Thrall hatte nicht gedacht, dass er zu ihr zurückkehren würde. Doch während er auf dem Rücken von Narygos saß, spürte Thrall, dass er nun eine völlig andere Person war als beim letzten Mal, als er bei der Lebensbinderin gewesen war.
Der Gedanke an Aggra brannte warm in seinem Herzen, ein stilles, von Asche genährtes Feuer, das sowohl Mut spendete als auch beruhigte. Er hatte dabei zugesehen, wie die blauen Drachen ihre wahre geistige Tiefe wiederentdeckten, ihre eigenen Herzen und ihre Gefühle. Er hatte sogar eine wichtige Rolle dabei gespielt. Sie hatten den Aspekt erhalten, den sie verdienten: einen, der Stärke, Mitgefühl und Weisheit verkörperte, der wirklich nur die besten Interessen des Schwarms im Sinn hatte.
„Als ich sie das letzte Mal gesehen habe, war sie hier“, sagte Thrall.
Der Drache stieß sanft hinab und flog auf den Steingipfel zu. Beim Näherkommen erkannte Thrall, dass Alexstrasza immer noch hier war. Sie hatte die Beine an die Brust gezogen und bot ein Bild des Schmerzes. Er fragte sich besorgt, ob sie sich seit seinem letzten Besuch überhaupt bewegt hatte.
„Setzt mich ein Stück entfernt ab“, sagte Thrall. „Ich glaube nicht, dass sie irgendjemanden sehen will. Es wird vielleicht leichter, wenn ich allein zu ihr gehe.“
„Wie Ihr wollt“, sagte Narygos, landete anmutig und kauerte sich hin, damit Thrall leichter absteigen konnte.
Thrall wandte sich um und sah ihn an. „Ich danke Euch dafür, dass Ihr mich hierher getragen habt“, sagte er. „Doch... vielleicht solltet Ihr nicht auf mich warten.“
Narygos neigte den Kopf. „Wenn Ihr es nicht schafft, sie zu überzeugen...“
„Wenn ich das nicht schaffe“, sagte Thrall mit stiller Ernsthaftigkeit, „dann gibt es kaum einen Grund für mich, zurückzukehren.“
Narygos nickte und verstand. „Viel Glück dann, zu unserem aller Besten.“ Er gab Thrall einen freundlichen, liebevollen Stupser, dann sammelte er sich und schoss in den Himmel. Thrall beobachtete, wie er in der Ferne verschwand, dann ging er zu der Lebensbinderin.
Sie hörte, wie er sich aufs Neue näherte.
Ihre Stimme klang rau. „Ihr seid entweder der tapferste oder der dümmste Orc, da Ihr es wagt, ein zweites Mal zu mir zu kommen“, sagte sie.
Er lächelte ein wenig. „Das haben andere auch schon gesagt, Mylady“, antwortete er.
„Andere“, sagte sie, hob den Kopf und ihr Blick durchdrang ihn mit hoher Intensität, „sind nicht ich.“
Trotz allem, was er in seinem Leben gesehen und bekämpft hatte, fühlte Thrall, wie er bei der leisen Drohung in ihrer Stimme erbebte. Er wusste, dass sie recht hatte. Würde ihr einfallen, ihn töten zu wollen, hätte er keine Chance.
„Seid Ihr zum Foltern hier?“, fragte sie.
Thrall war sich nicht sicher, ob sie meinte, dass er sie folterte oder sie ihn. Vielleicht beides. „Ich hoffe, alles zu einem Ende zu bringen oder Euch zumindest Linderung zu verschaffen, Mylady“, entgegnete er ruhig.
Die Wut in ihrem Blick hielt sich für einen weiteren Moment, dann sah sie weg und erinnerte ihn erneut mehr an ein trauriges Kind als an einen der mächtigsten Aspekte.
„Das tut nur der Tod – und vielleicht nicht einmal der“, sagte Alexstrasza und ihre Stimme brach.
„Ich weiß nicht genug, um Ja oder Nein zu sagen“, meinte Thrall. „Doch ich muss es versuchen.“
Sie seufzte.
Er sah sie sich genauer an. Sie war dünner als beim letzten Mal. Ihre Wangenknochen, bereits zuvor knochig, schienen ihre Haut beinahe zu durchstechen. Um die Augen herum lagen dunkle Schatten und Alexstrasza wirkte, als könne ein kräftiger Wind sie wegblasen.
Thrall wusste es besser.
Er setzte sich neben sie auf die Steine.
Sie regte sich nicht.
„Als wir das letzte Mal miteinander gesprochen haben“, fuhr er fort, „habe ich Euch gebeten, mit mir zum Nexus zu kommen. Um mit den blauen Drachen zu reden. Ihnen zu helfen.“
„Das habe ich nicht vergessen. Auch meine Antwort habe ich nicht vergessen.“
Das ist egal. Alles. Es ist egal, ob alles miteinander in Verbindung steht. Es ist egal, wie lange das schon so läuft. Es ist auch egal, ob wir es aufhalten können.
Die Kinder sind tot. Korialstrasz ist tot. Ich bin praktisch auch schon tot, lange wird es nicht mehr dauern. Es gibt keine Hoffnung mehr. Nichts ist mehr da. Nichts ist wichtig.
„Ich habe es auch nicht vergessen“, sagte Thrall. „Aber andere wissen es nicht oder glauben nicht, dass es egal ist, und machen stur weiter. So wie die blauen Drachen. Sie haben einen neuen Aspekt gewählt: Kalecgos. Und sie haben einen neuen Feind: einen chromatischen Drachen namens Chromatus.“
Ein schwaches überraschtes Flackern überzog ihr Gesicht bei der Erwähnung von Kalecgos, aber ihre Augen wurden beim Namen Chromatus wieder trüb.
„Für jeden Sieg eine Niederlage“, murmelte sie.
„Ich bin während der Schlacht gefallen“, berichtete Thrall knapp. „Sogar im wahrsten Sinne des Wortes. Ich fiel von Kalecs Rücken und landete im Schnee. Ich hätte mich beinahe Tod und Verzweiflung ergeben. Doch etwas geschah. Etwas, was dafür sorgte, dass ich meine gefrorenen Glieder bewegte, mich aus dem Schnee arbeitete – und einen Überraschungsangriff von einem sehr alten Feind überlebte.“
Sie rührte sich nicht. Sie schien ihn komplett zu ignorieren. Aber immerhin war sie nicht in Wut verfallen und hatte nicht versucht, ihn zu töten, wie beim letzten Mal. Vielleicht hörte sie doch zu.
Ihr Ahnen, ich bete, dass ich das Richtige tue. Ich handele mit dem Herzen und das ist das Beste, was ich tun kann.
Er streckte eine Hand aus. Sie wandte den Kopf und blickte ihn ausdruckslos an. Er bewegte sich auf sie zu und bedeutete ihr, seine Hand zu ergreifen. Sie drehte langsam den Kopf weg und starrte zum Horizont.
Sanft langte Thrall nach unten und nahm ihre Hand. Ihre Finger waren schlaff. Er legte seine starke grüne Hand sorgfältig darum.
„Ich hatte eine Vision“, sagte er mit sanfter Stimme, fast als versuche er, ein scheues Waldtier nicht zu erschrecken. „Eigentlich zwei. Es ist... solch ein Glück, damit gesegnet zu sein. Besonders, wenn man eine Vision mit jemand anders teilen soll... das war eine unerwartete Ehre.“ Die Worte waren in aller Bescheidenheit gesprochen. Auch wenn er wusste, dass seine Kräfte wuchsen, seine Verbindungen mit den Elementen sich vertieften, war er immer noch geehrt von der Großmut, die ihm gewährt wurde. „Eine war für mich. Und diese... soll ich mit Euch teilen.“
Er schloss die Augen.
Der Welpe schlüpfte aus dem Ei.
Es war eine nüchterne Umgebung für eine Geburt, ein behelfsmäßiges Labor unter einem großen Zelt. Draußen tobte der Sturm, als der kleine Welpe gegen die Schale ankämpfte.
Viele waren da, um seine Ankunft mitzuerleben. Einer schien ein Mensch zu sein, eingewickelt in einen Kapuzenumhang, der sein Gesicht verbarg. Die anderen trugen Roben, die sie sofort als Mitglieder des Schattenhammerkults auswiesen. Sie alle wirkten glücklich, ihre Blicke auf das schlüpfende Kind gerichtet.
Neben dem Menschen stand eine attraktive Menschenfrau mit blauschwarzem Haar, die eine dünne Kette um den Hals trug, die in seiner Hand endete, im Gegensatz zu den anderen beobachtete sie die Szenerie mit einem verzweifelten Gesichtsausdruck, eine Hand ruhte auf ihrem Bauch, die andere war zur Faust geballt.
„Kirygosa!“
Alexstrasza flüsterte den Namen. Ihre Stimme drang nur an Thralls Ohren.
Die Vision entfaltete sich exakt so, wie es beim ersten Mal der Fall gewesen war. Er spürte ein Stechen, als dieser Name erklang. Das war also mit Arygos’ Schwester geschehen, die verschwunden war. Verschwunden, aber nicht tot, noch nicht. Ihr Gesicht verriet ihm alles, was er wissen musste.
Das kleine Wesen drückte und schob und ein Teil der Schale brach heraus. Sein Maul öffnete sich und es schnappte nach Luft.
Es war hässlich.
Es war blau, schwarz und lila, mit grotesken bronzefarbenen, roten und grünen Klecksen hier und dort. Eins seiner Vorderbeine endete in einem Stumpf. Es hatte nur ein zerfressenes Auge, mit dem es sein Publikum musterte.
Kirygosa stieß ein Heulen aus, dann wandte sie sich ab.
„Nein, nein, meine Liebe, wende deine Augen nicht ab. Sieh, was wir aus deinem blauen Kind gemacht haben“, freute sich der Mensch hämisch. Er streckte die behandschuhte Hand aus und schob den chromatischen Welpen auf seine Handfläche.
Das Ding lag schlapp da, doch die kleine Brust hob sich. Einer seiner Flügel war an einer Seite eingedrückt.
Der Mann in dem Umhang ging ein paar Schritte weg und setzte es auf die Erde. „Nun, mein Kleiner, lass uns sehen, ob du für uns größer werden kannst.“
Einer der Kultisten trat vor und verneigte sich unterwürfig. Der Mensch streckte die Hände aus. In einer lag ein halb verdecktes Artefakt, das vor violetter Energie nur so leuchtete. Die Finger der anderen Hand bewegten sich beim Zaubern. Er sprach eine Beschwörung und ein Strahl weißer arkaner Energie schoss aus dem Artefakt hervor. Er wickelte sich um den Welpen und begann die goldene Lebensenergie aus dem kleinen Drachen herauszusaugen. Er kreischte vor Schmerz.
„Nein!“, schrie Kirygosa und stürzte vor. Der Mann zog fest an der Kette. Kirygosa fiel auf die Knie, keuchte vor Schmerz.
Der Welpe wuchs. Er öffnete das Maul und stieß einen kleinen quiekenden Schrei aus, während sein Körper zuckte. Thrall konnte fast die Knochen knacken hören und sah, wie die Haut sich spannte, während der Magier ihm Lebensenergie entzog und der Welpe schnell alterte. Plötzlich wurde das Quieken zu einem dunkleren Krächzen und dann zu einem spitzen Schrei. Ein Flügel schlug wild, der andere, der immer noch auf einer Seite eingedrückt war, zitterte nur.
Der chromatische Welpe brach zusammen.
Der Mensch seufzte. „Es war fast schon Drachengröße“, sagte er. Er trat vor und berührte den Leichnam mit dem Zeh. „Schon besser, Gahurg. Schon besser. Das Blut des Aspekts in ihr scheint die Kinder stärker zu machen als die anderen. Sie sind offensichtlich eher in der Lage, die Modifikationen zu ertragen. Aber es ist immer noch nicht perfekt. Nimm das weg. Präpariere es, lerne davon und mach es beim nächsten Mal eben besser.“
„Wie Ihr wünscht, Vater des Zwielichts“, sagte Gahurg. Vier andere Kultisten traten vor und trugen den chromatischen Drachen fort.
„Was machst du mit meinen Kindern?“ Kirygosas Stimme hatte tief begonnen, tief in ihrer Brust, und baute sich zu einem wilden Brüllen auf. Sie ignorierte den Schmerz, von dem sie gewusst haben musste, dass er kommen würde, und warf sich auf den Mann, den man Vater des Zwielichts nannte.
„O mein Liebling“, flüsterte Alexstrasza.
Thrall wusste, auch sie sah die Striemen auf Kirygosas Körper, wo sie geblutet hatte, weil man mit ihr experimentierte. Merkwürdigerweise gab das Mitgefühl in Alexstraszas Stimme Thrall Hoffnung. Besser der Schmerz und der Schrecken als diese stumpfe Leere.
„Ich erschaffe nur perfekte Dinge“, erwiderte der Vater des Zwielichts und zog erneut an der Kette.
Kirygosa wimmerte, dann kam sie wieder zu Atem. „Ich bin froh, dass ich nur einmal beim Schlüpfen meiner Eier zusehen muss, die deiner Obszönität geopfert werden“, zischte Kirygosa. „Mein Gefährte ist tot. Ich gebe dir keine mehr.“
„Ah, aber du bist immer noch eine Tochter von Malygos“, erklärte der Vater des Zwielichts.
„Und wer weiß schon, ob das Schicksal... oder ich... nicht noch einen anderen Gefährten für dich finde, hm?“
Die Szene änderte sich. Thralls Augen waren immer noch geschlossen, die Vision spielte sich in seinem Geist ab. Er konnte Alexstraszas Hand fühlen, wie ihre Finger sich um seine legten. Doch das Gefühl war irgendwie fern, wie ein Geräusch, das man von weit her hörte. Er wusste, was sie als Nächstes sehen würde, und er wusste, dass es sie entweder vernichten würde oder es ihm ermöglichen, sie zu retten. Egal, wie und was passierte, er würde hier bei ihr sein.
Als Nächstes sah er ein Sanktum. Thrall hatte es augenblicklich erkannt, auch wenn er das Rubinsanktum niemals mit eigenen Augen gesehen hatte. Es war ganz offensichtlich noch vom letzten Angriff beschädigt. Doch der schöne Wald, mit hellen Wiesen und sanft raschelnden Bäumen, durch den Bäche liefen, heilte sich bereits selbst.
Ein großer männlicher Drache lag im Schatten eines Baums. Er wirkte in seiner Entspannung ein wenig unbeholfen, als gestatte er es sich nicht oft, dem Nichtstun zu frönen, während er die Dracheneier durch halb geschlossene Augen beobachtete.
Ihr Atemzug war schwer, voller Verlangen und Schmerz.
„Korialstrasz“, flüsterte die Lebensbinderin. „O mein Lieber... Thrall, muss ich das sehen?“
Sie war dermaßen verstört, dass sie nicht befahl, sondern nur bat. Ob aus Verzweiflung oder Hoffnung, die große Lebensbinderin Alexstrasza hatte sich offenbar fest in Thralls Hand begeben. „Ja, Mylady“, sagte er und ließ seine tiefe Stimme so freundlich wie möglich klingen. „Haltet noch einen Moment aus und Euch wird alles enthüllt.“
Und dann, von einer Sekunde zur anderen, war Korialstrasz alarmiert und sprang auf alle vier Pfoten, schnüffelte in der Luft, die Ohren lauschten auf das leiseste Geräusch. Einen Herzschlag später war der rote Drache in der Luft, bewegte sich schnell und anmutig, seine Blicke suchten den Boden ab.
Seine Augen weiteten sich, dann verengten sie sich und mit einem wütenden Schrei faltete er die Flügel und stürzte hinab. Eine Sekunde später erblickten auch Thrall und Alexstrasza das, was Krasus bemerkt hatte: mehrere Eindringlinge aus allen Völkern, die sich nur darin glichen, dass sie die kastanienbraunen und schwarzen Roben des Schattenhammerkults trugen.
Korialstrasz spie weder Feuer noch setzte er Magie ein, da die Eindringlinge sich zwischen den wertvollen Eiern verteilt hatten. Stattdessen stürzte er, die riesigen Klauen vorgestreckt, hinunter und krachte so schnell und effektiv mitten in die Kultisten. Sie gaben keinen Schrei der Furcht von sich. Thrall sah wütend zu, wie sie lächelten, während der Tod sie umarmte.
Die Gefahr schien vorüber. Korialstrasz landete neben einigen Eiern, senkte den schuppigen roten Kopf und stupste sie so sanft wie möglich an. Eins von ihnen brach auf. Ein hässlicher ockerfarbener Nebel stieg aus dem Ei und Krasus’ Augen weiteten sich, als er vor dem Anblick des kleinen, deformierten Umrisses eines chromatischen Drachen zurückprallte.
„Nein!“, schrie Alexstrasza.
Thrall fühlte mit ihr. Es war für die Lebensbinderin schmerzvoll genug gewesen, Kirygosas Folterung mitzuerleben. Zu wissen, dass dasselbe schreckliche Schicksal auch über ihre eigenen Kinder gekommen war...
Erschrocken stupste Korialstrasz die kleine Kreatur vorsichtig mit seiner Klaue an. Es gab ein sanftes Geräusch und immer mehr Eier begannen aufzuplatzen. All die Geschlüpften waren quiekende, deformierte chromatische Drachen.
Und dann keuchte Krasus, als er an sich selbst hinuntersah. Die Spitze seiner Vorderklaue begann sich schwarz zu färben. Langsam, aber unausweichlich breitete sich die Kontaminierung aus, kletterte von seinen Klauen über sein Vorderbein.
Ein tiefes Lachen, schwach, aber triumphierend, lenkte die Aufmerksamkeit des Drachen auf sich.
„Und so werden alle Kinder zu Kindern des Wahnsinnigen, des großen Todesschwinge“, murmelte einer der Kultisten. Es war ein Troll, seine Haut dunkelblau. Korialstrasz hatte seine Rippen zerquetscht, Blut tröpfelte aus seinem Mund und von den Hauern, doch er lebte noch. „Alle deines V-Volkes... werden ihm gehören...“
Krasus starrte den infizierten Körperteil an. Er ballte die Faust und hielt sie einen Moment lang an seine Brust. Seine Augen schließend senkte er den Kopf.
„Nein“, sagte er leise. „Ich werde nicht zulassen, dass das passiert. Ich werde mich selbst zerstören... und meine Kinder, statt zuzulassen, dass sie dermaßen mutieren.“
Der Kultist lachte erneut. Er begann zu husten, spie schaumiges Blut, das die Luft rosa färbte. „Wir ge-gewinnen trotzdem“, keuchte er.
Krasus starrte ihn an. Dann plötzlich erinnerte er sich an die genauen Worte, die der Troll benutzt hatte. „Was hast du mit ‚alle Kinder‘ gemeint?“ Der Kultist schwieg, grinste nur anzüglich, während er um Atem rang. „Wie viele sind infiziert? Sag es mir!“
„Alle“, krähte der Troll triumphierend. Seine Augen leuchteten und sein Lächeln war breit. „Alle Eier! Alle Sanktümer! Du kommst zu spät! Sie alle schlüpfen jetzt. Du kannst es nicht aufhalten.“
Krasus wurde sehr nachdenklich. Er zog die Augen zusammen und neigte den Kopf.
„Doch“, sagte er dann leise. „Doch, das kann ich.“
„Alle Eier“, flüsterte Alexstrasza. „Alle... von uns...“
„Es war eine schreckliche Entscheidung“, sagte Thrall ruhig. „Er wusste, dass niemand jemals erfahren würde, was wirklich geschehen war. Dass andere ihn als Verräter brandmarken würden. Dass selbst Ihr das vielleicht glauben würdet.“
Er hörte sie keuchen und wimmern und drückte ihre Hand.
„Er hat uns gerettet... Er hat uns niemals verraten... er hat uns gerettet...“ Sie beobachteten still und mit geschlossenen Augen, wie Korialstrasz seine ganze Energie und Magie auf sich selbst versammelte. Er atmete tief ein und aus und flüsterte nur ein einziges Wort: „Geliebte.“
Dann wurde es dunkel.
Thrall öffnete die Augen, Alexstraszas’ standen bereits weit offen. Sie blickte ins Leere, alles Blut war aus ihrem Gesicht gewichen, ihre Hand umklammerte so fest Thralls, dass es wehtat. „Er... er nutzte seine Lebensenergie, um die Portale zu verbinden“, flüsterte Alexstrasza. „Um all die kontaminierten Eier zu zerstören, bevor irgendjemand sonst infiziert wurde. Ich konnte nicht verstehen, warum so viel Grün geblieben war... Jetzt weiß ich es. Irgendwie verstehe ich es. Er brachte Tod mit Leben... um andere Leben zu retten.“
„Der Geist des Lebens zeigt Euch Dinge, die im Verborgenen ruhen“, sagte Thrall leise. „Deshalb musste ich kommen. Korialstrasz war kein Verräter. Er war ein Held. Und er starb gut und willentlich, rettete nicht nur seinen eigenen Schwarm, sondern alle Schwärme, mit Euch in seinem Herzen.“
„Er war der Beste von uns“, flüsterte sie. „Er hat nie versagt. Ich... ich habe versagt und gewankt, aber nicht er. Nicht mein Korialstrasz.“ Sie hob das Gesicht zu Thralls. „Ich bin froh, dass ich weiß, wie tapfer er war. Ich bin so stolz auf ihn. Wie kann ich nur ohne ihn weiterleben? Könnt Ihr, so kurzlebig Ihr seid, vielleicht verstehen, was ich verloren habe?“
Thrall dachte an Aggra. „Vielleicht habe ich nur eine kurze Lebensspanne zur Verfügung, aber ja, ich kenne die Liebe. Und ich weiß, wie ich mich fühlen würde, wenn ich meine Geliebte so verloren hätte wie Ihr.“
„Wie könntet Ihr dann ohne diese Liebe weiterleben? Wozu soll man weitermachen?“
Er starrte sie an, sein Kopf war auf einmal leer. All die Bilder, die Ideen, die pathetischen Worte und Klischees, die ihm auf den Lippen lagen, schienen so abgedroschen und ohne Bedeutung. Welchen Grund gäbe es, als Überlebender weiterzumachen, wenn man solch eine Liebe verloren hatte?
Und dann dachte er an sie.
Er hielt immer noch die Hand der Lebensbinderin in seiner rechten. Mit der Linken griff er in seinen Beutel und holte ein kleines, unscheinbares Objekt hervor.
Es war die Eichel, die ihm die Urtume geschenkt hatten. Desharins Worte fielen ihm wieder ein: Passt gut darauf auf. Diese Eichel enthält all das Wissen seines Elternbaums und all das Wissen von dessen Elternbaum... und so weiter und so weiter, zurück bis zum Anfang aller Dinge. Ihr sollt sie pflanzen, wo es Euch richtig erscheint.
Krasus hatte gewusst, dass sie nicht für ihn bestimmt war, obwohl es ihn danach verlangt hatte. Thrall fragte sich, ob der rote Drache geglaubt hatte, dass sie für seine Gefährtin gedacht war. Thrall hoffte es.
Der Orc nahm Alexstraszas Hand, legte die Eichel auf ihre Handfläche und schloss sanft ihre Finger darum.
„Ich habe Euch von Träumersruh in Feralas erzählt“, sagte Thrall leise. „Von den Urtumen, die dort in Not waren. Aber ich habe Euch nicht gesagt, wie herrlich sie wirklich sind. Ich sagte Euch nichts von ihrer... Präsenz. Die einfache Macht von Alter und Weisheit, die sie durchströmte. Wie klein und ehrfürchtig ich mich fühlte, als ich von ihnen umgeben war.“
„Ich... habe die Urtume gekannt“, sagte Alexstrasza, ihre Stimme klang zaghaft. Sie hielt ihre Faust eine Sekunde lang fest um die Eichel geschlossen, dann öffnete sie sie.
Die Eichel bewegte sich in ihrer Hand. Die Bewegung war so schwach, dass Thrall zunächst dachte, sie würde nur über die Berge und Täler ihrer Hand rollen. Dann erschien ein kleiner Riss in dem hellbraunen Boden. Der Riss erweiterte sich und etwas kleines Grünes spross hervor, das nur einen Bruchteil eines Zentimeters lang war.
Alexstrasza stieß ein heulendes Keuchen aus. Ihre andere Hand flog zu ihrem Herzen, drückte sich fest auf die schlanke Brust, die sich plötzlich hob, einmal, zweimal, dreimal, begleitet von gequälten Schluchzern. Sie presste sie weiter an ihr Herz, als würde es schmerzen. Eine Sekunde lang war Thrall besorgt, ob das alles nicht zu viel war – dass es sie vielleicht tötete.
Und dann verstand er. Das Herz der Lebensbinderin hatte sich verschlossen – verschlossen vor dem Schmerz, den die Sorgen mit sich brachten. Vor der Qual, jemand wirklich Geliebten zu verlieren. Vor dem Schmerz des Mitleids.
Und nun platzte ihr Herz auf wie die Schale der Eichel, wie Eis während des Frühlingstauwetters.
„Ich bin die, die ich bin“, flüsterte sie und starrte immer noch auf die keimende Eichel. „Egal, ob in Freude oder Schmerz. Ich bin die, die ich bin.“
Ein weiterer Schluchzer folgte und dann noch einer. Tränen strömten aus ihren Augen, während sie um ihre verlorene Liebe trauerte. Schließlich weinte sie die heilenden Tränen, die in ihrem erschütterten Herzen gefangen gewesen waren.
Thrall legte einen Arm um ihre Schulter und sie lehnte sich an seine breite Brust. Sie, die einst gefoltert und von Orcs versklavt worden war, weinte hemmungslos an seiner Seite.
Ihre Tränen schienen endlos, wie es die Tränen der Lebensbinderin sein sollten. Es war mehr als der Verlust von Krasus, vermutete Thrall. Er spürte, dass sie um all die Dinge weinte, die gefallen waren. Die Unschuldigen und die Schuldigen. Um Malygos und Todesschwinge und um alle, die sie verletzt hatten. Um die korrumpierten Kinder, die niemals die Chance hatten, wirklich zu leben. Um die Toten und die Lebenden, um alle, die gelitten und den salzigen Geschmack ihres Schmerzes auf ihren Wangen geschmeckt hatten.
Sie kamen nun frei, ihr Weinen war so natürlich und rein wie das Atmen. Tränen rollten ihr Gesicht hinunter und fielen auf die Eichel, die sie hielt, und auf die Erde darunter, wo sie saß.
Als die erste Träne sanft zu Boden getropft war, begann eine Blume sich ihren Weg durch die Kruste der Erde zu bahnen.
Thrall sah ungläubig zu. Vor seinen Augen, zehntausend Mal schneller, als es hätte passieren sollen, beobachtete er, wie Pflanzen sprossen: Blumen aller Schattierungen, kleine Triebe, die zu Schösslingen wurden und zu dichtem grünem Gras. Er konnte sogar das Geräusch der wachsenden Dinge hören, ein lebendiges, freudiges Streben und Knistern.
Er erinnerte sich daran, wie hart die Druiden gearbeitet hatten, um das Leben an diesen Ort zurückzubringen. Ihre Bemühungen waren von Zeit zu Zeit erfolgreich, aber stets nur vorübergehend. Tief in seinem Innern wusste er, dass das neue blühende Leben, das er sah, mit der Zeit nicht schwinden würde. Nicht, wenn es aus den Tränen des neu erwachten Mitgefühls und der Liebe der Lebensbinderin geboren war.
Alexstrasza rührte sich neben ihm und zog sich sanft zurück. Er nahm den Arm von ihren Schultern. Sie atmete tief und zitternd ein und versuchte etwas unsicher, sich auf die Erde zu knien. Thrall half ihr nicht, er spürte, dass sie das nicht wollte. Sanft grub Alexstrasza in der neu ergrünten Erde, drückte die Eichel tief hinein und bedeckte sie ehrfürchtig. Sie erhob sich und sah ihn an.
„Ich bin... bestürzt“, sagte sie leise. Ihre Stimme war immer noch belegt von Schmerz, aber darin lag auch eine Ruhe, die vorher nicht da gewesen war. „Ihr habt mich an Dinge erinnert, die ich in meinem Schmerz vergessen hatte, Dinge... von denen er nicht wollte, dass ich sie jemals vergesse.“ Sie lächelte, und obwohl sie traurig war, war ihr Lächeln ehrlich und süß. Ihre Augen waren rot vom Weinen, aber es lag eine Klarheit darin, und Thrall wusste, dass es ihr gut ging.
Und tatsächlich, als sie zurücktrat und ihre Arme zum Himmel hob, trug ihr Gesicht den Ausdruck gerechtfertigter Wut. Es gab noch viel zu betrauern und sie wusste es.
Doch nicht jetzt. Jetzt nutzte die Lebensbinderin ihren Schmerz, um ihre Handlungen zu befeuern, nicht die Tränen. Und Thrall spürte fast einen Hauch Mitleid für jene, die ihre Hitze der Wut zu spüren bekommen würden.
Fast.
Wie er es schon einmal bei ihr erlebt hatte, beobachtete Thrall erneut, wie sie aufwärtsschoss und sich von einem schlanken, elfengleichen Mädchen in den mächtigsten Aspekt verwandelte – wohl das mächtigste Wesen der Welt. Diesmal wusste er, dass er von ihr in dieser Gestalt nichts befürchten musste.
Sie sah auf ihn herab, ihre Augen blickten freundlich, und dann landete die Lebensbinderin, damit der Orc auf ihren breiten Rücken klettern konnte.
„Wir gehen zu meinen Brüdern und Schwestern, wenn Ihr mitkommen wollt“, sagte sie ruhig.
„Ich bin gern behilflich“, erwiderte Thrall, erneut voll Ehrfurcht und eingeschüchtert von der reinen Herrlichkeit des roten Drachen. Er kletterte vorsichtig und respektvoll auf ihren Rücken und setzte sich an den Rand des Halses. „Ich glaube, dass die blauen Drachen sich nach ihrer Niederlage zum Nexus zurückgezogen haben.“
„Vielleicht“, sagte sie. „Wir werden sie entweder dort finden oder Kalec hat sich mit anderen Schwärmen vereinigt und sie sammeln sich am Wyrmruhtempel.“
„Die Zwielichtdrachen werden sie bemerken“, dachte Thrall laut.
„Ja“, stimmte Alexstrasza zu, sammelte sich kurz und schoss in die Luft. „Das werden sie. Was sollen wir tun?“
„Das Element der Überraschung ist fort“, erwiderte Thrall.
„Das brauchen wir auch nicht mehr“, sagte Alexstrasza. Ihre Stimme war stark und ruhig, und Thrall entspannte sich, während sie sprach. „Unser Erfolg oder Versagen hängt von etwas ab, was wichtiger ist als militärische Strategien.“ Sie wandte den Hals und sah ihn an, während ihre Flügel mächtig und rhythmisch in der Luft schlugen. „Es ist an der Zeit für die Drachenschwärme Azeroths, ihre Streitigkeiten beiseitezulegen und sich zu vereinen. Ansonsten fürchte ich, dass alles verloren ist.“