Thrall Drachendämmerung Von Christie Golden

Da es ein Buch über die Heilung einer verwundeten Welt ist, möchte ich es gern einigen der Lehrer und Heiler widmen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, unsere wieder gesunden zu lassen:

Jeffrey Elliott, Greg Gerritsen, Kim Harris, Peggy Jeens, Anne Ledyard, Mary Martin, Anastacia Nutt, Katharine Roske, Richard Suddath, David Tresemer, Lila Sophia Tresemer, Monty Wilburn.

1

Thrall, einst Kriegshäuptling der ebenso großen wie mächtigen Horde, war nun als Schamane nicht bedeutender als jene, die gerade neben ihm standen. Er kniff die Augen zusammen und kämpfte darum, auf den Beinen zu bleiben. Denn die Erde unter ihren Füßen bebte – ein armseliges kleines Stück Land, das sich aus einem wild tobenden Ozean erhob. Es zitterte und schauderte in seinem Schmerz.

Vor nicht allzu langer Zeit hatte sich ein wahnsinnig gewordener Drachenaspekt den Weg nach Azeroth gebahnt und die Welt grundlegend verändert. Der verrückte Todesschwinge streifte wieder durch die Welt und hatte Azeroth eine klaffende Wunde zugefügt. Wer noch Hoffnung hatte, der glaubte, Azeroth heilen zu können. Doch es würde nie wieder dasselbe sein.

Im Herzen der Welt lag ein Ort namens Mahlstrom, wo lang begrabene Erde donnernd an die Oberfläche geschleudert worden war. Und dort hatten sich all diejenigen versammelt, die verzweifelt versuchten, das zerborstene Land zu heilen.

Es waren Schamanen, jeder für sich mächtig, Mitglieder des Irdenen Rings, die andere wichtige Aufgaben beiseitegeschoben hatten, um sich hier zu versammeln. Einer allein konnte nur wenig ausrichten. Doch viele, besonders die Talentiertesten und Weisesten, konnten deutlich mehr erreichen.

Es waren Dutzende, die allein, zu zweit oder in kleinen Gruppen auf den schlüpfrigen Schären herumstanden und sich mühten, das Gleichgewicht auf dem sich aufwerfenden Boden zu halten. Sie waren nicht physisch miteinander verbunden, aber auf einer spirituellen Ebene. Die Schamanen hatten die Augen geschlossen und waren tief in die Vorbereitung eines Heilzaubers versunken.

Sie versuchten, die Elemente der Erde zu beruhigen. Gleichzeitig wollten sie sie ermutigen, sich selbst zu heilen. Natürlich waren es die Elemente, die verletzt waren – und nicht die Schamanen. Doch hatten die Elemente mehr Macht als die Schamanen. Wenn sich die Erde lange genug beruhigen ließ und das auch erkannte, konnte sie von ihrer eigenen riesigen Kraft zehren. Die Erde, die Steine, der Boden und die Knochen von Azeroth mussten es allerdings noch mit etwas anderem aufnehmen: Verrat. Denn der schwarze Drachenaspekt Todesschwinge, einst als Neltharion bekannt, war der Wächter der Erde gewesen. Seine Aufgabe war es gewesen, sie zu schützen und ihre Geheimnisse zu wahren. Doch das war ihm nun nicht mehr wichtig. Wie beiläufig riss er sie in seinem Wahn in Stücke. Der angerichtete Schaden und der verursachte Schmerz waren ihm egal.

Die Erde stöhnte und hob sich heftig.

„Bleibt standhaft!“, rief eine Stimme, die irgendwie selbst über das Donnern der bebenden Erde hinweg an Thralls Ohren drang. Sie übertönte auch das Krachen der wütenden Wellen, die versuchten, die Schamanen von ihren gefährlichen Standorten wegzureißen. Die Stimme gehörte Nobundo, dem ersten Zerschlagenen, der Schamane geworden war. Dieses Mal war er an der Reihe gewesen, das Ritual zu leiten. Und er hatte es meisterhaft getan.

„Öffnet euch euren Brüdern und Schwestern! Spürt sie, fühlt sie, seht den Geist des Lebens, der wie eine herrliche Flamme hell in ihnen erstrahlt!“

Aggra stand neben Thrall auf einer der größeren neu gebildeten Schären. Sie war eine Mag’har und Nachfahrin des Frostwolfklans, die Thrall in Nagrand kennen- und lieben gelernt hatte. Sie hatte braune Haut und ihr rotbraunes Haar war zu einem Pferdeschwanz auf dem ansonsten kahlen Schädel zurückgebunden. Sie packte Thrall mit fester Hand. Denn ihre Arbeit hier war alles andere als leicht, vielmehr eine Aufgabe, die an Körper und Geist zehrte.

Die beiden standen gefährlich nahe an der Kante der steilen Klippen. Der Wind peitschte den Ozean unter ihnen auf und sandte Wellen, die hohl krachend gegen die rauen Felsen donnerten. Alle mussten ruhig sein, damit die Heilung beginnen konnte, doch es war eine gewagte Aktion.

Thrall spürte, wie seine Muskeln sich spannten, während sie versuchten, ihn an Ort und Stelle zu halten. Ständig musste er seinen Stand korrigieren, um sich aufrecht auf der wild bebenden Erde halten zu können und nicht kopfüber in den hungrigen Ozean oder zwischen die scharfkantigen Felsen zu stürzen. Und dabei musste er immer noch das Zentrum des inneren Friedens finden, das es ihm erlaubte, sich auf einer tiefgründigen Ebene mit den anderen Schamanen zu verbinden. Wenn der Schamane erfahren und richtig vorbereitet war, konnte dann der Geist des Lebens eindringen. Nur so erlangte er die Energie, die es einem Schamanen ermöglichte, mit den Elementen zu interagieren und sich mit den anderen Schamanen zu vereinen, die dasselbe taten.

Er konnte spüren, wie die Schamanen ihn zu erreichen versuchten. Ihre Essenz war eine Oase der Ruhe im Chaos. Er kämpfte darum, tief in seinen inneren Kern vorzudringen. Mit Mühe bekam Thrall seine Atmung unter Kontrolle, wobei er es vermied, schnell und flach zu atmen. Denn das würde seinen Körper nur dazu zwingen, Sorge und Angst zu verspüren. Stattdessen konzentrierte er sich darauf, die feuchte, salzige Luft tief in seine Lungen ein- und auszuatmen.

Ein durch die Nase... aus durch den Mund... von den Fußsohlen in die Erde strömend, bis zum Herzen reichend. Sich dicht an Aggra schmiegen, sie aber nicht fest umklammern. Schließe die Augen, öffne den inneren Geist. Das Zentrum finden – und im Zentrum den Frieden. Den dort gefundenen Frieden nehmen und ihn mit den anderen teilen.

Thrall spürte, wie seine Hände schwitzten. Er wankte und einen Augenblick lang rutschte er. Er fing sich jedoch schnell und versuchte, wieder tief zu atmen, um das Ritual zu beginnen. Doch es war, als hätte sein Körper einen eigenen Willen und würde nicht auf Thralls Befehle reagieren. Er wollte kämpfen, etwas tun, nicht einfach herumstehen und atmen und ruhig sein. Er...

Plötzlich blitzte ein Licht auf, das so hell war, dass der Orc es durch die geschlossenen Lider sehen konnte. Ein schreckliches Knacken dröhnte in seinen Ohren, als der Blitz viel zu nah einschlug. Ein tiefes Donnern ertönte und die Erde bebte noch heftiger. Thrall öffnete die Augen gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie ein großer Brocken Erde – verbrannt von dem Blitzeinschlag – nur wenige Meter entfernt unter den Füßen eines Goblins und eines Zwergs zerbrach. Sie schrien überrascht auf, klammerten sich aneinander und packten an jeder Seite einen Schamanen. Schließlich baumelten sie über den donnernden Wellen und den zerklüfteten Felsen.

„Haltet aus!“, rief der Taure, der den Goblin mit der Hand fest umklammerte. Er stemmte die Hufe in den Boden und zog. Der Draenei, der den Zwerg hielt, tat es ihm gleich. Keuchend brachten sie die zwei Schamanen in Sicherheit.

„Zieht euch zurück, zieht euch zurück!“, schrie Nobundo. „Zu den Unterkünften, schnell!“

Die versammelten Schamanen brauchten keine weitere Aufforderung, als eine nahe gelegene Schäre zerbarst. Orcs und Tauren, Trolle und Goblins, Zwerge und Draenei, sie alle liefen zu ihren Reittieren, kletterten auf die zitternden Tiere und trieben sie zurück zu den Unterkünften, die auf einer der größeren Schären lagen. Der Himmel brach auf und ließ dicke Regentropfen auf die Haut der Schamanen prasseln. Thrall wartete gerade lang genug, um sicher zu sein, dass Aggra auf ihr geflügeltes Reittier gestiegen war, dann drängte er seinen eigenen Wyvern himmelwärts.

Die Unterkünfte waren kaum mehr als behelfsmäßige Hütten, die so weit wie möglich im Landesinnern lagen und von Schutzzaubern gesichert wurden. Jeder einzelne Schamane und jedes Paar hatte seine eigene Behausung. Die Hütten standen im Kreis um einen größeren rituellen Bereich herum. Die Zauber schützten die Schamanen vor den kleineren Manifestationen der wütenden Elemente wie Blitzen, obwohl sich die Erde immer noch unter ihnen auftun konnte. Doch diese Bedrohung bestand immer, ganz egal, wo die Schamanen sich aufhielten.

Thrall hob die Bärenfellklappe gerade so lange hoch, dass Aggra hineinschlüpfen konnte, dann ließ er sie fallen und band sie zu. Der Regen trommelte wütend gegen die Außenhaut, als verlange er Einlass, und die Hütte bebte leicht vom Wind, der an ihr zerrte. Doch sie würde halten.

Dann begann Thrall schnell, seine durchweichte Kleidung auszuziehen, er zitterte etwas. Aggra tat leise dasselbe. Die feuchte Kleidung konnte sie wahrscheinlich leichter töten als ein Zufallstreffer des Blitzes, wenn auch nicht so schnell. Sie trockneten ihre feuchte Haut, die eine grün, die andere braun, und holten frische, trockene Kleidung aus einer Kiste. Thrall zündete eine kleine Kohlenpfanne an.

Er spürte Aggras Blick auf sich und die Luft im Zelt war schwer von unausgesprochenen Worten. Schließlich brach sie die Stille.

„Go’el“, begann sie. Ihre Stimme war tief und rauchig, voller Sorge.

„Sag nichts“, sagte Thrall und beschäftigte sich damit, Wasser zu erhitzen, um für sie, beide heiße Getränke zuzubereiten.

Er sah, dass sie ihn finster anblickte, dann rollte sie mit den Augen und zog fast schon sichtbar ihre Worte zurück. Er sprach nicht gern so zu ihr, doch er hatte keine Lust, über das Geschehene zu diskutieren.

Der Zauber hatte versagt und Thrall wusste, dass es an ihm gelegen hatte.

Sie saßen schweigend da und es war unbehaglich, als der Sturm über sie hereinbrach und die Erde wieder bebte. Doch wie ein Kind, das sich selbst in den Schlaf geweint hat, schien sich die Erde schließlich zu beruhigen. Thrall konnte spüren, dass sie nicht friedlich war und lange noch nicht geheilt. Aber sie war ruhig.

Bis zum nächsten Mal.

Fast augenblicklich hörte Thrall Stimmen von draußen. Er und Aggra traten in den grauen Tag hinaus, der Boden unter ihren nackten Füßen war nass. Andere versammelten sich im Hauptbereich, in ihren Gesichtern spiegelte sich ernste Sorge, Müdigkeit und Entschlossenheit.

Nobundo wandte sich Thrall und Aggra zu, als sie näher kamen. Er gehörte zu einer Gruppe ehemaliger Draenei. Sein Körperbau war nicht stolz, stark und hoch aufgerichtet, sondern gebeugt, fast missgestaltet durch die Einwirkung von Teufelsmagie. Viele Zerschlagene waren dunkel und korrumpiert, doch nicht Nobundo. Er war gesegnet, sein großes Herz hatte sich den schamanischen Kräften geöffnet und er hatte diese Kräfte zu seinem Volk gebracht. Neben ihm standen mehrere Draenei, deren blaue Gestalten unverletzt waren, schlank, rein. Doch für Thrall und viele andere überragte Nobundo sie alle. Eben weil er derjenige war, der er war.

Als der Blick des Hochschamanen auf Thrall fiel, wollte der Orc wegschauen. Dieses Wesen – eigentlich alle hier versammelten Schamanen – war jemand, den Thrall zutiefst respektierte und den er niemals hatte enttäuschen wollen. Und doch hatte er es getan.

Nobundo winkte Thrall mit seiner riesigen Hand zu sich. „Kommt her, mein Freund“, sagte er leise und betrachtete den Orc freundlich.

Viele waren nicht so gnädig gestimmt und Thrall spürte wütende Blicke, als er zu Nobundo trat. Andere gesellten sich hinzu, um an der formlosen Versammlung teilzunehmen.

„Ihr kennt den Zauber, den wir umsetzen wollten“, sagte Nobundo mit noch immer leiser Stimme. „Er sollte die Erde beruhigen und trösten. Zugegeben, es ist eine knifflige Sache, doch eine, die wir alle hier beherrschen. Könnt Ihr mir sagen, warum...?“

„Red nicht um den heißen Brei herum“, knurrte Rehgar. Er war ein riesiger Orc voller Kampfnarben. Wenn man ihn ansah, fiel einem nicht gleich das Wort „spirituell“ ein, doch wer sich von seinem Äußeren leiten ließ, beging einen schweren Fehler. Rehgars Lebensreise hatte ihn vom Gladiator zum Sklavenbesitzer und engen Freund und Berater Thralls gemacht, und die Reise war noch lange nicht vorbei. Ein geringerer Orc als der Kriegshäuptling der Horde hätte vielleicht vor seiner Wut klein beigegeben. „Thrall... was zum Teufel war los mit dir? Wir konnten es alle spüren! Du warst nicht konzentriert!“

Thrall merkte, wie seine Hände sich zu Fäusten ballten, und zwang sich zur Ruhe. „Nur weil du mein Freund bist, erlaube ich dir, so mit mir zu sprechen, Rehgar“, sagte Thrall scheinbar gelassen, seine Stimme jedoch hatte einen scharfen Klang.

„Rehgar hat recht, Thrall“, sagte Muln Erdenwut mit seiner tiefen, dröhnenden Stimme. „Die Arbeit ist hart, aber nicht unmöglich – nicht einmal ungewohnt. Ihr seid Schamane, einer, der alle Riten seines Volkes durchschritten hat. Drek’Thar nannte Euch den Retter seines Volkes, weil die Elemente zu Euch sprachen, nachdem sie viele Jahre geschwiegen hatten. Ihr seid kein unerfahrenes Kind, das getröstet werden muss. Ihr seid ein Mitglied des Rings – geachtet und stark, sonst wärt Ihr nicht hier.

Und doch seid Ihr in einem entscheidenden Moment zusammengebrochen. Wir hätten die Beben abschwächen können, aber Ihr habt unsere Arbeit gestört. Ihr müsst uns sagen, was euch ablenkt, damit wir Euch vielleicht helfen können.“

„Muln...“, begann Aggra, doch Thrall hob die Hand.

„Es ist nichts“, sagte er zu Muln. „Die Arbeit ist anstrengend und ermüdend und ich habe gerade viel im Kopf. Es ist nichts anderes.“

Rehgar stieß einen Fluch aus. „Du hast eine Menge in deinem Kopf, spie er. „Nun, der Rest von uns auch. So triviale Dinge, wie die Welt davor zu bewahren, auseinandergerissen zu werden!“

Eine Sekunde lang sah Thrall rot. Muln sprach, bevor Thrall es konnte. „Thrall war der Anführer der Horde, Rehgar, nicht Ihr. Ihr wisst nicht, welche Last er tragen musste und vielleicht noch trägt. Und als jemand, der selbst noch bis vor Kurzem Sklaven besessen hat, solltet Ihr ihn nicht auch noch moralisch verurteilen!“ Er wandte sich an Thrall. „Ich greife Euch nicht an, Thrall. Ich will nur herausfinden, wie wir Euch helfen können, damit letztlich Ihr uns besser helfen könnt.“

„Ich weiß, was Ihr tut“, sagte Thrall, seine Stimme war nah an einem Zischen. „Und es gefällt mir nicht.“

„Vielleicht“, sagte Muln, um Diplomatie bemüht, „braucht Ihr einige Zeit lang etwas Ruhe. Unsere Arbeit ist sehr anstrengend und auch die Stärksten müssen ruhen.“

Thrall würdigte den anderen Schamanen nicht mal einer Antwort – er nickte nur kurz und ging zurück zu seiner Hütte.

Er war so wütend wie lange nicht mehr. Und die Person, auf die er am meisten wütend war, war er selbst. Er wusste, dass er das schwache Glied in der Kette gewesen war, das es nicht geschafft hatte, die notwendige Konzentration in dem Moment aufzubringen, als sie verzweifelt gebraucht wurde. Er konnte sich nicht tief genug fallen lassen, nicht den Geist des Lebens in sich berühren. Er wusste nicht, ob er jemals dazu fähig sein würde. Und weil er es nicht konnte, war der Zauber schiefgegangen. Er war mit sich selbst unzufrieden. Mit der Arbeit, mit den kleinlichen Streitereien – mit allem. Und er erkannte plötzlich, dass diese Unzufriedenheit schon seit langer Zeit in ihm schlummerte.

Vor ein paar Monaten hatte er eine schwierige Entscheidung getroffen. Er hatte sich dazu entschlossen, als Kriegshäuptling der Horde zurückzutreten, um hierherzukommen, zum Mahlstrom. Er wollte dem Pfad des Schamanen folgen. Zuerst hatte er geglaubt, dass es nur vorübergehend sei. Er hatte das Kommando an Garrosh Höllschrei übergeben, den Sohn des verstorbenen Grom Höllschrei, um nach Nagrand zu reisen und bei seiner Großmutter Geyah zu lernen. Das war vor dem großen Kataklysmus gewesen, der Azeroth erschüttert hatte. Thrall hatte die unzufriedenen Elemente gespürt und gehofft, etwas tun zu können, um sie zu beruhigen und das zu verhindern, was dann schließlich doch geschehen war.

Dort hatte er gemeinsam mit einer schönen, aber oftmals irritierenden und frustrierenden Schamanin namens Aggra gelernt. Sie hatte ihn angetrieben, ihn gezwungen, tief nach Antworten zu graben, und die beiden hatten sich verliebt. Er war nach Azeroth zurückgekehrt, und nachdem der Kataklysmus eingetreten war, hatte er sich entschlossen, gemeinsam mit seiner Geliebten zum Mahlstrom zu gehen, um dort zu dienen.

Es hatte sich richtig angefühlt, das zu tun – eine schwere Entscheidung, die beste Wahl. Er hatte Gewohntes und Geliebtes verlassen, um für das übergeordnete Wohl zu sorgen. Doch jetzt hatte er plötzlich Zweifel.

Nachdem Thrall nach Nagrand gereist war, hatte Garrosh Thralls guten Freund, den Taurenhäuptling Cairne Bluthuf, in einem rituellen Kampf getötet. Thrall hatte später erfahren, dass Garrosh von Magatha Grimmtotem ausgetrickst worden war, einer langjährigen Rivalin von Cairne, damit er gegen Cairne mit einer vergifteten Klinge antrat. Thrall wurde den Gedanken nicht los, dass Cairne niemals Garroshs Führerschaft angezweifelt hätte und er noch leben könnte, hätte er Azeroth nicht verlassen.

Was Aggra anging... Er hatte angenommen... Ach, er wusste es auch nicht. Auf alle Fälle eine andere Art Beziehung als die, die sie hatten. Ursprünglich war er von ihrer Schroffheit und ihren Ecken und Kanten abgestoßen gewesen, hatte sie dann aber allmählich schätzen und lieben gelernt. Doch statt einer festen Partnerin, die ihn unterstützte und ermutigte, hatte er nur eine weitere Person an seiner Seite, die ihn kritisierte.

Er schaffte es nicht einmal, dem Irdenen Ring zu helfen, die Elemente zu beruhigen. Wofür das heutige Debakel der Beweis war. Er hatte das Amt des Kriegshäuptlings abgelegt und die Ermordung eines geliebten Freundes ertragen müssen, um dem Ring helfen zu können. Und auch das gelang nicht.

Nichts funktionierte, nichts lief so, wie es sollte, und Thrall – einst Kriegshäuptling der Horde, Krieger, Schamane – fühlte sich, als ob nichts, was er tat, jemals klappen würde. Dieses Gefühl war er nicht gewohnt. Er hatte die Horde geführt, gut geführt, viele Jahre lang. Er kannte die Taktiken auf dem Schlachtfeld und war in Diplomatie geübt. Er wusste, wann es für einen Anführer an der Zeit war, zuzuhören, wann er reden musste und wann handeln. Dieses merkwürdige, im Magen krampfende Gefühl der Unsicherheit... das war neu und fremd und er hasste es.

Er hörte, wie das Bärenfell zurückgezogen wurde, drehte sich aber nicht um.

„Ich würde Rehgar für das, was er zu dir gesagt hat, gern die Ohren lang ziehen“, erklang Aggras rauchige und kräftige Stimme. „Ich hätte das schon früher sagen sollen.“

Thrall knurrte leise. „Du hast eine tolle Art, mich zu unterstützen“, sagte er. „Das hat mir unheimlich geholfen. Jetzt sollte ich einfach rausgehen und mich ohne Probleme in mein tiefstes Selbst versenken können. Vielleicht hättest du statt meiner die Horde all die Jahre leiten sollen. Zweifelsohne wären Allianz und Horde dann schon vereint und die Kinder würden laut jubelnd durch Orgrimmar und Sturmwind laufen.“

Sie kicherte und ihre Stimme war warm, genauso wie ihre Hand, als sie sie auf seine Schulter legte. Er widerstand dem Drang, sie wütend abzustreifen, doch er war nicht besänftigt. Stumm wartete er und rührte sich nicht. Sie drückte seine Schulter, dann ließ sie los, trat um ihn herum und blickte ihn an.

„Ich habe dich beobachtet, seit wir uns kennen, Go’el“, sagte sie und ihre Augen suchten die seinen. „Zuerst mit Abneigung, später mit Liebe und Sorge. Mit dieser Liebe und Sorge betrachte ich dich jetzt. Und mein Herz ist beunruhigt über das, was es sieht.“

Er antwortete nicht, doch er hörte zu. Ihre Hände streichelten sanft über sein starkes Gesicht, ihre Finger fuhren die Falten auf seiner grünen Stirn nach, während sie sprach.

„Trotz allem, was wir erlebt haben, waren diese Linien, die ich gerade berühre, noch nicht da, als wir uns kennenlernten. Diese Augen – blau wie der Himmel, blau wie das Meer – waren nicht traurig. Dieses Herz...“ Sie legte die Hand auf seine breite Brust. „... war nicht so schwer. Was auch immer in dir vorgeht, es schadet dir. Doch weil es keine Bedrohung von außen ist, weißt du nicht, wie du diesem Feind gegenübertreten sollst.“

Seine Augen verengten sich in leichter Verwirrung. „Sprich weiter“, sagte er.

„Du driftest weg... nicht dein Körper... du bist immer noch stark und kräftig... sondern dein Geist. Es ist, als ob ein Teil von dir mit jedem Windstoß weiter weggetragen wird oder weggewaschen vom peitschenden Regen. Du hast eine Verletzung, die dich vernichten wird, wenn du es zulässt. Und ich“, sagte sie, plötzlich wild, und ihre hellbraunen Augen loderten, „werde das nicht erlauben.“

Er knurrte und wandte sich ab, doch sie folgte ihm. „Das ist eine Krankheit der Seele, nicht des Körpers. Du hast dich zu tief im Alltagsgeschehen der Horde vergraben, sodass du, als du gegangen bist, dich selbst zurückgelassen hast.“

„Ich glaube, davon will ich nichts hören“, sagte Thrall in warnendem Ton.

Sie ignorierte ihn. „Natürlich willst du das nicht“, sagte sie. „Du magst keine Kritik. Wir alle müssen dir zuhören, und wenn wir anderer Meinung sind, müssen wir das respektvoll sein. Du musst immer das letzte Wort haben, Kriegshäuptling.“

Es lag keinerlei Sarkasmus in ihrer Stimme, doch die Worte trafen ihn. „Was meinst du damit, dass ich keine Kritik vertrage? Ich habe mich mit verschiedenen Beratern umgeben. Ich rege sie dazu an, meine Pläne infrage zu stellen. Ich bin sogar auf den Feind zugegangen, wenn es im Interesse meines Volkes war!“

„Ich habe auch nicht gesagt, dass das nicht stimmt“, fuhr Aggra fort. Nach wie vor klang sie nicht verärgert. „Aber das bedeutet noch nicht, dass du mit Kritik umgehen kannst. Wie hast du auf Cairne reagiert, als er im Schatten von Mannoroths Rüstung zu dir kam und sagte, dass du falschliegst?“

Thrall zuckte zusammen. Cairne... Seine Gedanken schweiften zurück zum letzten Mal, als er seinen teuren Freund lebend gesehen hatte. Cairne war zu ihm gekommen, nachdem Thrall dem alten Bullen erklärt hatte, dass Garrosh in seiner Abwesenheit die Horde führen würde. Cairne hatte unverblümt, ohne seine Worte zu mildern, erklärt, dass er glaube, Thrall begehe einen schrecklichen Fehler.

Ich... brauche dich dabei, Cairne. Ich brauche deine Unterstützung, nicht deine Ablehnung, hatte Thrall gesagt.

Du hast mich um Rat gefragt. Und ich habe darauf nur eine Antwort für dich. Gib Garrosh diese Macht nicht... Das ist mein Rat, hatte Cairne erwidert.

Dann haben wir uns nichts mehr zu sagen. Und Thrall war weggegangen.

Er hatte Cairne nicht mehr lebend wiedergesehen.

„Du warst nicht dabei“, sagte Thrall. Seine Stimme klang rau, voll vom Schmerz der Erinnerung. „Du verstehst nicht. Ich musste...“

„Pah!“, sagte Aggra und wischte seine Entschuldigung mit der Hand weg wie ein paar Fliegen, die um sie herumschwirrten. „Das Gespräch selbst ist doch völlig uninteressant. Vielleicht hattest du ja recht, aber im Moment ist mir das eigentlich auch egal. Du hast nicht zugehört. Du hast ihn ausgeschlossen, als hättest du eine Regenhaut gegen den Sturm übergezogen. Du hättest ihn vielleicht nie überzeugt, aber hast du ihm überhaupt zugehört?“

Thrall antwortete nicht.

Hätte sie ihn geschlagen, wäre Thrall nicht schockierter gewesen. Er trat buchstäblich einen Schritt zurück, taumelte angesichts ihrer Worte. Es war etwas, was er nie ausgesprochen hatte, etwas, was er sich auch insgeheim gefragt hatte, spät in der Nacht, wenn der Schlaf nicht kommen wollte. In seinem Herzen wusste er, dass er nach Nagrand hatte gehen müssen und dass er angesichts der Lage die richtige Entscheidung getroffen hatte. Aber... wenn er geblieben wäre und mehr mit Cairne geredet hätte... was wäre dann gewesen? Aggra hatte recht... doch das wollte er nicht wahrhaben.

„Ich konnte immer zuhören, wenn andere nicht mit mir übereinstimmten. Denk nur an die Treffen mit Jaina! Sie ist oft nicht einer Meinung mit mir und sie nimmt kein Blatt vor den Mund.“

Aggra schnaubte. „Eine Menschenfrau. Was weiß die davon, wie man einem Orc unangenehme Dinge beibringt? Jaina Prachtmeer ist keine Bedrohung oder Herausforderung für dich.“ Sie runzelte nachdenklich die Stirn. „Genauso wenig wie deine Taretha.“

„Natürlich war sie keine Herausforderung. Sie war meine Freundin!“ Thrall wurde noch wütender, als sie Taretha Foxton in diesen merkwürdigen Streit hineinzog, den sie offenbar unbedingt mit ihm fuhren wollte. Taretha war ein Menschenmädchen gewesen, das sich mit ihm angefreundet hatte, als sie noch Kinder gewesen waren; als Erwachsene hatte sie ihm geholfen, seinem Leben als Gladiator, Sklave des Menschenlords Aedelas Schwarzmoor, zu entfliehen. Dafür hatte sie mit ihrem Leben bezahlt. „Wenige auf dieser Welt haben für mich so viel geopfert und sie war ein Mensch!“

„Vielleicht ist das dein Problem, Go’el, und das Problem, das andere mit dir haben. Die wichtigsten Frauen in deinem Leben sind Menschen.“

Seine Augen verengten sich. „Hüte deine Zunge.“

„Ah, und wieder zeigst du mir, dass ich recht habe: Du willst keinen Widerspruch hören. Du würdest mich eher verstummen lassen, als mir zuzuhören!“

Das entsprach der Wahrheit und sie schmerzte. Mit Mühe atmete Thrall tief ein und versuchte, seine Wut zu zügeln. „Dann sag mir: Was meinst du?“

„Ich bin erst seit kurzer Zeit in Azeroth, doch ich habe bereits Gerüchte gehört. Sie erschüttern mich und sicherlich auch dich. Dem Klatsch zufolge bist du mit Jaina zusammen – oder mit Taretha, je nachdem, wo man hinhört.“ Ihre Stimme war voller Wut und Empörung. Ob auf ihn oder die Gerüchte, wusste Thrall nicht und es war ihm auch egal.

„Du bewegst dich auf gefährlichem Terrain, Aggra“, knurrte er. „Taretha Foxton und Jaina Prachtmeer sind und waren beide starke, tapfere, intelligente Frauen, die ihr Leben riskierten – und in Tarethas Fall auch verloren -, um mir zu helfen. Ich stehe hier nicht herum und höre deine engstirnigen Anschuldigungen gegen sie an, nur weil sie keine Orcs sind!“ Er war jetzt vorgetreten, sein Gesicht nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt. Sie wich nicht zurück, hob kaum eine Augenbraue.

„Du hörst mir nicht richtig zu, Go’el. Ich habe nur Gerüchte wiedergegeben. Ich sagte nicht, dass ich sie glaube. Noch habe ich irgendetwas gegen eine der Frauen gesagt, außer dass sie nicht wissen, wie man einen Orc kritisiert. Wenn überhaupt, dann haben sie mir gezeigt, dass Menschen durchaus Respekt verdienen können. Aber sie sind keine Orcs, Thrall, und du bist kein Mensch und du weißt nicht, wie man damit umgeht, wenn man von einer Frau deiner eigenen Art herausgefordert wird. Oder von irgendjemandem.“

„Ich kann nicht glauben, dass ich mir das anhören muss!“

„Das kann ich auch nicht, weil du mir bis zu diesem Moment überhaupt nicht zugehört hast!“

Ihre beiden Stimmen erhoben sich und Thrall war sich bewusst, dass die kleinen Hütten kein Hindernis für andere darstellten, ihren Streit mit anzuhören. Doch Aggra drängte weiter.

„Du hast dich unter dem Mantel des Kriegshäuptlings versteckt. Deshalb findest du es jetzt auch so schwer, dich davon zu befreien.“ Sie presste ihr Gesicht noch näher an seines und zischte: „Du trägst den Namen eines Sklaven, weil du ein Sklave der Horde bist. Ein Sklave dessen, was du für Pflicht hältst. Und du nutzt diese Pflicht als Schild – eine Barriere zwischen dir und den dunklen Orten, zwischen dir und der Schuld, Angst und den Selbstzweifeln. Und davor, dir wahrhaft selbst zu gehören – oder irgendjemandem sonst. Du planst immer voraus, du nimmst dir nie die Zeit, zu überlegen, was du erreicht hast. Das wundervolle Geschenk, das dein Leben ist. Du planst für morgen, was aber ist mit dem Jetzt? Dieser Moment... die kleinen Dinge?“ Ihre Stimme wurde weicher – ihre Augen nun freundlich statt wütend – und mit überraschender Sanftheit ergriff sie seine Hand. „Was ist mit dieser starken Hand in deiner?“

Irritiert riss Thrall seine Hand weg. Er hatte genug davon. Zuerst vom Irdenen Ring, jetzt von Aggra, die eigentlich zu ihm stehen und ihn unterstützen sollte. Er wandte ihr den Rücken zu und ging zum Eingang.

Aggras Worte folgten ihm. „Du weißt nicht, wer du ohne die Horde bist, Go’el“, sagte sie. Wie immer gebrauchte sie den Namen, den ihm seine Eltern gegeben hatten – ein Name, den er selbst nie verwendete. Gegeben von einer Familie, die er nie gekannt hatte. Plötzlich, obwohl sie ihn schon tausend Mal benutzt hatte, machte ihn das wütend.

„Ich bin nicht Go’el!“, knurrte er. „Wie oft muss ich dich noch bitten, mich nicht so zu nennen?“

Sie wich nicht zurück. „Siehst du!“, sagte sie und ihre Stimme klang traurig. „Wenn du nicht weißt, wer du bist, wie kannst du dann wissen, was du tun sollst?“

Er antwortete nicht.

Загрузка...