieben – die diese Zuneigung sicher mehr brauchen als andere Seelen.

Und er selbst...

Er fühlte sich tief verwurzelt, weise. Thrall wusste sehr gut, dass es nicht sein eigenes Wissen war, das er wahrnahm, sondern das Wissen der Erde. Hier hatten die Urtume ihre Wurzeln geschlagen, hier, wo sich Knochen im Laufe der Zeit in Stein verwandelten. Er fühlte sich größer, als er je gewesen war, weitreichender – die ganze Welt in seinem Geist.

Meine Gabe an dich wirkt klein, verglichen mit denen, die den anderen verliehen wurden: die Verwaltung der Zeit, die Liebe, das Träumen und die Magie. Ich biete dir die Erde. Den Boden, den Grund, die tiefen Orte. Denn die Erde ist die Basis aller Dinge. Dort sind wir verwurzelt. Wo du herkommen musst, wenn du gehen willst. Von hier kommt wahre Stärke. Aus tiefen Orten... in der Welt und in dir selbst.

Der Segen war eigentlich nicht für seine Ohren bestimmt gewesen. Aber in diesem Moment dann doch.

Die Energien der fünf Aspekte standen zusammen, wie sie es seit Jahrtausenden nicht mehr getan hatten.

Und dann geschah es.

Die Bilder, die die Aspekte und Thrall in diesem spirituellen Zustand zu sehen bekommen hatten, explodierten. Es geschah nicht mit Gewalt oder wütend, sondern als könne die Freude nicht länger einer Struktur oder einer Gestalt innewohnen. Wie ein Feuerwerk schnellte die Essenz dessen empor, wer oder was jeder Aspekt wirklich war. Sie trafen sich, die Farben von jedem, Bronze, Grün, Rot, Blau und Schwarz, und verwoben sich miteinander.

Wie Adern und Fäden zu einem Muster.

... wenn man einen Teil auftrennen will, reicht es aus, an einem losen Faden zu ziehen.

Nein, dachte Thrall plötzlich, als ihm die Worte wieder einfielen, die Medivh in den Zeitwegen gesprochen hatte. Nicht „weben“. Fäden konnten gezogen oder zerrissen werden. Doch sie mussten nicht verwebt werden, sondern durchmischt...

Thrall stellte sich seine Farbe vor, ein reines, friedvolles Schwarz, das sich mit den anderen tanzenden Farben der Aspekte mischte. Sie verstanden augenblicklich und jeder brachte seinen Teil ein. Die Farben begannen sich zu mischen, nahmen eine einzige Farbe an...

„Er kommt!“

Die Stimmen der Wachen zerstörten den Moment. Thrall mühte sich, an diesem heiligen Ort zu bleiben, sich ruhig zu lösen. Doch es gab zu viel Drängendes. Noch bevor er die Augen geöffnet hatte, waren die vier Aspekte nach oben geschossen, nahmen ihre wahre Gestalt an und stiegen in den Himmel. Als die Drachen hochsprangen, schlugen ihre Flügel einen Moment lang wild und Thrall dachte, er würde zurückgelassen. Doch da wurde er von einer riesigen Pfote hochgenommen. Er wandte den Hals und sah Tick, die den Orc schnell auf ihre Schulter setzte.

Gleichzeitig stürzte der verfaulende chromatische Drache in vollem Tempo auf seine Gegner zu.

„Habt ihr wirklich geglaubt, wir hätten euch vergessen?“, rief eine Stimme, die nicht Chromatus gehörte.

Thrall blickte auf und erkannte im Mondlicht, dass eine kleine Gestalt auf Chromatus’ riesigem Rücken kauerte. Das musste der Vater des Zwielichts sein.

Die Kultisten, die Torastraszas Angriffe überlebt hatten, saßen ebenfalls auf dem Rücken des Drachen. Sie schwangen ihre Waffen, die Thrall im schwachen Licht glitzern sehen konnte. Und sie kannten garantiert einige Zauber und waren dadurch auf die Entfernung noch größere Gegner. Er erkannte, dass sie die Entscheidung suchten und der Vater des Zwielichts würde verlieren, was nötig war, um letztlich zu siegen.

Thrall brauchte mehrere Minuten, um all das zu verarbeiten. Er wusste nicht, ob die Zeremonie, die er gerade geleitet hatte, tatsächlich funktioniert hatte. Er hätte sich mehr Zeit gewünscht – Zeit, damit sich die Aspekte voll integrieren konnten. Damit sie sich vollständig mischten und in eine neue Art des Seins übergingen, bevor sie ihre volle Aufmerksamkeit auf Chromatus und den Kult wendeten. Doch solche Gedanken waren im Moment nicht wichtig, wie er erfahren hatte. Er hatte in der zur Verfügung stehenden Zeit getan, was er konnte, und ein erwartungsvoller Friede legte sich bei diesem Gedanken auf seine Seele.

Offensichtlich hatten sich die Aspekte schneller erholt als er, obwohl sie das Ritual, durch das er sie geführt hatte, nicht gekannt hatten. Thrall wagte zu hoffen, dass es so war, weil sie das Richtige taten – etwas, was sie die ganze Zeit schon hätten tun sollen. Sie bewegten sich schnell und mit grimmiger Entschlossenheit auf Chromatus zu. Der hielt inne und schwebte in der Luft, schlug mit seinen merkwürdig verbundenen Flügeln, bevor er die Mäuler aller fünf Köpfe aufriss. Flammen, Eis, grüne Energie, Sand und eine schreckliche schwarze Wolke hüllten die Aspekte ein. Alle vier wurden zurückgeworfen, getroffen von einer Kraft von fünf parallel einschlagenden Zaubern.

„Nein!“, rief Thrall, doch sein Ruf kam in dem Moment über seine Lippen, als sich die Aspekte bereits erholten. Sie fingen ihren Taumel ab – anmutig und vereint wie schon zuvor setzten sie ihren Angriff fort.

Thrall brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass er sie deutlicher erkennen konnte, als es hätte möglich sein sollen. Und plötzlich wurde ihm klar, dass jede Gestalt, obwohl ihre Farbe geblieben war, von einem goldweißen Licht umgeben war. Während er zusah, schien dieses Licht zu knistern und zu pulsieren. Ihre Haltungen strahlten... irgendwie Ruhe aus. Zwar unbeirrt, aber nicht drängend. Sie hatten ein Ziel und erreichten es als geschlossene Einheit, nicht als vier Individuen.

Auch Chromatus schien das zu bemerken. Er schoss plötzlich hoch, wirbelte herum, sein Körper angespannt und alarmiert. „So“, bellte der schwarze Kopf. „Ihr glaubt, ihr könnt mich besiegen, indem ihr euch vereint. Ich spüre die neue Einigkeit unter euch. Wisset, dass ihr garantiert versagen werdet. Wie nett. Aber ihr werdet nie vollständig sein! Euch fehlt jemand, oder habt ihr das vergessen? Todesschwinge ist mein Patron und er will, dass ihr alle vernichtet werdet!“

Die Stimme hatte lauter geklungen, als sie es tatsächlich gewesen war, dröhnend und schrecklich. Thrall konnte seine Augen nicht von dem Spektakel lösen, obwohl er seinen Freunden in diesem vielleicht letzten Gefecht unbedingt helfen wollte. Und letztlich war er ja jetzt ein elementarer Bestandteil von ihnen. Deshalb hatte er auch solche Probleme, wieder er selbst zu werden: weil ein Teil von ihm immer noch mit den Drachenaspekten verbunden war.

Sie hatten Todesschwinge für das Ritual nicht gebraucht. Sie hatten die Erde. Sie hatten Thrall und für diese kleine Weile hatte der Geist des Lebens ihm die Stärke verliehen, die ihnen einst von den Titanen persönlich gewährt worden war.

Gerade als er seine Rüstung gegen die Robe austauschte, um eine andere Art von Schlacht zu schlagen – eine, um die Erde zu beruhigen und zu heilen –, musste Thrall erkennen, dass er seine Fähigkeit als Individuum gegen etwas Größeres eingetauscht hatte. Er war kein Aspekt, konnte nie einer sein. Aber er half dabei, sie aneinander zu binden, damit sie tun konnten, was sie tun mussten.

Tick stellte Thralls plötzliche Untätigkeit nicht infrage, kämpfte selbst aber weiter. Sie wirkte einen Zauber, der mehrere Zwielichtdrachen einzufrieren schien, und Thrall erkannte, dass für diese Unglücklichen die Zeit selbst stehen geblieben war. Tick stieß nun herab und griff an, schlug mit den mächtigen Klauen zu und traf sie hart mit ihrem riesigen Schwanz. Thrall sah zu, doch seine wahre Aufmerksamkeit war weiterhin darauf gerichtet, den Aspekten zu helfen, ihre neu entdeckte Einheit zu wahren.

Er schüttelte den Kopf und fand es plötzlich schwer, sich zu konzentrieren. Warum? Vor einem Moment war er noch so hoch konzentriert. Seine Gedanken wirbelten durcheinander, entglitten seinem Griff. Plötzliche Furcht erfasste ihn. Er war der Anker, was half es da... was?

Wütend kratzte sich Thrall mit der linken Hand am rechten Arm, der Schmerz half ihm, sich zu konzentrieren. Seine Gedanken gingen drunter und drüber. Er blickte auf und sah die Gestalt auf Chromatus die Hände nach ihm ausstrecken – und diese Gestalt war ein lilablaue Wellen werfender Schatten über ihm. Thrall knurrte, grub sich die Nägel tiefer in den Arm und kämpfte dagegen an.

Chromatus schüttelte seine hässlichen Köpfe. Das krankhafte Grün, das alle zehn Augen ausstrahlten, war ein düsteres Abbild der Strahlung, das die Aspekte umgab, während sie gewandt um ihn herumflogen. Ein lilafarbenes Licht erhellte die missgebildeten Gesichtszüge auf grausige Weise. Und als er sich spannte und seine Mäuler öffnete, glaubte Thrall, er würde wieder etwas derart Düsteres, Böses und Unnatürliches bekämpfen wie die Brennende Legion.

Wo zuvor jeder der fünf Köpfe des Monsters noch einzeln gekämpft hatte, agierten sie nun als Einheit. Alle Köpfe zogen sich zurück, inhalierten tief und dann öffneten sich fünf Mäuler zum Angriff. Diesmal wurden aus fünf einzelnen Farben von fünf einzelnen Köpfen dunkelviolette Flammen, die das schimmernde goldweiße Licht angriffen. Mehr als einer der Aspekte schrie vor Schmerz und Thrall sah Kalecgos und Ysera im selben Moment kurz zusammenbrechen. Ihre Farben verdunkelten sich, als die Strahlung nachgab, dann leuchtete sie in neuer Stärke wieder auf.

Die Aspekte stießen wie zuvor hinab, koordiniert und elegant, und als sie ihre riesigen Mäuler öffneten, schien weißes Feuer förmlich daraus zu explodieren. Es war nicht das leichte Lavendel der arkanen Magie noch sah es überhaupt aus wie ein Zauber, den Thrall je gesehen hatte. Es war Atem in der Gestalt einer Flamme, das reinste Weiß, dass Thrall je erblickt hatte. Sie alle zielten auf denselben Punkt – Chromatus’ Brust, die frei lag, weil alle fünf Hälse sich zurückgezogen hatten, um einen zweiten giftigen Atemangriff zu starten.

Thrall musste seine Augen abschirmen, so blendend hell war das Licht, als es auftraf. Vier Ströme von strahlendem Weiß krachten in den großen Drachen und ließen ihn taumeln. Chromatus schrie vor Schmerz. Er verlor für einen Moment die Kontrolle, bevor er ungelenk mit den Flügeln flatterte, um sich abzufangen. Seine Köpfe handelten nicht länger in schöner Einträchtigkeit, sondern zuckten wild und stießen dunkle Flammen aus, verpassten ihre Ziele aber weit. In seinem verzweifelten Kampf, die Kontrolle zurückzugewinnen, tat er nichts anderes, als seine bereits geschwärzte Brust erneut zu entblößen.

Wieder stießen die Aspekte vereint den Atem aus, erschufen die merkwürdige Flamme, die eigentlich keine war, und lenkten sie auf das Herz des chromatischen Drachen. Er bockte und zuckte, seine Köpfe verdrehten sich und er stieß noch Flüche aus, als sich sein Körper bereits zusammenzog.

„Ihr könnt mich nicht aufhalten!“, schrie der blaue Kopf und dann fiel er mit geschlossenen Augen zurück.

„Ich kenne all eure Geheimnisse“, warnte sie der rote Kopf, bevor auch sein Lebenslicht erlosch.

Am erschreckendsten war der schwarze Kopf. „Ihr musstet euch vereinen, um auch nur den Versuch zu starten, mich zu vernichten! Glaubt ihr, Todesschwinge zu besiegen, wird leichter? Er wird diese Welt zerreißen, euch zermalmen! Und ich werde dort sein mit...“ Es gab ein letztes Zucken, ein raues Krächzen vom schwarzen Kopf und dann starb Chromatus.


Der Vater des Zwielichts klammerte sich verzweifelt an Chromatus, als die beiden in Richtung Erde stürzten. Sein Geist war taub vor Schreck. Er fand kaum genug Entschlusskraft, um einen Schild zu erschaffen, der ihn schützte. Schon vor wenigen Augenblicken, als der Drache verletzt worden war, waren dem Vater des Zwielichts Fragen durch den Kopf geschossen. Was war mit den Aspekten geschehen? Wo hatten sie diese neue Fähigkeit her? Was war das? Wie konnte so etwas geschehen? Chromatus war doch unverwundbar!

Und dann verschwanden alle Fragen hinter der Panik. Er klammerte sich an einen toten Drachen und stürzte auf schartige Felsen und Schnee zu.

Er schloss die Augen. Der große Körper landete mit einem lauten Schlag und der Vater des Zwielichts schrie auf, als er in einen Schneehaufen fiel. Heftig zitternd bahnte er sich einen Weg aus dem pudrigen Schnee. Er war dankbar, irgendwie überlebt zu haben, doch erschrocken über den Widerhall des Versagens. Er streckte die Hände zu Chromatus aus und versuchte, irgendwelche Lebenszeichen zu spüren.

Es gab keine. Allerdings – der Drache war weder tot noch untot. Kein Atem, keine Bewegung, kein Herzschlag, aber genauso wenig war da die Leere eines Leichnams. Er befand sich in einer Art Übergangsstadium. Ihm fehlte der Funke des Lebens. Und der Vater des Zwielichts wusste, dass es einen anderen Weg gab, wie der Körper wiederbelebt werden konnte. Das war immerhin schon mal etwas. Wäre Chromatus völlig zerstört worden, wäre auch der Vater des Zwielichts lieber im Kampf gestorben. Denn das wäre süß und schmerzlos gewesen im Vergleich zu dem, was Todesschwinge mit ihm gemacht hätte. Oder ihm immer noch antun konnte.

Seine Kleider waren durchnässt und klebten an ihm, ihm drohte ein unrühmlicher Tod durch Erfrieren, während er sich den Weg durch den Schnee bahnte, über Felsen, an dem gefallenen Leichnam vorbei zu einem kleinen Überhang. Die kleine Kugel, die er benutzte, um mit Todesschwinge Kontakt aufzunehmen, war noch unversehrt. Es brauchte schon mehr als einen solchen Sturz, um das Artefakt zu beschädigen. Mit tauben Fingern holte er es aus dem Beutel an seiner Hüfte und betrachtete es einen Moment lang. Er überlegte, ob er einfach versuchen sollte zu verschwinden – aber wie? Er war allein, mitten im Nirgendwo, mit roten, grünen, bronzenen und blauen Drachen überall, wohin das Auge blickte – ganz zu schweigen von vier Aspekten, die es irgendwie geschafft hatten, mehr Kraft zu vereinen, als er sich je hatte vorstellen können.

Nein. Todesschwinge hatte viel Zeit und Mühe investiert, den Vater des Zwielichts zu erschaffen. Er würde ihn nicht aus einer Laune heraus vernichten. Chromatus lebte nicht mehr – aber er war auch noch nicht tot. Das musste reichen.

Unter den erbärmlichen Schutz gekauert, legte der Vater des Zwielichts die Kugel in den Schnee und kniete davor. Er zitterte stark. Die Kugel war klar, mit der tintigen Schwärze, in der nur das orangegelbe Leuchten eines Auges zu sehen war. Eine Sekunde später knackte die Kugel auf. Dichter schwarzer Rauch strömte aus ihr heraus und erfüllte den begrenzten Raum. Das Bild des monströsen schwarzen Drachen erschien. Und der Schrecken, den es hervorrief, war in keiner Weise geringer.

„Sie sind nicht vernichtet“, sagte Todesschwinge ohne Einleitung. „Das hätte ich gespürt.“

„Ich weiß, M-Meister“, stammelte der Vater des Zwielichts. „Sie haben... etwas getan und sie haben deinen Champion g-g-geschlagen. Er liegt leblos dort, ist aber nicht tot.“

Es war ein schrecklicher Moment. „Also völliges Versagen.“

Die kalten Worte waren schlimmer als ein Wutausbruch. Der Vater des Zwielichts erschauderte. „Nein, Chromatus kann nicht getötet werden! Er ist geschlagen, aber nur für den Moment.“

Er hörte das Geräusch von Flügeln über ihm und blickte auf. Seine Augen weiteten sich und er kroch tiefer in den Schutz. „Mylord, ich werde weiterhin Eure Arbeit in dieser Welt tun. Aber ich werde es nicht mehr sehr viel länger können. Sie suchen mich und – und es scheint, als ob der Zwielichtdrachenschwarm flieht...“ Er versuchte, die Panik aus seiner Stimme zu verbannen.

„Du bist eine herbe Enttäuschung“, dröhnte Todesschwinge. „Wir hatten den Sieg in Griffweite. Und dennoch leben die Aspekte noch... Chromatus ist... beschädigt... und der Kult hat einen ernsthaften Rückschlag erlitten. Warum sollte ich dich nicht unseren Feinden überlassen?“

„Ich – ich weiß immer noch viel Nützliches!“, schrie der Vater des Zwielichts, packte die Kugel, als würde er die Hand seines Herrn ergreifen. „Ich habe noch viele, die mir vertrauen – Ihr wisst das. Lasst mich zu ihnen zurückkehren. Lasst sie mich zu Euch führen. Der Kult ist über die ganze Welt verteilt – selbst wenn die Drachenschwärme ihn hier vernichten, werden sie ihn doch nicht völlig auslöschen können! Überlegt nur, wie viel Zeit Ihr benötigen würdet, um mich durch jemand Neues zu ersetzen!“

„Menschen sind erbärmlich gierig und leicht zu beeinflussen“, knurrte Todesschwinge. „Und dennoch ergibt es einen Sinn, was du sagst. Wir haben bereits genug Zeit verloren. Ich kann keine weiteren Verzögerungen gebrauchen. Komm. Ergib dich dem Rauch“, sagte er und ließ das Bild, das der dunkle, seidige Rauch der Kugel geformt hatte, verschwinden. Schattententakel streckten sich aus, umgaben den Vater des Zwielichts und er erzitterte. „Das Portal bringt dich nach Hause. Dort magst du weiterhin das Vertrauen jener verraten, die dich verehren, und du wirst erneut bereit sein, wenn ich es dir sage.“

Der Vater des Zwielichts legte seine Kutte ab und gab sich dem Rauch des Schattens hin. Nun trug er auch wieder seine vertrauteren Klerikergewänder.

„Danke, Mylord“, flüsterte Erzbischof Benedictus. „Danke!“

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