23.
Kapitel
Sam wurde das Herz schwer, als er endlich seinem Vater gegenüberstand. Er traute seinen Augen nicht. Er war schon enttäuscht gewesen, als er die Wohnwagensiedlung mit dem verwahrlosten Trailer und die heruntergekommene Umgebung gesehen hatte, doch das war gar nichts gegen die Enttäuschung, als er jetzt vor seinem Vater stand. All seine Träume lösten sich auf einen Schlag in Luft auf.
Sein Dad war ein kleiner, dünner, schwächlicher Mann, fünfzig bis sechzig Jahre alt, und er wurde bereits kahl. Seine langen, strähnigen Haare hatte er seitlich über die kahle Stelle gekämmt. Seit Tagen schon hatte er sich nicht mehr rasiert, und seine Kleidung sah aus, als hätte er darin geschlafen. Seine Haut war mit Warzen übersät und wies böse Aknenarben auf. Seine kleinen, schwarzen Knopfaugen huschten ständig hin und her – als er Sam anstarrte, drängte sich ihm der Vergleich mit einer Ratte auf. Ja, dieser Mann wirkte durch und durch schmierig und fies.
Zudem sah er Sam nicht im Geringsten ähnlich. Und er glich in keiner Weise dem Dad, den Sam sich in seiner Fantasie vorgestellt hatte.
Sam konnte nicht begreifen, dass er von so einem Menschen abstammen sollte. Dadurch fühlte er sich noch minderwertiger, als es ohnehin schon immer der Fall gewesen war.
Vielleicht war es doch die falsche Adresse. Er betete, dass es so wäre.
Bitte, lieber Gott, lass ihn nicht mein Vater sein.
»Sam?«, fragte der Mann plötzlich.
Dieses eine Wort lieferte die Bestätigung, dass die Adresse tatsächlich stimmte. Sam fühlte sich absolut elend. Er war es also tatsächlich.
Sam suchte verzweifelt nach Worten. »Ähm, sind Sie …«
»Ob ich dein Dad bin?«, unterbrach ihn der Mann und versuchte sich an einem Lächeln. Dabei enthüllte er zwei Reihen kleiner, orangegelber Zähne. »Ja, der bin ich.«
Dann ließ der Mann den Blick von Sam zu Samantha wandern und musterte sie abschätzend von Kopf bis Fuß. Dabei leckte er sich die Lippen.
»Ich dachte, du würdest allein kommen?«, fragte er Sam, ohne die Augen von Samantha zu lassen.
»Ich …«, begann Sam, »na ja, ich, äh …«
»Wer ist das?«, fiel er ihm ungeduldig ins Wort.
»Das ist Samantha«, sagte Sam schließlich. »Sie ist meine …« Sam verstummte, weil er nicht wusste, wie er sie nennen sollte.
»Freundin«, ergänzte Samantha liebenswürdig.
Dankbar warf Sam ihr einen Blick zu. Er liebte den Klang dieses Wortes, vor allem aus ihrem Mund.
»Na gut, dann …« Der seltsame Mann drehte sich um und ging hinein.
Sam und Samantha sahen sich an. Die seltsame Begrüßung hatte sie beide überrascht, sie wussten nicht so richtig, was sie davon halten sollten.
War das eine Einladung gewesen, ihm in den Trailer zu folgen?
Zögernd trat Sam ein, Samantha folgte ihm und machte die Tür hinter sich zu.
***
Prüfend sah Samantha sich in dem kleinen, düsteren Wohnwagen um. Der Tag war schön und sonnig, aber da alle Fensterrollos heruntergezogen waren, merkte man hier drin nichts davon – der Raum wurde nur durch eine kleine Lampe in einer Ecke erhellt. Es war düster, und überall stand Gerümpel herum.
Samantha hatte beim Anblick dieses Mannes gleich gespürt, dass er keiner von ihnen war, kein Vampir. Das hätte sie sofort gewusst. Daraus schloss sie, dass Sams Mutter der Vampir sein musste. Also hatten sie auf der falschen Seite seiner Abstammungslinie gesucht. Mit diesem Mann verschwendeten sie nur ihre Zeit – es sei denn, er könnte sie zu Sams richtiger Mutter führen.
Die Enttäuschung in Sams Gesicht war ziemlich offensichtlich, und sie hatte tatsächlich Mitleid mit ihm. Wie lange war es her, seit sie zuletzt Mitleid für einen Menschen empfunden hatte? Sie ärgerte sich über sich selbst. Dieser Junge brachte sie aus dem Gleichgewicht.
»Nun, na ja …«, murmelte der Mann. Offensichtlich war er nicht an soziale Kontakte gewöhnt. Er ging auf und ab und gönnte ihnen kaum einen Blick. »Was wollt ihr trinken?«, fragte er schließlich. »Wie wär’s mit einem Bier?«
Sam zögerte. »Äh, ja … ein Bier wäre okay«, antwortete er dann.
Der Mann verschwand in der winzigen Küche und kehrte kurz darauf mit zwei großen Dosen mit warmem Bier wieder, die er auf dem Tisch abstellte. Weder Sam noch Samantha griffen danach.
Sam trat nervös von einem Fuß auf den anderen und wusste nicht, was er sagen sollte. Seinem Dad schien es genauso zu gehen.
Unbehagliches Schweigen senkte sich über den Raum. Irgendetwas war seltsam. Sein Dad schien sich gar nicht richtig zu freuen, ihn zu sehen. Oder aber er konnte es einfach nur nicht richtig zeigen.
Aufmerksam sah Samantha sich um. Überall herrschte Unordnung, der Raum sah völlig verwahrlost aus. Leere Wasserflaschen lagen auf dem Boden herum, daneben stapelten sich alte Zeitungen und Zeitschriften. In einer Ecke stand ein kleiner Schreibtisch, auf dem ein offener Laptop stand.
Samantha spürte irgendetwas, und mithilfe ihrer scharfen Vampiraugen zoomte sie die Einzelheiten auf dem Computerbildschirm heran. Dabei erkannte sie, dass er bei Facebook eingeloggt war – allerdings unter einem anderen Namen.
»Äh, habt ihr irgendjemandem davon erzählt, dass ihr mich besucht?«, wollte sein Dad schließlich wissen.
Verwirrt erwiderte Sam seinen forschenden Blick. »Äh, was …«
»Hast du zum Beispiel deiner Mutter davon erzählt?«
»Nein«, entgegnete Sam. »Ich habe schon eine ganze Weile nicht mehr mit ihr gesprochen. Das hier war ein spontaner Entschluss. Irgendwie habe ich einfach gedacht, es wäre cool, wenn wir uns treffen könnten.«
Daraufhin nickte der Mann zustimmend und entspannte sich augenscheinlich ein wenig.
»Gut«, sagte er. Dann zog er eine zerknitterte Zigarettenpackung aus der Tasche, zündete sich eine Zigarette an und inhalierte tief. Der kleine Raum füllte sich mit Qualm. »Also, worauf steht ihr denn so?«
Sam und Samantha wechselten einen fragenden Blick – sie wussten beide nicht, worauf er hinauswollte.
»Äh, was meinst du denn?«, fragte Sam.
Samantha blickte erneut zu dem Laptop und betrachtete wieder die Facebook-Seite. Irgendetwas daran störte sie. Diesmal entdeckte sie, dass mehrere Tabs geöffnet waren. Alle auf Facebook. Und jeder Tab unter einem anderen Benutzernamen.
Sein Dad musste ihren Blick bemerkt haben, denn er ging plötzlich zu dem Laptop und klappte ihn zu. Dann kehrte er zu ihnen zurück.
»Ich meine«, fuhr er fort, »habt ihr Sex miteinander?«
Plötzlich nahm er mit einer schnellen Bewegung etwas vom Tisch.
Samantha sah die Verwirrung in Sams Gesicht, die gerade in Verärgerung umschlug.
In dem Moment begriff sie, was los war. Dieser Mann war überhaupt nicht sein Dad. Er war ein Schwindler. Ein Pädophiler, der sich seine Opfer über das Internet suchte. Über Facebook köderte er Kinder und wartete darauf, dass ihm jemand wie Sam über den Weg lief – jemand, der verzweifelt genug war, um zu glauben, dass er sein Dad sein könnte.
Der Mann war blitzschnell. Bevor Samantha auch nur reagieren konnte, hatte er sich ein großes Küchenmesser geschnappt, war quer durch den Raum geschossen und hatte Sam von hinten in einen Würgegriff genommen. Das riesige Messer presste er so fest gegen Sams Kehle, dass er um ein Haar die Haut angeritzt hätte.
Vor Schock schossen Sam die Tränen in die Augen.
»Wenn du auch nur eine Bewegung machst, ist er tot«, knurrte der Mann Samantha böse an.
Die Situation war interessant für Samantha. Angesichts der Tatsache, dass dieser Typ nicht Sams Vater war, hatte sie hier nichts mehr verloren und verschwendete nur noch ihre Zeit. Eigentlich könnte sie einfach hinausspazieren und Sam sterben lassen. Das würde keinen Unterschied machen. Sam war ihre einzige Spur gewesen, aber jetzt war er nutzlos für sie.
Doch irgendetwas ließ sie zögern. Dieser Junge hatte einen Funken in ihr entfacht. Sie konnte es kaum fassen, aber sie empfand tatsächlich etwas für ihn. Und wenn es etwas gab, das sie mehr hasste als Menschen, dann waren das Widerlinge wie dieser Typ hier. Nein, sie konnte nicht einfach hinausspazieren.
»Knie dich hin und zieh dein Shirt aus«, befahl der Mann Samantha mit dunkler, eiskalter Stimme, während er Sam immer noch das Messer gegen die Kehle presste.
Als Sam sich wand, ritzte das Messer die Haut, und ein wenig Blut trat hervor.
Samantha hätte den Mann jederzeit umbringen können. Doch das Problem war das Messer – sie wollte nicht riskieren, dass er Sam tötete. Daher konnte sie keine hastigen, überstürzten Bewegungen machen.
Langsam ließ sie sich auf die Knie sinken, hob die Hände und zog ihr Shirt aus. Darunter trug sie einen BH.
Als sie aufblickte, sah sie die Augen des widerlichen Kerls aufleuchten. Lüstern grinste er über das ganze Gesicht. Dann deutete er mit dem Messer auf sie.
»Zieh deinen BH aus«, befahl er als Nächstes.
Sam schien Morgenluft zu wittern, denn in diesem Moment bewegte er sich mit einer für einen Menschen bewundernswerten Geschwindigkeit. Mit raschem Griff packte er das Handgelenk des perversen Kerls und hielt ihn mit aller Kraft fest.
Doch der Typ war stark. Wahrscheinlich war er durch jahrelange Rangeleien mit Kids durchtrainiert und gestählt, außerdem war er auf eine solche Situation vermutlich durchaus vorbereitet. Jedenfalls gelang es ihm, sich loszureißen und Sams Wange mit dem Messer zu ritzen.
Sam schrie vor Schmerz auf und drückte die Hände auf die Wunde. Überall war Blut.
Dann sah Samantha, wie der Mann ausholte und Sam das Messer in die Brust rammen wollte.
Jetzt wurde sie aktiv. Blitzschnell sprang sie durch den Raum, ergriff das Handgelenk des Widerlings und riss ihm den Arm mit so viel Kraft zurück, dass sie ihm die Schulter auskugelte.
Der Mann schrie auf und ließ das Messer fallen.
Aber sie war noch nicht fertig mit ihm. Mit ihrer übermenschlichen Kraft packte sie ihn und brach ihm mit einer einzigen geschmeidigen Bewegung das Genick.
Leblos sank der Mann zu Boden.
Samanthas Wut war noch nicht wieder abgeebbt, als sie sich umdrehte und Sam vor sich stehen sah. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er sie an. Offensichtlich stand er unter Schock, er schien seine Schmerzen gar nicht mehr zu spüren. Sie war sicher, dass er so etwas noch nie zuvor erlebt hatte – und wahrscheinlich auch nie wieder erleben würde.
Er hatte doch tatsächlich versucht, sie zu retten. Obwohl man ihm ein Messer an die Kehle gehalten hatte. In all den Jahrhunderten hatte noch niemand so etwas für sie tun wollen.
Vielleicht würde sie ihn trotz allem doch leben lassen.