11.
Kapitel
Die Uhr schlug gerade Mitternacht, als Kyle – flankiert von zwei Dutzend Vampiren – die Marmortreppe hinunterstieg. Es war eine lange Nacht gewesen, doch alles war viel besser gelaufen, als er es sich je erträumt hatte. Trotzdem fürchtete er sich davor, Rexus gegenüberzutreten, dem obersten Meister des Blacktide Clans. Da sie schon seit Tausenden von Jahren zusammen waren, wusste Kyle ganz genau, dass Rexus Dummköpfe nicht ertragen konnte. Er tolerierte keinen noch so kleinen Fehler, weshalb Kyle seit dem Tag, an dem er diese Caitlin hatte entkommen lassen, immer nervöser wurde. Rexus bestrafte selbst die geringste Verfehlung – daher war Kyle darauf vorbereitet und fragte sich nur, wann er wohl bestraft werden würde. Mit Sicherheit wartete Rexus nur auf den richtigen Zeitpunkt, denn er vergaß nie etwas.
Doch weil Kyles Arbeit in jeder Ecke der Stadt heute Abend so hervorragend funktioniert hatte, konnte er sich nicht vorstellen, dass sein Meister immer noch unzufrieden mit ihm sein würde. Seine gute Arbeit sollte den Fehler mehr als wettgemacht haben. Schließlich war das hier ein historischer Moment, und Kyle war ein wichtiger General in dem kommenden Krieg. Wie könnte sein Meister ihn ausgerechnet jetzt bestrafen?
Je mehr Kyle darüber nachdachte, desto mehr freute er sich auf die Begegnung mit seinem Meister. Es würde ihm das größte Vergnügen bereiten, über die Macht der Seuche zu berichten, über die Schnelligkeit, mit der sie sich ausbreiten würde, und über die Effizienz, mit der seine Männer und er die Erreger verbreitet hatten. Außerdem freute er sich auf Rexus’ Anerkennung und auf ihre gemeinsame Freude über den Krieg, auf den sie schließlich schon seit Jahrtausenden gewartet hatten.
Kyle fühlte sich wie berauscht, als er seinen Weg unter die Erde fortsetzte, tief unter die City Hall. Immer weiter ging es durch einen mit Marmor ausgekleideten Gang und durch riesige mittelalterliche Türen. Nach diesem Tag hatte er sich jahrelang gesehnt. Wie er es liebte, seine Vampire hinter sich zu spüren – und wie unbändig er sich auf den bevorstehenden Krieg freute! Ein derart schwindelerregendes Glücksgefühl hatte er nicht mehr empfunden, seit er die Enthauptungen während der Französischen Revolution hatte miterleben dürfen.
Als Kyle schließlich die Räumlichkeiten seines Meisters erreichte und die Doppeltüren passierte, traten unvermittelt mehrere hochrangige Vampire hinter ihn und hinderten seine Begleiter daran, ihm zu folgen. Mit einem Knall schlugen sie die Türen zu, sodass Kyle allein eintreten musste. Das gefiel ihm überhaupt nicht. Aber man hatte ohnehin keine andere Wahl, wenn man es mit Rexus zu tun hatte. Und man konnte nie wissen, was er als Nächstes tun würde.
Der riesige Raum hatte Ähnlichkeit mit einer Höhle. Überrascht stellte Kyle fest, dass Hunderte von Vampiren schweigend in Reihen an beiden Seiten standen. Unter ihnen waren viele, die Kyle nicht kannte.
Trotz ihrer großen Anzahl war es der Meister, der den Raum dominierte – die schweigenden, regungslosen Gestalten bildeten lediglich eine Art Mauer. Rexus. Er saß wie immer auf seinem mächtigen Marmorthron im Zentrum des Raumes und starrte auf Kyle hinunter. Genauso wollte der Meister es haben.
Kyle trat vor und verneigte sich.
»Mein Meister«, sagte er.
Eine lastende Stille lag über der Versammlung.
Schließlich hob Kyle den Blick.
»Sicherlich wird es Euch freuen zu erfahren, mein Meister, dass unsere Arbeit zur vollsten Zufriedenheit erledigt werden konnte. Die Pest wurde in jeden Winkel der Stadt getragen. Innerhalb weniger Tage wird sie die Menschen in die Knie gezwungen haben.«
Unbehagliches Schweigen folgte auf seine Worte, während der Meister weiterhin auf Kyle hinunterstarrte. Diese eisblauen Augen – wie immer bekam Kyle eine Gänsehaut.
Schließlich senkte er den Kopf, weil er diesen Blick einfach nicht mehr aushalten konnte.
»Du hast deine Sache gut gemacht, Kyle«, sprach der Meister. Seine Stimme war tief und rau. »Andere Clans erstatten bereits Bericht. Es werden immer mehr.«
»Dieser Krieg wird großartig werden, mein Meister«, erwiderte Kyle. »Es ist mir eine große Ehre, ihn für Euch zu führen.«
Erneut entstand eine bedrückende Stille.
»Dieser Krieg wird in der Tat großartig werden«, fuhr Rexus schließlich fort. »Bereits in wenigen Tagen wird New York uns gehören, und dann ist es nur noch eine Frage von Wochen, bis alle Menschen unsere Sklaven sein werden.«
Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Dabei lief Kyle ein Schauer den Rücken hinunter, denn wenn Rexus lächelte, konnte das nur eins bedeuten: eine schlechte Nachricht.
»Leider muss ich dir mitteilen«, fuhr Rexus fort, »dass du nicht da sein wirst, um diese Freude mit uns zu teilen.«
Ein plötzlicher Schmerz durchzuckte Kyles Brust, als er voll Furcht aufsah. Er war sprachlos. Wo sollte er denn sein? Wollte Rexus ihm einen Auftrag an einem anderen Ort erteilen?
»Nicht hier?«, fragte er schließlich ratlos. Seine Stimme überschlug sich, und er schämte sich dafür. »Mein Meister, ich fürchte, ich verstehe nicht. Ich habe doch schon alles perfekt erledigt.«
»Das weiß ich. Und das ist auch der Grund, warum du überhaupt noch atmest«, erklärte Rexus kalt.
Kyle schluckte.
»Allerdings stehen deine früheren Fehler nach wie vor im Raum. Ich vergesse nie etwas, Kyle.«
Erneut schluckte Kyle und spürte, wie seine Kehle trocken wurde. Genau das war es, wovor er sich gefürchtet hatte.
»Du hast dieses Halbblut entkommen lassen. Jetzt führt sie möglicherweise einen Vampir von einem anderen Clan zu dem Schwert. Falls das so sein sollte, ist unser Krieg gefährdet.« Er beugte sich vor, sodass Kyle dem Blick aus den eisblauen Augen nicht ausweichen konnte. »Ernsthaft gefährdet.«
Kyle war nicht so dumm, sich zu verteidigen. Das würde die Sache nur noch schlimmer machen. Also verharrte er einfach auf den Knien und wartete. Dabei zitterte er vor Wut und Angst. Man hatte ihn hereingelegt – er hatte ihren Krieg perfekt vorbereitet, und trotzdem würde man ihn bestrafen.
In den nachfolgenden Sekunden des Schweigen fragte Kyle sich nervös, wie seine Zukunft wohl aussehen würde.
»Kyle aus dem Blacktide Clan, du hast deine Pflichten vernachlässigt und unseren heiligen Schwur gebrochen. Hiermit verurteile ich dich dazu, mit Weihwasser übergossen zu werden. Danach wirst du aus unserem Clan verbannt werden und nicht mehr zu uns gehören. Du wirst leben, doch es wird ein einsames Leben sein. Du wirst für immer ein Ausgestoßener sein. Für immer.«
Kyle riss voller Furcht und Verblüffung die Augen auf, als sofort Dutzende von Vampiren neben ihm auftauchten, seine Arme packten und ihn wegzerrten. Diese Strafe war einfach zu hart. Sie war unfair.
»Aber mein Meister, das könnt Ihr nicht machen. Ich habe Euch so viele Jahrhunderte lang als unermüdlicher Krieger gedient!«
Verzweifelt wehrte sich Kyle, doch immer mehr Hände griffen zu und schleppten ihn weg.
»Ich kann sie finden!«, schrie er. »Ich kann sie zurückbringen! Ich bin der Einzige, der sie finden kann. Ihr müsst mir diese Chance geben!«
»Du hast bereits zu viele Chancen gehabt«, erwiderte der Meister mit einem eisigen Lächeln. »Ich werde sie selbst finden. Schließlich habe ich genug gute Soldaten in meiner Armee.«
Das war das Letzte, was Kyle hörte, bevor er durch die Flügeltüren aus dem Raum geschleift wurde.
»Mein Meister!«, schrie Kyle wieder, doch bevor er fortfahren konnte, wurde ihm schon die Tür vor der Nase zugeschlagen.
Überall um ihn herum waren Arme, und bevor er sichs versah, lag er flach auf dem Rücken auf einer Steinplatte.
Immer mehr Vampire beugten sich über ihn und hielten ihn fest. Sie alle sannen auf Rache. Kyle dachte an all die Fehden, die er im Laufe der Jahrtausende ausgefochten hatte. Um das zu erreichen, was er schließlich erreicht hatte, war er vielen auf die Füße getreten. Jetzt war die Zeit für Vergeltung gekommen.
Höhnisch grinsend trat ein Vampir mit einem Eimer in der Hand näher.
»NEEEIIINNN!«, schrie Kyle panisch. Da er diese Art der Bestrafung schon öfter miterlebt hatte, konnte er die furchtbaren Schmerzen erahnen, die ihn erwarteten.
Als er aufsah, neigte sich der Eimer, dann ergoss sich die Flüssigkeit über sein Gesicht.
Seine entsetzlichen Schreie hallten in den Gängen wider.