28.
Kapitel
Caitlin und Caleb standen im Boston Common auf einem kleinen Hügel und sahen sich prüfend um. Caleb hielt einen Plan des Freedom Trail in der Hand, den er gerade in einem Geschäft erstanden hatte, und fuhr immer wieder mit dem Finger die Route entlang. Caitlin hatte die beiden Hälften der alten Schriftrolle hervorgezogen.
»Lies es noch einmal vor«, forderte er sie auf.
Caitlin kniff die Augen zusammen, um die verblasste Schrift besser lesen zu können, und begann:
»Die vier Reiter reiten auf einem Pfad in die Freiheit.
Sie verlassen das gemeinsame Land,
betreten einen Ring aus Blut,
versammeln sich in dem Haus
und finden die, die sie liebten,
neben der vierten Spitze des Kreuzes.«
»Ein Pfad in die Freiheit«, wiederholte Caleb laut und konzentrierte sich. »Das muss einfach ein Hinweis auf den Freedom Trail sein. Das macht absolut Sinn, er liegt genau zwischen Salem und Martha’s Vineyard. Wir sind in der Mitte.
Und der Hinweis auf ›das gemeinsame Land‹ … Damit kann nur dieser Park hier gemeint sein, in dem wir uns jetzt befinden. Auch das ergibt einen Sinn. An dem Ort, an dem wir gerade stehen, wurden im siebzehnten Jahrhundert die Hexen hingerichtet. Der Ort ist sehr geschichtsträchtig, vor allem für uns Vampire.
In der Schriftrolle heißt es ›sie verlassen das gemeinsame Land‹. Das heißt wohl, wir müssen hier beginnen, aber ich bin nicht sicher, warum. Was den Rest angeht … ›Ring aus Blut‹, ›versammeln sich in dem Haus‹, ›vierte Spitze des Kreuzes‹ … Ich habe nicht die geringste Ahnung, wohin wir von hier aus gehen müssen.«
Erneut blickte Caitlin sich um. Der Blick von hier oben war beeindruckend. Trotz des warmen Wetters lag noch ein wenig Schnee, und einige Kinder fuhren mit ihren Schlitten den Hügel hinunter. Sie kreischten vor Vergnügen, und ihre Eltern freuten sich mit ihnen. Der ganze Park wirkte wunderschön und sehr idyllisch. Es fiel ihr schwer, sich vorzustellen, dass hier einmal Hexen gehängt worden waren.
Auf dem Hügel stand nur ein großer Baum. Ansonsten war nichts zu sehen, was als Spur hätte gedeutet werden können.
»Warum heißt es ›die vier Reiter‹?«, fragte sie. »Worum könnte es dabei gehen?«
»Das bezieht sich auf die Apokalypse. Es geht um die vier Reiter der Apokalypse, die in alle vier Himmelsrichtungen reiten. Ich glaube, das soll bedeuten, dass die Welt untergehen wird, falls wir das Schwert nicht finden.«
»Oder vielleicht heißt es auch«, überlegte sie, »dass die Welt untergeht, wenn wir es finden.«
Nachdenklich sah Caleb sie an. »Vielleicht«, erwiderte er leise.
Erneut sah er sich um. »Warum ausrechnet hier?«, fragte er. »Warum dieser Ort?«
Während Caitlin überlegte, hatte sie plötzlich eine Eingebung.
»Vielleicht geht es ja auch gar nicht um diesen Ort«, meinte sie. »Vielleicht geht es darum, diesen Ort zu verlassen – um die Reise an sich.«
»Wie meinst du das?«
»In der Schriftrolle ist die Rede vom Reisen, man verlässt einen Ort und begibt sich an einen anderen. Vielleicht sollen wir einfach diese Orte aufsuchen und die entsprechenden Wege zurücklegen, aber nicht notwendigerweise Dinge finden. Vielleicht geht es einfach nur um den Weg, die Reise.«
Verwirrt runzelte Caleb die Stirn.
»Wie bei diesen Leuten, die in die Maislabyrinthe gehen«, erklärte sie. »Der Weg ist das Ziel, aus diesem Grund tun sie es. Indem man in bestimmte Richtungen geht und bestimmten Mustern folgt, soll man sich angeblich irgendwie verändern.«
Caleb betrachtete sie anerkennend. Anscheinend gefiel ihm ihre Idee.
»Okay«, sagte er. »Das kann ich nachvollziehen. Aber trotzdem weiß ich nicht, wohin wir gehen sollen.«
»Na ja«, überlegte sie, »hier heißt es, ›sie verlassen das gemeinsame Land‹ und ›betreten einen Ring aus Blut‹. Unser nächster Anlaufpunkt wäre demnach der Ring aus Blut.«
»Und was soll das sein?«
Caitlin stand neben ihm und starrte auf den Plan. Die sechzehn historischen Sehenswürdigkeiten entlang des rund vier Kilometer langen Freedom Trail waren aufgeführt. Der bloße Anblick auf dem Plan überwältigte sie. Sie hatte keine Ahnung, in welche Richtung sie gehen sollten. Erneut betrachtete sie eine Sehenswürdigkeit nach der anderen, aber keine schien die Form eines Kreises oder eines Rings zu haben. Und ganz sicher gab es keinen Hinweis auf einen Ring aus Blut.
Auch die Bildunterschriften halfen nicht weiter.
Doch dann sah sie es.
Ganz unten auf dem Plan gab es eine Fußnote, unter der Bildunterschrift zum Old State House. Dort hieß es: Direkt vor dem Gebäude auf der Devonshire Street ereignete sich das Massaker von Boston.
»Hier!«, rief sie aufgeregt und zeigte darauf. »Das Massaker von Boston. Es gibt hier zwar keinen Ring, aber zweifellos wurde an dieser Stelle viel Blut vergossen.«
Sie sah Caleb fragend an. »Was meinst du?«
Nachdem er nochmals den Plan studiert hatte, nickte er ihr schließlich zu.
»Lass es uns versuchen.«
***
Caitlin und Caleb verließen den Park, bogen in die Court Street ein und steuerten auf die Bostoner Altstadt zu. Bald kam das Old State House in Sicht. Es war ein großes Backsteingebäude, das in den Anfangsjahren des achtzehnten Jahrhunderts errichtet worden war, mit historischen Sprossenfenstern und einem großen, weißen Turm. Das Bauwerk war in seiner Schlichtheit und Schönheit atemberaubend.
Sie umkreisten das Gebäude auf der Suche nach dem Schauplatz des Massakers von Boston. Als sie um eine Ecke bogen, standen sie plötzlich davor.
Abrupt blieben sie beide stehen.
Es war ein Ring – ein perfekter Kreis.
Die Stelle, die an das Massaker erinnerte, war klein, kaum größer als ein Gullydeckel. Caitlin und Caleb traten näher und betrachteten sie aufmerksam.
Es gab keine besondere Kennzeichnung: Es handelte sich lediglich um einen schlichten Kreis aus kleinen Kopfsteinen, die vor dem Old State House in den Boden eingelassen waren.
»Wir sind definitiv auf der richtigen Spur«, bemerkte Caleb.
»Warum?«
»Wegen des Balkons darüber«, erläuterte er und zeigte auf das Gebäude. »Von diesem Balkon aus wurde die amerikanische Unabhängigkeitserklärung erstmals verlesen.«
Neugierig betrachtete Caitlin den kleinen Balkon.
»Und?«
»Die Gründung des amerikanischen Staatenbundes war in Wahrheit die Gründung eines Vampirstaates. Freiheit und Gerechtigkeit für alle. Glaubensfreiheit, keine religiösen Verfolgungen mehr. Eine kleine Gruppe von Leuten, die eine riesige und mächtige Nation eroberte. Glaubst du wirklich, eine kleine Gruppe Menschen hätte das bewerkstelligen können?
Wir waren es, die Vampire, auch wenn das natürlich nicht in den Geschichtsbüchern steht. Die Gründung Amerikas war die Gründung unserer Nation.
Aber die bösen Clans wie beispielsweise der Blacktide Clan haben seither wieder und wieder versucht, die Macht an sich zu reißen. Deshalb hat es immer zwei verfeindete Lager gegeben. Gut und Böse. Freiheit und Verfolgung. Wo das eine ist, gibt es auch das andere.
Ich bin davon überzeugt, dass dein Vater einer der Gründer gewesen sein muss. Zu ihnen gehörten nur die mächtigsten Vampire. Sie besaßen die mächtigsten Waffen und bewahrten sie für künftige Generationen auf.«
»Sie bewahrten sie auf?«, fragte Caitlin, während sie versuchte, diese Informationen zu verarbeiten.
»Das Schwert, nach dem wir suchen – das türkische Schwert – ist dazu gedacht zu beschützen, nicht anzugreifen. Aber dazu muss es in den richtigen Händen sein. Sollte es in die falschen Hände geraten, könnte es zu einer schrecklichen Waffe werden. Deshalb wurde es so sorgfältig versteckt – damit nur die richtigen Leute es finden. Und wenn irgendjemand in der Lage gewesen wäre, es zu verstecken, dann dein Dad.«
Momentan war Caitlin damit überfordert, diese Einzelheiten richtig zu verarbeiten. Es fiel ihr schwer zu glauben, dass all das der Wahrheit entsprach. Doch ganz offensichtlich ergab das einen Sinn. Sie hatte das Gefühl, dass ihre Suche sich dem Ende zuneigte.
»Aber ich kann hier keine weiteren Hinweise erkennen«, sagte sie schließlich und sah sich zweifelnd um.
»Ich auch nicht«, gab Caleb zu. »Aber wenn deine Theorie stimmt und es hier um den Weg geht, würde das bedeuten, dass wir diesen Kreis aus irgendeinem Grund einfach nur sehen sollten, um dann die Spur weiterzuverfolgen.«
Er nahm die Schriftrolle und studierte sie zum wiederholten Mal.
»Versammeln sich in dem Haus«, las er langsam und nachdenklich. »Was für ein Haus?«
Caitlin breitete erneut den Plan des Freedom Trail aus.
»Entlang dieser Besichtigungsroute gibt es jede Menge Häuser: das Paul Revere House, John Coburn’s House, das John J. Smith House … Jedes davon könnte gemeint sein. Es könnte sogar ein Haus sein, das gar nicht auf dem Freedom Trail liegt«, fügte sie hinzu.
»Das glaube ich nicht«, widersprach Caleb. »Irgendwie habe ich das Gefühl, dass wir aus einem bestimmten Grund auf diese Fährte gesetzt wurden. Unser Ziel muss irgendwo auf dem Freedom Trail liegen.«
Beide beugten sich über den Plan und lasen alle Beschreibungen aufmerksam durch. Plötzlich hielt Caitlin inne. Ein neuer Gedanke war ihr durch den Kopf geschossen.
»Und wenn es gar kein Haus ist?«, fragte sie aufgeregt.
Fragend sah Caleb sie an.
»Aus irgendeinem Grund erscheint mir die Bezugnahme auf ein normales Haus zu offensichtlich. Alle anderen Hinweise waren wesentlich subtiler. Was wäre, wenn der Hinweis nicht wörtlich zu nehmen ist, sondern im übertragenen Sinne?«
Sie folgte dem Pfad mit dem Finger.
»Beispielsweise könnte eine Kirche gemeint sein. Sieh mal«, sagte sie und zeigte mit dem Finger darauf. »Die Meeting House Church, wo früher Versammlungen abgehalten wurden. Sie liegt gleich um die Ecke.«
Calebs Augen wurden groß, und er nickte anerkennend.
Dann lächelte er. »Ich bin froh, dass du auf meiner Seite bist.«
***
Zügig marschierten sie die Washington Street entlang und erreichten innerhalb kürzester Zeit die Meeting House Church. Auch diese historische Kirche war perfekt restauriert.
Als sie eintreten wollten, wurden sie von einer Aufseherin aufgehalten.
»Es tut mir leid, aber wir schließen gerade«, sagte sie. »Das hier ist ein Museum, und es ist siebzehn Uhr. Warum kommt ihr nicht einfach morgen wieder?«
Caleb warf Caitlin einen Blick zu, und sie spürte sofort, was er dachte: Er wollte, dass sie ihre Willenskraft an dieser Frau ausprobierte.
Also blickte Caitlin der Frau tief in die Augen und schickte ihr auf dem Gedankenweg einen Vorschlag. Sie würde sie einlassen, sie würde eine Ausnahme für sie machen.
Plötzlich blinzelte die Frau mit den Augen und sagte: »Wisst ihr was? Ihr beide seid so ein nettes Paar. Deshalb mache ich für euch eine Ausnahme – aber erzählt es bloß nicht weiter!« Sie zwinkerte ihnen zu.
Bevor sie das Gebäude betraten, schenkte Caleb Caitlin ein stolzes Lächeln.
Die Kirche war wunderschön. Wie die Walfang-Kirche auf Martha’s Vineyard bestand auch sie aus einem riesigen offenen Raum mit großen Fenstern, die in alle Richtungen zeigten. Die Kirchenbänke aus Holz waren leer. Sie hatten das Museum für sich allein.
»Diese Kirche ist riesig«, bemerkte Caitlin. »Was machen wir jetzt?«
»Lass uns zunächst dem vorgegebenen Weg folgen«, schlug Caleb vor und zeigte auf die roten Pfeile auf dem Boden, die den Besuchern den Weg weisen sollten.
So gelangten sie zu einer Reihe von Exponaten und kleinen Gedenktafeln, die entlang eines Holzgeländers ausgestellt waren. Sie blieben stehen, um zu lesen.
Auf einmal riss Caitlin die Augen auf. »Hör dir das an«, sagte sie. »An diesem Ort entschuldigte sich im Jahr 1697 Richter Sewall dafür, dass er einer der Richter bei den Hexenprozessen von Salem gewesen war, bei denen die Hexen im Jahr 1692 zum Tode verurteilt worden waren.«
Aufgeregt sahen Caleb und Caitlin sich an – die Verbindung zu Salem war hochinteressant. Offensichtlich waren sie am richtigen Ort. Alle Hinweise ihrer Suche liefen an einem Punkt zusammen. Sie fühlten sich ihrem Ziel so nahe, so als wäre das Schwert direkt unter ihren Füßen versteckt.
Doch als sie sich aufmerksam umsahen, entdeckten sie nichts, was eine weitere Spur darstellen könnte.
»Nun, das hier muss das Haus sein, in dem sie zusammenkommen. Und wenn du recht hast, wenn es tatsächlich um den Weg geht, dann stellt sich jetzt die Frage: Wo ist der vierte Ort?«
Erneut las er das Rätsel vor:
»Die vier Reiter reiten auf einem Pfad in die Freiheit.
Sie verlassen das gemeinsame Land,
betreten einen Ring aus Blut,
versammeln sich in dem Haus
und finden die, die sie liebten,
neben der vierten Spitze des Kreuzes.«
»Wir haben ›das gemeinsame Land‹ verlassen«, überlegte er laut, »wir haben den ›Ring‹ betreten, und wir haben uns ›in dem Haus versammelt‹. Jetzt müssen wir noch ›neben der vierten Spitze des Kreuzes die finden, die wir liebten‹. Wenn du mit deiner Vermutung richtig liegst, haben wir noch ein letztes Ziel vor uns.«
Beide dachten angestrengt nach.
»Ich glaube, dieser letzte Punkt bezieht sich auf die Suche nach deinem Vater«, sagte er. »Wir haben bestimmt nur noch eine Station vor uns. Aber wo? Was ist ›die vierte Spitze des Kreuzes‹? Eine weitere Kirche?«
Caitlin zerbrach sich den Kopf, trat dann einen Schritt vor und musterte wieder den Plan. Mit dem Finger verfolgte sie die Route, die sie bisher zurückgelegt hatte. Plötzlich leuchteten ihre Augen auf.
»Einen Stift«, stieß sie atemlos hervor. »Schnell, ich brauche einen Stift.«
Suchend lief Caleb den Gang entlang, bis er schließlich in einer Kirchenbank einen Stift fand.
Sorgfältig zeichnete Caitlin eine Linie in den Plan des Freedom Trail ein.
»Es ergibt ein Muster«, erläuterte sie aufgeregt. »Der Weg, den wir gegangen sind, ergibt ein Muster. Wir haben im Boston Common begonnen.« Sie fügte einen Kreis ein. »Dann haben wir den Ring aus Blut betreten«, fuhr sie fort und verband die beiden Punkte miteinander. »Als Nächstes waren wir in der Meeting House Church.« Sie kreiste auch die Kirche ein und zog eine Verbindungslinie.
»Sieh mal, wo wir überall gewesen sind. Sieh dir das Muster an.«
Unsicher kniff er die Augen zusammen.
»Das Muster ist noch nicht ganz fertig, deshalb erkennst du es noch nicht. Schließlich haben wir erst drei Punkte aufgesucht. Aber ein vierter würde es vervollständigen.«
Sie zog eine letzte Linie, um das Muster fertigzustellen.
Die Kinnlade klappte ihm herunter, als er begriff.
»Ein Kreuz«, sagte er leise. »Wir sollten den Konturen eines Kreuzes folgen.«
»Ja«, bekräftigte sie aufgeregt. »Und wenn wir der Linie folgen, wenn wir das Kreuz symmetrisch vervollständigen, kann es nur auf einen Ort hindeuten.«
Mit den Augen verfolgten sie die Linie.
Genau dort am Ende der Linie, an der vierten Spitze des Kreuzes, lag der Friedhof von King’s Chapel.
»›Die, die sie liebten‹«, sagte Caleb. »Der Friedhof.«
»Dort ist er beerdigt«, ergänzte sie.
»Und ich wette, dass sich dort auch das Schwert befindet.«
***
Samantha ließ die Außenbezirke von Boston hinter sich und steuerte den BMW zügig den Highway entlang. Das Ziel hieß Salem. Sam saß auf dem Beifahrersitz. Samantha ärgerte sich immer mehr über die wachsenden Schwierigkeiten bei der Suche nach Sams Dad. Als sie die Nachrichten auf Facebook gesehen hatte, nachdem Sam ihr voller Aufregung erzählt hatte, dass er in Kontakt mit seinem Vater stand, war sie überzeugt gewesen, dass alles ganz leicht werden würde. Sie würde ihn einfach zu seinem Vater bringen, und daraus würde sich der direkte Weg zum Schwert ergeben.
Doch die Dinge hatten sich komplizierter gestaltet. Diesen widerlichen Kerl hatte sie nicht auf der Rechnung gehabt, aber vor allem hatte sie nicht damit gerechnet, dass sie Gefühle für Sam entwickeln könnte. Das machte die Dinge nur noch komplizierter und trübte ihre Wahrnehmung. Ihr ursprünglicher Plan war so simpel gewesen: Sie wollte seinen Dad finden, beide umbringen und mit dem Schwert zurückkehren. Inzwischen war sie sich nicht mehr sicher, ob sie Sam überhaupt töten wollte. Sie sah die frische Wunde an seiner Wange, eine ständige Erinnerung daran, dass er versucht hatte, sie zu retten.
Mehr als alles andere war sie wütend auf sich selbst, auf ihren Mangel an Selbstdisziplin. Sie hasste Gefühle – sie kamen einem bloß immer in die Quere.
Nachdem seine Uhr sie auf die Spur nach Salem gebracht hatte, hätte sie sich seiner entledigen können. Aber aus irgendeinem verrückten Grund wollte sie ihn bei sich haben – sie verstand sich selbst nicht mehr. Also hatte sie ihm gesagt, sie bräuchte seine Hilfe bei etwas, das ihr wichtig wäre. Dazu müssten sie nach Salem fahren. Ob er dabei wäre? Daraufhin hatte er über das ganze Gesicht gestrahlt. Es war mehr als offensichtlich, dass er keine Lust hatte, in die Schule zurückzukehren.
Außerdem konnte sie ihn weiterhin benutzen, um seinen Dad aufzuspüren. Das mit der Uhr war ein Glücksfall gewesen. Salem war jedoch kein kleiner Ort, und diese alte Gravur konnte alles bedeuten. Daher könnte es sich tatsächlich als nützlich erweisen, ihn dabeizuhaben.
Plötzlich spürte sie etwas und ging abrupt in die Eisen. Kreischend kam der Wagen mitten auf dem Highway zum Stehen.
»Hoppla!«, rief Sam, während er sich mit den Händen am Armaturenbrett abstützte. »Was soll das denn?«
Mehrere Autofahrer mussten ihnen mit quietschenden Reifen ausweichen und hupten empört.
Aber Samantha war das völlig egal. Sie hatte irgendwelche Schwingungen aufgefangen.
Hochkonzentriert reckte sie das Kinn und horchte in sich hinein.
Ja. Da war es wieder. Ganz in der Nähe. Das Signal war unmissverständlich. Bedeutende Vampiraktivitäten fanden statt, und zwar hier in Boston. Sie konnte das Pulsieren der Schwingungen in ihren Adern spüren. Sie strahlten eine gewisse Dringlichkeit aus. Vielleicht hatte das Ganze sogar etwas mit dem Schwert zu tun.
Völlig unvermittelt wendete sie um hundertachtzig Grad und zwang die übrigen Verkehrsteilnehmer damit zu waghalsigen Manövern. Der BMW raste den Storrow Drive in der entgegengesetzten Richtung entlang.
Sam wurde gegen die Tür geschleudert und klammerte sich Halt suchend an den Türgriff.
»Wozu die Eile?«, fragte er überrascht und ein wenig erschrocken.
Nach einigen Hundert Metern bog Samantha quietschend nach links ab und überquerte dabei unerschrocken vier Fahrspuren.
»Eine kleine Planänderung«, erwiderte sie nur.
***
Kyle sprang schon von der Jacht, bevor sie überhaupt angelegt hatte, und landete geschickt auf dem Kopfsteinpflaster Bostons. Kurz darauf stand Sergei neben ihm.
Auf der Überfahrt hatte er mehrmals daran gedacht, den Russen zu töten, doch das hätte ihm nur vorübergehend Freude bereitet und ihm nicht das verschafft, was er so dringend brauchte. Also hatte er beschlossen, ihm eine letzte Chance zu geben.
Wenn Sergei auch in Boston keine Anhaltspunkte fand, wo das Mädchen war, würde er ihn ganz bestimmt umbringen und einen anderen Weg finden. Ungeduldig sah Kyle den Russen an.
Zumindest hatte er noch die große Wunde im Gesicht. Der Gedanke, dass der Sänger eine schöne, große Narbe zurückbehalten würde, gefiel Kyle außerordentlich.
Zum Glück leuchteten die Augen des Russen jetzt auf.
»Sie ist definitiv hier, mein Meister«, sagte er aufgeregt. »Ich spüre sie ganz deutlich. Sie kann nur wenige Blocks entfernt sein.«
Ein zufriedenes Lächeln breitete sich auf Kyles Gesicht aus. Diesmal schien es zu stimmen. Ja, er glaubte ihm. Nur wenige Blocks entfernt. Das klang doch fantastisch.
Kyle ging auf eine glänzende neue Limousine zu, deren Fahrer bei laufendem Motor neben der geöffneten Tür stand.
Der Russe öffnete die Beifahrertür und stieg ein.
»He!«, rief der Fahrer.
Doch bevor er überhaupt reagieren konnte, hatte Kyle ihm schon einen kräftigen Fausthieb verpasst, der ihn einige Meter rückwärtsfliegen ließ. Mit einer geschmeidigen Bewegung nahm Kyle auf dem Fahrersitz Platz und fädelte sich in den Verkehr ein.
Dann raste er durch den dichten Bostoner Verkehr, scherte aus, nur weil es ihm Spaß machte, und rammte dabei einen anderen Wagen. Überall um ihn herum wurde kräftig gehupt. Er grinste breit. Jetzt fühlte er sich schon ein bisschen besser.
Innerhalb kürzester Zeit würde das Schwert ihm gehören.
Und dann würde er sie alle töten.