14.
Kapitel
Caitlin rannte. Wieder einmal war sie auf der Wiese und lief durch kniehohes Gras. Der Tag brach gerade an, und während sie lief, schien die Welt sich um sich selbst zu drehen. Sie hatte das Gefühl, sich direkt auf die riesige, strahlende Sonne zuzubewegen.
Weit hinten am Horizont stand ihr Vater – seine Silhouette wurde von der Sonne angestrahlt. Mit weit ausgebreiteten Armen wartete er darauf, sie zu umarmen. Zwar konnte sie seine Gesichtszüge nicht erkennen, aber sie wusste trotzdem, dass er voll Vorfreude lächelte. Wenn sie doch nur schneller laufen könnte!
Doch so sehr sie sich auch anstrengte, der Abstand wurde einfach nicht kleiner.
Das überraschte sie nicht. So verlief dieser Traum immer – das wusste sie, noch während sie träumte.
Doch diesmal war es anders. Diesmal gewann sie plötzlich Boden unter den Füßen und kam tatsächlich näher heran.
Jetzt waren es noch fünfzig Meter, dann zwanzig, schließlich nur noch zehn. Zum ersten Mal sah sie ihn richtig: Er war groß und stolz und stand dort in all seiner Pracht, angestrahlt von der Sonne. Ein gut aussehender Mann. Ein Kämpfer. Irgendwie sah er Caleb ähnlich.
Caitlin sprang geradewegs in seine Arme, und er erwiderte ihre Umarmung. Es fühlte sich so gut an, endlich bei ihm zu sein.
»Daddy!«, rief sie überglücklich.
»Mein Kind«, antwortete er mit seiner tiefen, wunderschönen und beruhigenden Stimme. »Ich habe dich so vermisst. Die ganze Zeit habe ich auf dich hinuntergeschaut. Und ich bin so stolz auf dich.«
Dann packte er sie an den Schultern, schob sie auf Armeslänge weg und sah ihr tief in die Augen.
Seine Augen waren so leuchtend gelb wie die Sonne und strahlten sie förmlich an.
Sie konnte es kaum ertragen, ihn anzusehen, aber gleichzeitig konnte sie ihren Blick nicht von ihm lösen. Diese Augen strahlten so viel Wärme und Liebe aus.
»Erinnerst du dich noch, Caitlin?«, fragte er. »Erinnerst du dich an die Zeit, als du noch klein warst? Weißt du noch, wohin wir da immer gegangen sind? Zu den Klippen, den roten Klippen.«
Vor ihrem inneren Auge tauchte ein Bild von gigantischen roten Klippen und riesigen Felsen auf, die hoch über einem Strand aufragten und steil bis ins Wasser abfielen. Ein magischer Ort. Ja, sie erinnerte sich tatsächlich – die Erinnerung kam zurück.
»Dort wirst du mich finden«, verkündete er. »Setze deine Suche fort und triff mich dort.«
Als sie die Hand ausstreckte, um ihn festzuhalten, war er auf einmal verschwunden.
Abrupt schreckte sie aus dem Schlaf auf.
Sie stellte fest, dass sie auf dem Rücken lag und in die Baumwipfel blickte. Zwischen den Bäumen erkannte sie einen Wolkenfetzen, der über den Himmel segelte.
Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wo sie sich befand, doch sie hatte das Gefühl, immer noch zu träumen. Der Wind bewegte die leise rauschenden, kahlen Äste – die ganze Welt schien lebendig zu sein, zu schwanken und Geräusche zu machen.
Obwohl sie unter freiem Himmel auf dem Boden lag, fühlte sie sich wohl. Sie sah sich um und entdeckte, dass sie auf einem Haufen weicher Tannennadeln ruhte. Dicht neben ihr schlief Caleb auf dem Waldboden. Ihr Herz schlug höher, weil es sich verdammt gut anfühlte, so dicht neben ihm zu liegen. Hoffentlich würde er nicht so bald aufwachen – sie könnte noch eine Ewigkeit neben ihm liegen. Die Welt fühlte sich einfach richtig an.
Während sie in den Himmel hinaufsah, versuchte sie sich zu erinnern, wie sie eigentlich hierhergekommen waren und was am Vorabend geschehen war.
Sie erinnerte sich daran, wie sie das Blut getrunken hatte. Eine kleine Gruppe Rehe war aufgetaucht, und Caleb hatte ihr beigebracht, die Ruhe zu bewahren und auf den richtigen Moment zu warten. Er hatte ihr gezeigt, wie sie ihren Hunger zügeln konnte.
Als sie den Rehen schließlich nachjagte, hatte ihr Körper sie überrascht, denn er hatte ihr gesagt, was sie zu tun hatte. Sie hatte über ihre eigene Geschwindigkeit gestaunt, mit der sie sich durch den Wald bewegte.
Schließlich hatte sie die Arme um den Hals eines Rehs geschlungen und war mitgezogen worden. Das Tier war schneller gelaufen, als sie es sich hätte vorstellen können. Dann hatte sie die Vene gefunden und ihre Zähne hineingebohrt. Sie war wie elektrisiert gewesen.
Nie zuvor hatte sie sich so lebendig gefühlt wie in dem Augenblick, als das Blut des Rehs durch ihren Körper floss. Wie neugeboren.
Noch während sie ihren Durst gestillt hatte, waren die Schmerzen langsam abgeebbt, bis sie sich stärker fühlte als je zuvor. Sie hatte das Gefühl, die ganze Welt würde ihr gehören.
Caleb war letzte Nacht ebenfalls auf der Jagd gewesen. Als sie sich danach wiedergetroffen hatten, waren sie beide absolut beschwingt gewesen, aber gleichzeitig auch sehr müde. Schließlich hatten sie sich auf den Waldboden gelegt, in die schwankenden Bäume aufgesehen und dem Rauschen des Windes gelauscht.
Innerhalb kürzester Zeit waren sie beide fest eingeschlafen.
Jetzt schob sie sich zentimeterweise näher an ihn heran, um auszuprobieren, wie sich das anfühlte. Sie trug immer noch seinen Ledermantel, dessen Ärmel bis zu ihren Fingerspitzen reichten. Vorsichtig streckte sie die Hand aus und streichelte mit dem Handrücken seine Wange; sie war ganz glatt und weich. Caitlin stellte sich vor, sie wären ein Paar.
Plötzlich hörte sie in der Nähe ein Rascheln und setzte sich abrupt auf.
Direkt vor ihnen war ein Rudel Wölfe aufgetaucht und pirschte sich langsam näher heran. Da sie noch nie einem Wolf begegnet war, hatte sie keine Ahnung, wie sie reagieren sollte. Seltsamerweise fürchtete sie sich nicht. Stattdessen war sie völlig fasziniert und wie hypnotisiert. In gewisser Weise fühlte sie sich den Wölfen sogar merkwürdig verwandt.
Langsam streckte sie die Hand nach Caleb aus und schüttelte ihn leicht.
Alarmiert schreckte er aus dem Schlaf auf. Das Wolfsrudel kam immer näher und war jetzt nur noch wenige Schritte entfernt. Schnüffelnd umkreisten die Tiere Caitlin und Caleb.
»Hab keine Angst«, sagte Caleb leise. »Ich kann ihre Gedanken spüren. Sie sind bloß neugierig. Verhalte dich einfach ganz ruhig.«
Caitlin blieb still sitzen und beobachtete, wie der Anführer auf sie zukam, die Nase hob und beinahe ihre Wange berührte.
Angespannt fragte sie sich, was sie jetzt tun sollte. Ihr Herz pochte heftig, und am liebsten hätte sie den Wolf weggestoßen. Stattdessen befolgte sie Calebs Anweisung und rührte sich nicht.
Plötzlich drehte der Wolf sich um und spazierte davon.
Sofort folgten die übrigen Wölfe seinem Beispiel.
Alle außer einem. Ein kleiner Wolf – noch ein Welpe, der kaum größer war als ein kleiner Hund – zögerte und blieb zurück. Er hinkte ein wenig und sah dem Rudel nach. Dann drehte er sich um, blickte Caitlin an und kam direkt auf sie zu.
Unvermittelt sprang er auf ihren Schoß und senkte den Kopf. Offensichtlich wollte er nicht mit den anderen gehen.
»Es ist ein Weibchen, das von seinem Rudel verstoßen wurde«, erklärte Caleb. »Sie wollen sie nicht mehr bei sich haben, weil sie verletzt ist. Sie stellt eine Belastung dar, und die anderen sind zu hungrig, um Geduld zu haben. Deshalb haben sie sich von ihr abgewendet.«
Angestrengt versuchte Caitlin, sich zu konzentrieren und die Gedanken des Tieres zu lesen, wie Caleb es tat. Es gelang ihr nicht ganz, aber sie spürte die Energie und die Gefühle des kleinen Wolfes. Er war sehr einsam und hatte Angst.
Caitlin hob ihn hoch und nahm ihn in die Arme. Als sie seinen Kopf streichelte, leckte das Tier ihr das Gesicht ab.
Sie lächelte.
»Du hast eine neue Freundin«, meinte Caleb.
»Können wir sie mitnehmen?«, fragte sie.
Nachdenklich runzelte Caleb die Stirn.
»Das wäre keine gute Idee«, erwiderte er schließlich. »Der Geruch … könnte andere Dinge anziehen.«
»Aber wir können sie doch nicht einfach sich selbst überlassen«, sagte Caitlin bittend. Ihr Beschützerinstinkt war auf einmal erwacht.
»Dort, wo wir hingehen, wird es sehr gefährlich werden. Sie könnte zwischen die Fronten geraten.«
»Wäre sie hier denn nicht in Gefahr?«, fragte sie. »Sie würde sterben, wenn wir sie allein lassen.«
Erneut dachte Caleb nach.
»Das stimmt. Gut, ich denke, wir können sie mitnehmen …«
Als hätte das Tier ihn genau verstanden, rannte es zu Caleb, sprang auf seinen Schoß und leckte ihm das Gesicht.
Caleb grinste breit und streichelte das weiche Fell des Wolfes. »Okay, okay, es reicht, du kleiner Kerl«, wehrte er ihn lachend ab.
»Wie sollen wir sie nennen?«, fragte Caitlin.
»Ich habe keine Ahnung.«
Plötzlich hatte sie eine Idee. Die Rose und der Dorn.
»Rose, wir können sie Rose nennen.«
Zustimmend nickte Caleb. »Rose«, wiederholte er. »Ja, das klingt perfekt.«
Als würde sie bereits auf ihren neuen Namen hören, kehrte Rose zu Caitlin zurück und machte es sich wieder auf ihrem Schoß bequem.
»Ein Wolfsrudel ist ein sehr machtvolles Zeichen«, erläuterte Caleb. »Es bedeutet, dass die Energie der Natur uns unterstützt. Das heißt, dass wir bei unserer Suche nicht allein sind.«
»Jetzt fällt es mir wieder ein: Letzte Nacht hatte ich einen Traum«, erzählte Caitlin. »Er war so anders, so klar. Es war, als hätte ich … Besuch gehabt. Von meinem Vater.«
Caleb drehte sich um und starrte sie an.
»In dem Traum habe ich mich plötzlich an Dinge erinnert, die ich vergessen hatte. In einem Sommer hat mein Vater mich auf eine Insel mitgenommen. Riesige Felsen stiegen aus dem Meer auf, und da waren diese steilen Klippen, rote Klippen, die in der Sonne leuchteten …«
Calebs Miene erhellte sich auf einmal. »Du hast von den Aquinnah-Klippen geträumt«, sagte er langsam. »Ja, das macht absolut Sinn.«
»In meinem Traum hat er mir gesagt, ich soll dorthin zurückkehren. Er hat gesagt, dass ich ihn dort … treffen soll.«
»Das war kein Traum«, rief Caleb und richtete sich aufgeregt auf. »Vampire statten manchmal in Morgenträumen Besuche ab. Dein Vater will, dass wir zu diesen Klippen gehen.«
»Aber was ist mit dem Schlüssel, den wir gerade gefunden haben?«, wollte Caitlin wissen.
»Bislang haben wir doch überhaupt keine Ahnung, wofür der bestimmt ist«, erwiderte Caleb. »Dieses Vincent House könnte überall sein. Das ist quasi eine Sackgasse. Wir wissen also ohnehin nicht, wohin wir als Nächstes gehen sollen.«
Er stand auf. »Lass uns sofort zu den Klippen aufbrechen.«