18.

Kapitel

In Edgartown, einem kleinen Städtchen im Südosten von Martha’s Vineyard, verließen Caleb und Caitlin die Fähre. Als sie die Gangway hinuntergingen, fiel Caitlin auf, dass sowohl Caleb als auch Rose erleichtert waren, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Vorsichtig streckte der kleine Wolf seinen Kopf heraus, schnüffelte und sah sich neugierig um.

Erneut betrachtete Caitlin die Broschüre, die sie in der Hand hielt. Darin wurden die Touristen eingeladen, historische Sehenswürdigkeiten auf der Insel Martha’s Vineyard zu erkunden. Gegen Ende der Liste war aufgeführt: The Vincent House, erbaut 1672.

Nach dieser Entdeckung hatten sie beschlossen, ihren Plan zu ändern und zuerst dem Vincent House einen Besuch abzustatten. Die Aquinnah-Klippen konnten warten. Schließlich lautete die Gravur auf dem Schlüssel Vincent House, also war diese Spur konkreter als die Klippen – vielleicht müssten sie die Klippen nun auch gar nicht mehr aufsuchen. Den Schlüssel bewahrte Caitlin sicher in ihrer Tasche auf. Zum wiederholten Mal tastete sie danach, spürte das Metall unter ihren Fingern und war beruhigt.

Caleb und Caitlin spazierten die lange Mole entlang, die fast menschenleer war. Sie hatten die Insel praktisch für sich. Trotz der kühlen Jahreszeit war es während der Überfahrt spürbar wärmer geworden, und inzwischen war es sogar ungewöhnlich warm, knapp zwanzig Grad. Caitlin schwitzte und hätte gerne eine Schicht ihrer warmen Kleidung ausgezogen.

Als sie an sich hinuntersah, stellte sie peinlich berührt fest, dass sie immer noch die Sachen trug, die sie vor einigen Tagen bei der Heilsarmee erstanden hatte. Sie hätte liebend gern etwas anderes angezogen, doch sie hatte kein Geld. Und Caleb konnte sie nicht fragen.

Offensichtlich fand Caleb es ebenfalls warm, denn er zerrte an seinem Kragen herum. Die Temperatur fühlte sich nach Spätfrühling an, nicht nach März. Die Sonne strahlte vom Himmel und wurde vom Wasser reflektiert.

Plötzlich sah Caleb sie an und schlug vor, als hätte er ihre Gedanken gelesen: »Lass uns ein paar neue Klamotten für dich kaufen.« Noch bevor sie etwas erwidern konnte, fügte er hinzu: »Mach dir keine Gedanken. Ich habe eine Kreditkarte mit unbeschränktem Kreditrahmen.« Dann grinste er ein bisschen verlegen. »Das ist einer der Vorteile, wenn man Tausende von Jahren lebt: Man häuft ein Vermögen an.«

Erneut staunte Caitlin darüber, wie er immer wieder ihre Gedanken erraten konnte. Einerseits fand sie das angenehm, andererseits machte sie sich Sorgen darüber, wie viel er eigentlich wusste. Kannte er etwa auch ihre tiefsten Gedanken und Gefühle? Hoffentlich nicht. Selbst wenn es so sein sollte, hatte sie jedoch das Gefühl, dass er in der Lage wäre, seine Fähigkeit zu steuern. Er würde sie bestimmt nicht ausspionieren.

»Wenn du meinst …«, erwiderte Caitlin zögernd. »Und wenn du mich den Betrag eines Tages zurückzahlen lässt.«

Er nahm ihre Hand, und sie gingen die Hauptstraße des malerischen Städtchens entlang. Trotz des wunderschönen Wetters waren kaum Menschen unterwegs – Caitlin vermutete, dass das an der Jahreszeit lag. Offensichtlich war das Touristengeschäft saisonabhängig, sodass sie praktisch die ganze Stadt für sich hatten.

Sie hatte noch nie einen schöneren Ort gesehen. Alles war so sauber und perfekt instand gehalten. Die kleinen, historischen Häuser waren entzückend. Man fühlte sich in die Anfangsjahre des neunzehnten Jahrhunderts zurückversetzt. Das Städtchen wirkte wie ein stilles Kunstwerk.

Das Einzige, was diese Illusion zerstörte, waren die modernen Geschäfte. Caitlin nahm an, dass im Sommer bestimmt alle Läden geöffnet waren und sich jede Menge wohlhabende Käufer darin drängten. Wahrscheinlich könnte sie es sich normalerweise gar nicht leisten, hier einzukaufen. Sie hatte wirklich Glück, jetzt mit Caleb hier zu sein, noch dazu an einem so wunderschönen Tag!

Verzückt schloss sie die Augen und atmete die Frühlingsluft ein. Beinahe konnte sie sich vorstellen, mit Caleb irgendwann in einem vergangenen Jahrhundert hier gelebt zu haben. Wie schön wäre es, sich hier niederzulassen und ein ganz normales Leben zu führen. Aber sie wusste, dass das nicht möglich war.

»Sollen wir das Vincent House suchen?«, fragte sie schließlich.

»Ja, später«, entgegnete er. »Erst mal kleiden wir dich neu ein.«

Caleb führte sie in das einzige Geschäft, das geöffnet hatte: Lily Pulitzer.

Die Glocke über der alten Tür bimmelte, als sie eintraten, und die Verkäuferin freute sich ganz offensichtlich, endlich Kunden zu haben. Schnell legte sie ihre Zeitung zur Seite, eilte herbei und begrüßte sie ausgesprochen liebenswürdig.

Bevor Caitlin herumstöberte, reichte sie Rose an Caleb weiter. Die Verkäuferin war entzückt.

»Was für ein süßer Welpe!«, staunte sie mit großen Augen. »Ist das ein Husky?«

Amüsiert lächelte Caleb ihr zu. »So etwas in der Art«, antwortete er.

Zehn Minuten später verließen sie das Geschäft. Caitlin war von Kopf bis Fuß neu eingekleidet und fühlte sich wie ein neuer Mensch. Als sie an sich hinuntersah, musste sie fast laut lachen. Die Kleidung war absolut untypisch für sie. Jetzt war sie von einem Extrem ins andere gefallen: von der Heilsarmeekleidung hin zu einem Traum in Pastelltönen. Sie war herausgeputzt mit einer lindgrünen Jeans, einem rosa T-Shirt, einem blasslila Kaschmirpulli und einem lindgrünen Mantel. Nicht, dass sie es sich groß hätte aussuchen können – nur dieses eine Geschäft war geöffnet, und in ihrer Größe war sonst nichts mehr da gewesen. Aber der Mantel passte ihr gut und besaß eine Innentasche, die gerade eben groß genug für ihr Tagebuch war. Zu dem Outfit hatten sie Ballerinas erstanden, die mit goldenen Pailletten besetzt waren. Jetzt sah Caitlin aus, als wäre sie einem Lily-Pulitzer-Katalog entstiegen.

Nun ja, wenn sie schon mitten in einen Vampirkrieg geraten würde, wäre sie zumindest modisch gekleidet. Und wahrscheinlich wäre sie der einzige Vampir, der nicht schwarz gekleidet war.

Lächelnd dachte sie an den überraschten Gesichtsausdruck der Verkäuferin, als sie sie gebeten hatte, ihre alten Klamotten einfach zu entsorgen. Bestimmt kam so etwas nicht jeden Tag vor.

Irgendwie gefiel sie sich. Zwar war es nicht die Kleidung, die sie ausgewählt hätte, um diese Reise mit Caleb zu unternehmen. Dafür hätte sie schwarze Kleidung vorgezogen, vielleicht eine Lederjacke mit hohem Kragen im Gothic-Stil. Aber es war trotzdem in Ordnung. Ihre Kleidung war neu, und dafür war sie dankbar.

»Vielen Dank, Caleb«, sagte sie, als sie das Geschäft verließen. Das meinte sie absolut ernst. Noch nie in ihrem Leben hatte ein Mann ihr Kleider gekauft, und schon gar nicht so hübsche. Er hatte keine Ahnung, wie dankbar sie ihm war und wie gut es sich anfühlte, dass jemand sich so um sie kümmerte und sorgte.

Während sie die Straße entlangschlenderten, nahm er lächelnd ihre Hand. Ihr war ein wenig warm in ihrem neuen Outfit, aber bei den milden Temperaturen war das ja auch nicht verwunderlich. Lieber ein bisschen zu warm als zu kalt.

Sie hatten die Verkäuferin nach dem Vincent House gefragt und waren freudig überrascht gewesen, dass die Frau nicht nur wusste, wo es sich befand, sondern dass ihr nächstes Ziel sogar nur eine Straße entfernt war.

Zum ersten Mal hatten sie es nicht eilig, als sie in die angewiesene Richtung spazierten. Ausnahmsweise ließen sie sich Zeit – sie hatten beide das Gefühl, dass die Dinge sich ohnehin wieder zuspitzen würden, sobald sie das Haus erreichen und den nächsten Hinweis finden würden. Außerdem waren sie so müde, dass sie gar keine Lust hatten, sich zu beeilen. Einerseits waren sie natürlich neugierig auf den nächsten Hinweis, andererseits war ihnen jedoch bewusst, dass sich ihr Leben dadurch bald schon unwiderruflich verändern würde. Und das würde wahrscheinlich mit sich bringen, dass sich ihre Wege trennen würden.

Caitlin setzte Rose auf den Boden und erlaubte ihr, neben ihnen herzulaufen. Zufrieden stellte sie fest, dass der kleine Wolf brav bei ihnen blieb und nicht davonlief. Einmal rannte er zu einem kleinen Grasfleck und erleichterte sich, kehrte jedoch gleich wieder zu ihnen zurück. Seine Wunde schien zu verheilen, er hinkte kaum noch. Als Caitlin sich bückte, um Rose ein kleines Stück Hotdog zu geben, fraß sie es vergnügt auf.

Sie passierten eine große, historische Kirche, gingen einen weißen Palisadenzaun entlang und bogen dann in einen Fußweg ein, der durch tadellos gepflegte Parkanlagen führte. Trotz der Jahreszeit war der Rasen grün und kräftig. Auf einer Seite lag eine prachtvolle Walfang-Kirche, auf der anderen Seite eine riesige Walfänger-Villa aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, an deren Rückseite sich eine große Veranda befand. Auf dem Schild stand: The Daniel Fisher House. Noch nie hatte Caitlin ein schöneres Haus gesehen. Wie schön wäre es, hier zu wohnen! Als sie mit Caleb Hand in Hand durch den Park schlenderte, während Rose neben ihnen herlief, fühlte es sich fast so an, als wären sie nach Hause gekommen.

Nachdem sie dem Fußweg noch hundert Meter weiter gefolgt waren, stießen sie schließlich auf ein kleines, historisches Gebäude, das ein wenig zurückversetzt lag. Auf der Hinweistafel war zu lesen: The Vincent House, 1672.

Caleb und Caitlin starrten auf das Haus. Es machte nicht viel her – es war klein und niedrig, hatte nur wenige winzige Fenster und sah wie ein typisches Bauwerk aus dem siebzehnten Jahrhundert aus. In dem bescheidenen Holzbau konnten kaum mehr als ein oder zwei Schlafzimmer Platz finden. Damit entsprach es nicht gerade Caitlins Erwartungen.

Gespannt gingen sie auf die Haustür zu. Caleb streckte die Hand aus und drehte am Türknauf, doch die Tür war verschlossen.

»Hallo?«, rief jemand. »Kann ich Ihnen helfen?«

Als sie sich umdrehten, entdeckten sie eine Frau in den Sechzigern, die tadellos gekleidet war und sich ihnen geschäftsmäßig mit strengem Blick näherte.

Caleb stieß Caitlin an und sagte: »Diesmal bist du an der Reihe. Versuch, ihr Denken zu manipulieren. Du kannst es. Diese Fähigkeit haben die Vampire den Menschen voraus. Bei dir ist sie noch nicht vollständig entwickelt, aber du hast definitiv einige Macht. Übe an dieser Frau. Beeinflusse sie. Bleib ganz ruhig und lass zu, dass ihre Gedanken zu deinen Gedanken werden. Lass zu, dass deine Gedanken zu ihren werden. Leg ihr nahe, was sie tun muss. Sie muss es aussprechen. Du musst es einfach nur zulassen.«

Die Frau kam näher und rief ihnen erneut etwas zu: »Das Haus ist momentan geschlossen, wie es auch auf der Tafel steht. Ich fürchte, Sie müssen während der Saison wiederkommen. Bis dahin gibt es keine Führungen, weil Restaurierungsarbeiten durchgeführt werden.« Dann warf sie einen Blick auf Rose. »Und Hunde dürfen sowieso auf gar keinen Fall in das Haus.«

Inzwischen war die Frau bis auf wenige Schritte herangekommen, stemmte die Hände in die Hüften und sah sie streng an. Dabei wirkte sie wie eine unnachgiebige Lehrerin.

Rose blickte zu ihr auf und knurrte leise.

Auffordernd sah Caleb Caitlin an.

Caitlin wiederum drehte sich etwas nervös zu der Frau um. Da sie das hier noch nie ausprobiert hatte, war sie sich nicht sicher, ob sie es konnte.

Okay, dachte sie, dann mal los.

Konzentriert starrte sie die Frau an und versuchte, ihre Gedanken zu erspüren. Sie erkannte ihren starken Willen und ein hohes Maß an Unnachgiebigkeit. Diese Person war nicht leicht zu kontrollieren. Sie spürte ihre Entrüstung und ihre Verärgerung, ihr Beharren auf ein Einhalten der Vorschriften. Caitlin ließ zu, dass die Gedanken zu ihren wurden.

Als Nächstes versuchte sie, ihr einen Gedanken zuzusenden. Dabei schlug sie vor, dass es in Ordnung sei, die Vorschriften auch mal ab und zu außer Kraft zu setzen und ein Auge zuzudrücken. Und dass sie die beiden Besucher ruhig einlassen könnte.

Gespannt fragte sich Caitlin, ob es wohl funktionieren würde. Doch die Frau erwiderte ihren Blick weiterhin mit einem verärgerten Gesichtsausdruck. Anscheinend klappte der Versuch nicht.

»Vielen Dank«, sagte Caitlin sehr freundlich. »Es war nett, Sie kennenzulernen. Wir sind Ihnen so dankbar, dass Sie für uns eine Ausnahme machen, nur dieses eine Mal, und dass wir uns das Haus allein ansehen dürfen.«

Streng erwiderte die Frau ihren Blick.

»Das habe ich nicht gesagt!«, widersprach sie mit Nachdruck.

Doch Caitlin atmete tief ein, schloss die Augen und konzentrierte sich.

Dann schlug sie die Augen wieder auf und sah die Frau erneut an.

Nach vollen zwei Sekunden wurden die Augen der Frau allmählich glasig. Schließlich sagte sie: »Wissen Sie was … Ich denke, es kann nicht schaden, wenn ich mal eine Ausnahme mache. Ich wünsche Ihnen viel Spaß.«

Damit machte sie auf dem Absatz kehrt und ging davon.

Freudig erregt drehte Caitlin sich zu Caleb um. Ihre eigenen Fähigkeiten verblüfften sie, sie war richtig stolz auf sich. Caleb schenkte ihr ein anerkennendes Lächeln.

»Wende diese Fähigkeit nur an, wenn es unbedingt sein muss«, ermahnte er sie, »und auch nur auf eine Weise, die anderen keinen Schaden zufügt. Das ist es nämlich, was die guten Vampire von den bösen unterscheidet.«

Aufgeregt zog Caitlin den kleinen silbernen Schlüssel aus der Tasche. Doch als sie ihn in das Haustürschloss stecken wollte, stellte sie enttäuscht fest, dass er nicht passte.

»Er passt nicht«, seufzte sie.

Auch Caleb probierte es, aber ebenfalls erfolglos.

Schließlich runzelte er frustriert die Stirn. »Du hast recht.« Dann sah er sich suchend um. »Vielleicht gibt es noch einen Eingang.«

Als sie ums Haus gingen, fanden sie eine weitere Tür. Erneut probierte Caleb den Schlüssel aus, aber wieder passte er nicht.

»Vielleicht ist das gar kein Türschlüssel«, meinte Caitlin. »Vielleicht gehört er zu etwas anderem, etwas, das sich im Haus befindet.«

»Nun, ich denke, wir haben keine Wahl«, erklärte er. Verstohlen sah er sich um und brach dann schnell das Schloss auf.

Hastig betraten sie das Haus und schlossen die Tür hinter sich.

Im Haus war es ziemlich düster, denn durch die kleinen Fenster drang nur wenig Licht. Die Decken waren niedrig, sodass Caleb beinahe den Kopf einziehen musste. Alles war aus Holz: Holzdecken, Holzpfosten, Holzdeckenbalken und Holzdielen. Mitten im Raum befand sich eine riesige, gemauerte Feuerstelle. Das Haus war in einem perfekten Zustand – sie hatten das Gefühl, eine Zeitreise ins Jahr 1672 unternommen zu haben.

Die Holzdielen knarrten, als sie durch das ganze Haus wanderten und in jede Ecke und jeden Winkel blickten. Auch das Mobiliar unterzogen sie einer genauen Prüfung. Allerdings fanden sie nichts, wozu der Schlüssel passen könnte. Vielmehr war es so, dass sie überhaupt keine Verstecke finden konnten.

Die beiden machten nochmals einen Rundgang und trafen sich dann in der Mitte wieder.

»Hast du etwas gefunden?«, fragte Caleb.

Sie schüttelte den Kopf. »Und du?«

Er schüttelte ebenfalls den Kopf.

Plötzlich hörten sie ein Geräusch und fuhren aufgeschreckt herum.

Die Haustür ging auf, und ein großer, schwarz gekleideter Mann in den Fünfzigern stand auf der Schwelle. Dann kam er ins Haus.

Kurz vor Caleb blieb er schließlich stehen und starrte ihn an.

Caleb erwiderte seinen Blick.

»Caleb?«, fragte der Mann nach einer Weile.

Calebs Gesichtsausdruck wurde weicher.

»Roger?«, fragte er zurück.

Auf einmal lächelten die beiden Männer und umarmten sich herzlich. Es dauerte mehrere Sekunden, bis sie sich wieder losließen.

Wer ist das denn?, dachte Caitlin.

Roger fing an zu lachen – ein tiefes, warmes und freundliches Lachen. Nun hielt er Caleb an den Schultern fest und betrachtete ihn genau. Obwohl Caleb groß war, überragte Roger ihn deutlich.

»Verdammt noch mal!«, rief Roger. »Wie lange haben wir uns schon nicht mehr gesehen … hundertfünfzig Jahre?«

»Eher um die zweihundert«, erwiderte Caleb.

Wer auch immer dieser Mann sein mochte, er hatte ganz offensichtlich eine wichtige Rolle in Calebs Leben gespielt.

Jetzt drehte Caleb sich um und streckte die Hand nach Caitlin aus. »Entschuldige bitte meine Unhöflichkeit«, sagte er. »Roger, darf ich dir Caitlin Paine vorstellen?«

Roger verbeugte sich leicht. »Nett, dich kennenzulernen, Caitlin.«

Caitlin erwiderte sein Lächeln. »Ganz meinerseits. Woher kennt ihr euch denn, ihr zwei?«

»Oh«, entgegnete Roger grinsend, »sagen wir einfach, wir kennen uns schon sehr lange.«

»Roger gehört zu meinen ältesten Freunden«, warf Caleb ein. »Er hat mir schon ein- oder zweimal das Leben gerettet.«

»Schon öfter«, lachte Roger.

In dem Moment streckte Rose den Kopf aus Caitlins Jacke hervor, und Rogers Augen leuchteten auf. »Hallo, du kleines Kerlchen«, sagte er, trat näher und streichelte Rose sanft.

Begeistert leckte der kleine Wolf ihm die Hand.

»Woher hast du gewusst, dass wir hier sind?«, wollte Caleb wissen.

»Caleb, ich bitte dich«, erwiderte Roger, als läge die Antwort auf der Hand. »Das hier ist eine Insel. Ich habe dich schon von Weitem gerochen.«

»Also hast du schon Bescheid gewusst, sobald wir die Fähre verlassen hatten«, meinte Caleb mit einem Lächeln. »Und du hast abgewartet, wohin ich gehen würde.«

»Natürlich«, bestätigte Roger. »Hättest du es nicht genauso gemacht? Allerdings habe ich mir schon gedacht, dass du hierherkommen würdest.«

Bedächtig blickte Caleb sich in dem Raum um. »Warum?«

»Es gibt nur einen einzigen Grund, warum einer von uns zum Vincent House kommen würde. Das Schwert, habe ich recht? Du bist doch hinter dem Schwert her, oder etwa nicht?«

Zögernd wechselten Caitlin und Caleb einen Blick.

»Gut möglich«, antwortete Caleb vorsichtig.

»Weißt du«, erklärte Roger dann, »die Sache mit dem Schwert ist die: Nur die Person, der es vorherbestimmt ist, das Schwert zu finden, wird es auch tatsächlich finden. Also der oder die Auserwählte. Zufällig weiß ich, dass du das nicht bist. Und was deine Freundin angeht, bei allem Respekt … Na ja, ich will nicht vorschnell urteilen, aber wenn sie nicht …«

Schnell griff Caitlin in die Tasche und zog den kleinen, silbernen Schlüssel heraus.

Sprachlos starrte Roger ihn einige Sekunden lang an.

»Mein Gott«, flüsterte er dann.

Als bräuchte er eine Bestätigung, blickte er Caleb fragend an. Caleb nickte.

Roger atmete tief ein.

»Nun«, fuhr er in einem ganz anderen Ton fort, »das ändert natürlich alles.«

Kopfschüttelnd musterte er Caitlin.

»Das hätte ich nie gedacht«, meinte er dann.

»Dann weißt du also, wo es sich befindet?«, fragte Caleb.

Roger nickte. »Nicht hier«, antwortete er.

Erneut wechselten Caitlin und Caleb einen Blick.

»Dieser Schlüssel«, erklärte Roger, »war einmal richtig, aber jetzt nicht mehr. Er ist ein Köder. Das Schwert ist nicht mehr im Vincent Haus. Dieses Haus ist jetzt nur noch ein Ort, den man aufsuchen muss.«

Völlig verwirrt sah Caitlin ihn an.

»Aber …«, setzte sie an.

»Das Vincent House wurde an diesem Ort wiederaufgebaut, es wurde umgezogen«, fuhr Roger fort. »Kennt ihr denn seine Geschichte nicht?«

Caitlin schüttelte den Kopf.

»Caleb, ich bin ehrlich enttäuscht von dir – du lässt nach«, sagte Roger tadelnd. »Das Vincent House stand ursprünglich an einem anderen Ort. Erst vor zweihundert Jahren haben wir es hier wieder aufgebaut. Der Rat hatte sich Sorgen wegen der Sicherheit gemacht. Also haben sie den Gegenstand aus dem Haus herausgeholt und an einen sichereren Ort gebracht. Und sie haben jemanden beauftragt, ihn zu bewachen. Dieser Jemand bin ich.«

Aufmerksam musterte Caleb seinen Freund.

»Seit fast zweihundert Jahren warte ich darauf, dass jemand mit diesem Schlüssel hier auftaucht«, fuhr Roger fort. Erneut schüttelte er den Kopf. »Nie hätte ich gedacht, dass du das sein könntest.«

»Wirst du uns den Ort zeigen?«, fragte Caleb.

Der Mann warf ihm einen langen, harten Blick zu, dann sah er Caitlin an.

Schließlich hielt er ihr seine große Hand hin.

»Darf ich mal sehen?«, bat er.

Fragend schaute Caitlin Caleb an. Der nickte.

Vorsichtig legte sie den kleinen, silbernen Schlüssel in Rogers Handfläche.

Staunend starrte er darauf. Dann hielt er den Schlüssel ans Licht und drehte ihn um, um die Gravur auf der Rückseite zu lesen. Schließlich schüttelte er zum wiederholten Male den Kopf.

»Verdammt«, sagte er dann. »Ich hätte geschworen, dass er größer ist.«

Загрузка...