„Das klingt logisch“, mutmaßte Krasus. „Man kann die Zeitwege überschreiten. Doch man muss vorsichtig sein. Man kann leicht von Illusionen gefangen werden.“
„Ich kann tatsächlich die Zeitwege überschreiten“, stimmte Thrall zu. „Aber ich bin nicht vollständig aus meinem Zeitweg verschwunden. Das weiß ich, weil ich ihn an verschiedenen Punkten besucht habe. Schwarzmoor ist völlig aus seinem Zeitweg verschwunden. Und das, weil er Hilfe hatte. Es muss der ewige Drachenschwarm sein, der dahintersteckt. Das ist die einzige sinnvolle Erklärung. Deshalb waren die Urtume so besorgt. Das ist der Grund, warum ihr Wissen jetzt beschädigt ist.“
Krasus rieb sich die Schläfen. Thrall beobachtete ihn sehr genau und er war sich bewusst, wie sehr er wollte, dass der Rotdrachenmagier ihm eine Lösung anbot.
„Was würde geschehen, wenn er dich töten würde, Thrall?“, fragte Taretha und richtete die Frage an sie beide.
„Meine beste Schätzung? Ein Desaster“, sagte Krasus schroff. „Ich kann unmöglich glauben, dass im wahren Zeitweg Thrall von den Händen Schwarzmoors aus einem völlig anderen Zeitweg sterben soll. Thrall ist eine kritische Komponente in der Zukunft des Zeitwegs. Wenn er getötet wird, würde sich viel zu viel auflösen. Nicht nur unser Zeitweg würde auseinanderfallen – ich glaube, alle Zeitwege würden das tun.“
„Und andersherum?“, fragte Taretha.
„Wenn wir in Betracht ziehen, dass dieser Zeitweg, offen gesagt, etwas ist, was niemals hätte sein sollen... eine Illusion... könnte er vielleicht die Balance wiederherstellen.“ Krasus hob eine Hand. „Ich bin kein Bronzedrache, bedenkt das bitte. Ich sage nur, was logisch klingt, basierend auf dem wenigen, was ich weiß.“
„Ich muss hier raus“, knurrte Thrall. Seine Hände ballten sich immer wieder. „Ich muss Nozdormu finden und das alles aufhalten. Aber ich weiß nicht, wie.“
Er setzte sich wieder und stützte den Kopf in die Hand. Er war völlig am Ende. Er enttäuschte die Drachenschwärme und Ysera, enttäuschte Aggra und den Irdenen Ring, enttäuschte die Welt. Als eine kleine Hand sich auf seine Schulter legte und sanft drückte, bedeckte er sie mit seiner eigenen. Er enttäuschte auch Taretha. Die teure, schlecht behandelte Taretha, die nicht mal mehr am Leben sein sollte.
Er dachte an das Glitzern der Schuppen, die ihn auf einen anderen Zeitweg locken wollten. Er hatte eine Antwort gefunden, zumindest wusste er, wer ihn jagte. Und dieses Wissen erschütterte ihn mehr, als er zugeben wollte.
„Yseras Weltsicht ist... anders als die der meisten“, sagte Krasus leise. „Doch es steckt Wahrheit darin, tiefer als das Wissen der Wachenden. Ich glaube nicht, dass sie Euch mit der Aufgabe betraut hätte, Thrall, wenn Ihr nicht in der Lage wärt, ihr zu helfen.“
Thrall war zu frustriert, um zu streiten. Nichts war echt. Die glitzernden Schuppen, die ihn von Zeitweg zu Zeitweg lockten, ein Meuchelmörder, der nicht existieren sollte, einige tiefe Drachenmysterien – sein Kopf schwirrte bei dem Versuch, das alles zu verarbeiten. Tarethas Hand auf seiner Schulter war nicht echt. Was war Traum? Was Realität? Was...
Und dann plötzlich, mit der Sanftheit einer Brise und der Kraft einer Explosion, verstand Thrall.
Er sah wieder den schwarzen Vogel Medivh, der zu ihm sprach. Dieser Ort ist voller Illusionen. Es gibt nur einen Weg, herauszufinden, was Ihr wirklich sucht – nur einen Weg, wie Ihr Euch selbst finden könnt.
Und Krasus Worte: Doch man muss vorsichtig sein. Man kann leicht von Illusionen gefangen werden... Dieser Zeitweg ist, offen gesagt, etwas, was niemals hätte sein sollen... eine Illusion...
Die Zeitwege waren nicht voller Illusionen. Dieser Zeitweg war keine Illusion.
Es war die Zeit selbst, die die Illusion war.
Historiker und Propheten gaben viel auf Vergangenheit und Zukunft. Es wurden etliche Bücher geschrieben über alte Schlachten, Kriegskunst, historische Ereignisse und wie sie die Welt verändert hatten. Und es gab Prophezeiungen und Vorhersagen, Hoffnungen und Spekulationen für die nächsten fünfhundert Jahre oder die nächsten fünf Minuten.
Aber die einzige wahre Realität war jetzt.
Gelehrte hatten Debatten über das geführt, womit er gerade rang. Doch in seinem Kopf schien es plötzlich so einfach und offensichtlich. Es gab nur einen Moment.
Diesen.
Jeder vergangene Moment war eine Erinnerung. Er war vorbei. Jeder zukünftige Moment war Hoffnung oder Furcht. Er hatte sich noch nicht manifestiert.
Doch nur in diesem Moment war das Jetzt und selbst der schlüpfte in die Vergangenheit und der zukünftige Moment wurde zu diesem Moment.
Es war so elegant, so friedvoll und ruhig. Thrall spürte, wie er so viele Dinge losließ, die er kaum verstanden hatte. Sie glitten von seinen Schultern wie ein Rucksack, den man ablegte. Die Besessenheit vergangener Handlungen. Die Sorge über die Zukunft.
Und dennoch gab es da die Notwendigkeit, zu planen, die Notwendigkeit, zu bereuen. Die Weisheit diktierte, dass selbst in diesem Moment solche Dinge notwendig waren. Die Vergangenheit zu verstehen, war das Beste, was man in diesem Moment tat. An der Zukunft teilzuhaben, konnte diesen Moment gestalten.
Aber all das wurde so viel leichter – wurde leicht wie eine Feder und magisch und unschuldig –, nachdem er es erst mal verstanden hatte.
Ja, er war in der Zeit gefangen. Auf diesem scheinbar endlosen Pfad, seine Vergangenheit erneut zu besuchen – oder, gerade erst, eine mögliche Zukunft zu erhaschen.
Doch alles, was er tun musste, war, aus dem Kreis herauszutreten, in dem er wahrhaftig in diesem Moment war. Und Nozdormu...
Thrall blinzelte und bebte angesichts der Tragweite der Erkenntnis, die über ihn hereinbrach. Jetzt verstand er beides. Wie es sein konnte, dass er so verstrickt in diese Zeitwege war, die sich so persönlich anfühlten. Denn er sah Nozdormu in ihnen allen. Thrall war in einem einzigen Moment gefangen – einem wichtigen Moment seiner eigenen Vergangenheit. Der mächtige Zeitlose war in allen Momenten der Zeit gefangen.
Mit neu gefundener Leichtigkeit wusste Thrall, dass er nun den großen Leviathan finden konnte.
Krasus lächelte ihn an. Thrall wusste, dass der rote Drache im echten Zeitweg tot war. Doch das war nicht die Wahrheit, nicht die Realität. Das hier war echt. Und Taretha war auch real und am Leben. Er konnte fast ihren Atem spüren, der aus ihren Lungen kam, jeden ihrer süßen Herzschläge, als wäre es der einzige Herzschlag, der existierte. Was er war.
„Du hast es herausgefunden“, sagte Krasus, ein Lächeln auf den Lippen.
„Das habe ich“, sagte Thrall. Er wandte sich an Taretha und lächelte in ihre Augen. „Ich bin froh, hier bei dir zu sein.“
Nicht froh, gewesen zu sein. Sondern jetzt zu sein. Er schloss die Augen.
Als er sie wieder öffnete, wusste er, dass er an einem Ort völlig und vollständig außerhalb der Zeit war. Er schwebte, nicht mal von der Schwerkraft festgehalten, die Dunkelheit um ihn herum nur vom sanften Leuchten einer wahrhaft unendlichen Zahl von Portalen beleuchtet. Und durch eins konnte Thrall die goldenen Schuppen leuchten sehen.
Es war ein erschreckendes, beunruhigendes Bild, doch Thrall spürte völligen Frieden im Herzen, als er in das Nichts driftete, umgeben von allem. Seine Gedanken waren klar und frei und hielten etwas, was er nicht länger als einen Moment halten sollte. Doch er wusste, mehr als ein Moment war nicht nötig, war alles, was jemals nötig war.
Und dann fiel sein Körper mit einem Mal auf weichen Sand und er erkannte, er war wieder in den Höhlen der Zeit. Er öffnete die Augen und blickte den Zeitlosen an.
Doch er sah nicht nur ein einziges Wesen, wenngleich es auch glorreich war. Auf jeder dieser Schuppen, diesen glitzernden Dingen, die ihn auf so eine unglaubliche Reise mitgenommen hatten, erkannte Thrall Momente.
Seine Momente.
All die großen Taten in Thralls Leben liefen auf diesen Schuppen des Zeitlosen ab. Hier bekam er die Rüstung von Orgrim. Da kämpfte er mit Cairne Bluthuf und beschützte das Dorf des großen Tauren. Dort drüben rief er die Elemente zum ersten Mal an, da hinten stand er zusammen mit Grom Höllschrei. Zahllose Momente, Momente, die einen Helden ausmachten, eine Legende. Momente, die wahrlich seine Welt verändert hatten.
„Ssseht Ihr esss?“
Die Stimme war ein tiefes Dröhnen, tiefer als alles, was Thrall je von einem Drachen gehört hatte. Sie dröhnte in seinem Blut, sang in seiner Seele.
„Ich – sehe es“, flüsterte er.
„Was... ssseht Ihr?“
„Die wichtigsten Momente in meinem Leben“, sagte Thrall, seine Augen schossen von einem zum nächsten. Es war so viel, er konnte es kaum fassen. Doch der Moment konnte es und er tat es.
„Eure Taten, die den Lauf der Geschichte verändert haben“, stimmte Nozdormu zu. „Ich hüte sie alle. All die großen Taten aller Wesen, die je gelebt haben. Aber da issst noch mehr.“
Thrall war hin- und hergerissen von den Szenen, die tanzten und schön waren, und er sehnte sich danach, von ihnen aufgenommen zu werden. Sanft, mit Mitgefühl für sein Verlangen, war er dennoch fest im Sand verwurzelt. Thrall im Jetzt, der Nozdormu im Jetzt beobachtete.
Er drehte den Kopf, um das Gesicht des Drachen anzusehen. Die Weisheit in den leuchtenden, sonnenfarbenen Augen war fast unvorstellbar alt und dennoch merkwürdig jugendlich. Mächtig, jenseits von Thralls Vorstellungskraft. Schön.
„Es gibt mehr im Leben als große Momente, als diejenigen, die die Welt sieht“, fuhr Nozdormu fort. „Die müsst Ihr für Euch selbst erkennen.“
Und Thrall tat es. Die Entdeckung von Tarethas erster enthusiastischen Nachricht und als sie ihm zugewinkt hatte, als sie noch ein Mädchen war. Die stillen Abende in den Lagern, nach Schlachten, Trinken und Lachen und Geschichten, Erzählen am Feuer. Als Geisterwolf zu laufen und mit den Elementen zu arbeiten.
„Diese starke Hand in meiner“, murmelte er, die Erinnerung an Aggras braune Finger, von seinen gehalten.
„Da sind wir empfänglich und können etwas lernen, wo wir etwas aufnehmen. Ruhm, Kampf, große Momente – dort geben wir der Welt etwas. Aber wir können nichtsss geben, ohne etwasss zu erhalten. Wir können nichtsss teilen, dasss wir nicht in uns haben. Es ist diese Stille, diese Pause zwischen den Atemzügen. Sie gibt uns die Stärke für all unsere Reisen.“
Aggra.
Die Momente schimmerten, vergingen und Thrall blickte auf nichts mehr – oder weniger – als die schönen goldenen Schuppen des Hüters der Zeit. Er erkannte auch, dass er und Nozdormu nicht allein in den Höhlen waren. Sie wurden von mehreren stillen, aber glücklichen Mitgliedern des Bronzeschwarms umgeben, die stumm neben ihnen saßen.
Nozdormu sah jeden an, darunter auch seinen Sohn Anachronos, dann wieder Thrall. „Ich schulde Euch etwasss, wasss ich wohl nicht zurückzahlen kann“, sagte Nozdormu. „Ihr habt mich zurückgebracht. Ich war überall und zugleich nirgendwo. Ich hatte die erssste Lektion vergesssen. Ich, der Zeitlose.“ Er machte ein dröhnendes Geräusch, zum Teil selbstironisch, zum Teil verärgert. „Man könnte glauben, dass ich mich, umgeben von den Sandkörnern der Zeit, bessser an die kleinen Dinge erinnern könnte.“
Diese starke Hand in meiner.
„Ich weiß, warum Ihr gekommen seid“, fuhr Nozdormu fort. Thrall kam sich plötzlich dumm vor. „Oder besser... ich kenne alle Gründe, warum Ihr gekommen seid. Einige müssen nicht notwendigerweise richtig sein. Sprecht, mein Freund.“
Thrall tat es. Er begann mit dem Besuch von Ysera und allem, was seitdem geschehen war, Nozdormus Nüstern leuchteten und seine großen Augen verengten sich bei der Beschreibung der Urtume.
„Auch sie sind auf ihre eigene Art Hüter der Zeit“, sagte er, ging aber nicht näher darauf ein.
Thrall fuhr fort, sprach von dem mysteriösen Meuchelmörder und seiner Erfahrung mit den verschiedenen Manifestationen der Zeitwege. „Ich habe herausgefunden, dass mein Verfolger niemand anders war als mein möglicherweise größter Feind“, sagte er leise. „Aedelas Schwarzmoor, der stark, durchtrieben und entschlossen war.“
„Und“, Nozdormu seufzte, „ein Agent des ewigen Drachenschwarmsss ist.“
„Woher wisst Ihr...?“
Nozdormu hielt eine Vorderklaue hoch. „Gleich. Ich habe Eurer Geschichte gelauscht, und nach dem, was ich alles weiß, bin ich zu einem verstörenden Schlusss gekommen. Einem Schlusss“, sagte er und wandte sich nicht an Thrall, sondern die versammelten Bronzedrachen, „der schwer zu akzeptieren sein wird. Doch das müssen wir. Meine Kinder... allesss ist miteinander verbunden.“
Die Bronzedrachen tauschten Blicke aus. „Was meinst du damit, Vater?“, fragte Anachronos. „Wir wissen, dass eine Einmischung in die Zeitwege schlimme Auswirkungen haben kann.“
„Nein, nein, es issst viel größer... weiter reichend... nahezu unfassbar. Und diese Verbundenheit betrifft unsss. Die Drachen. Ja, so ist es dazu gekommen, dass ich in jedem Moment gefangen war. Ich wurde von der Illusion der Zeit gefangen gehalten. Und in dieser Gefangenschaft wurde ich Zeuge. Ich habe Dinge gesehen, die keimten, stärker wurden und sich manifestierten. Und ich sage Euch, das war kein Zufall.“
Er atmete tief ein und sah sie fest an.
„All die Ereignisse, die über die Jahrtausende stattgefunden haben, um die Aspekte und ihre Schwärme zu verletzen – sie sind kein Zufall oder einfach nur zufällige Ereignissse. Diese Veränderung der Zeitwege, die Verwandlung von Schwarzmoor zum Monster. Der Smaragdgrüne Albtraum, der so viele verletzte. Der Angriff der Zwielichtdrachen, der Wahnsinn von Malygosss und selbst Neltharion – all diese Ereignisse sind miteinander verbunden. Vielleicht sogar von denselben Händen geleitet.“
Einen Augenblick lang sagte niemand etwas. So viele Ereignisse miteinander verbunden? Teil einer weitreichenden Verschwörung, die so groß war, dass es Äonen dauerte, bis sie sich manifestierte?
Thrall brach die Stille. „Wozu?“, fragte er. Von einigen der Vorkommnisse hatte er noch nie gehört. Es war für ihn fast zu viel, um es zu verstehen.
„Um die Aspekte und die Schwärme für immer zu vernichten. Um jegliche Chance auf Ordnung und Stabilität zu vernichten.“ Er wandte sich an Thrall und senkte die große Hand auf die Höhe des Orcs. Sorge lag in den unglaublichen Augen, als er sprach. „Ich war in den Zeitwegen verloren, Thrall. In jedem einzelnen Moment gefangen. Wisst Ihr, warum ich dort eigentlich war?“
Thrall schüttelte den Kopf.
„Ich war dort, um zu verstehen, wie etwasss Dunkles entstanden issst. Um zu erfahren, wie man es verhindert. Ihr habt mich gefragt, woher ich wussste, dasss der ewige Drachenschwarm hinter Schwarzmoorssss Entstehung und Befreiung steckte.“ Er zögerte, dann blickte er weg, unfähig, Thralls blauäugigem Blick standzuhalten. „Ich weisss es, weil... ich ihn hinter Euch hergeschickt habe.“