10.
Kapitel
Die Sonne ging gerade unter, als Caitlin und Caleb sich Hawthornes Haus näherten. Das einfache rote Haus lag etwa fünfzehn Meter vom Bürgersteig zurückgesetzt und sah mit seinem Vorgarten und den Büschen aus wie jedes andere bescheidene Kleinstadthaus. Der dunkelrote Anstrich und die Fensterläden verliehen ihm einen Hauch altertümlicher Schlichtheit.
Trotzdem konnte man erkennen, dass es anders war – es strahlte Geschichte aus.
Schweigend betrachteten Caitlin und Caleb das einfache Häuschen.
»Ich habe es mir größer vorgestellt«, meinte Caitlin.
Caleb stand mit gerunzelter Stirn da.
»Was ist los?«
»Dieses Haus kommt mir bekannt vor«, antwortete Caleb. »Ich bin nicht sicher, woher, aber es scheint mir woanders gestanden zu haben.«
Caitlin betrachtete seine perfekten Gesichtszüge und staunte darüber, an wie viele Dinge er sich noch erinnern konnte. Nachdenklich fragte sie sich, wie es wohl war, so viele Erinnerungen zu haben. Hunderte von Jahren – sogar Tausende. Er trug Erfahrungen mit sich herum, von denen sie nur träumen konnte. War das ein Segen oder ein Fluch? Würde sie sich das für sich selbst wünschen?
Sie ging auf den Eisenzaun zu, der das Grundstück umgab, und wollte das Tor öffnen. Überrascht stellte sie fest, dass es verschlossen war. Jetzt sah sie auch das Schild: Geöffnet an Werktagen von 9 bis 17 Uhr.
Prüfend warf sie einen Blick auf ihre Uhr. Achtzehn Uhr dreißig. Das Haus war bereits geschlossen.
»Was jetzt?«, fragte sie.
Caleb sah sich verstohlen um. Weit und breit war keine Menschenseele zu entdecken. Auf einmal begriff Caitlin, was er dachte. Als er sie ansah, nickte sie zustimmend.
Schnell streckte er die Hand nach dem Metallriegel aus und riss ihn mit einer einzigen geschmeidigen Bewegung ab. Erneut schaute er sich um. Als er niemanden sah, öffnete er das kleine Tor und gab ihr ein Zeichen, sich zu beeilen. So gut es ging, schloss er das Gartentürchen wieder und legte den Riegel behutsam ins Gras. Dann eilte er ihr hinterher.
Als Caitlin die Haustür erreichte, drehte sie am Türknauf, doch die Tür war abgeschlossen.
Also streckte Caleb die Hand aus und wollte die Tür mit Gewalt öffnen.
»Warte«, sagte Caitlin schnell.
Caleb hielt inne.
»Darf ich es versuchen?«, fragte sie verschmitzt lächelnd.
Sie wollte einfach wissen, ob sie das konnte. Zwar fühlte sie die Kraft durch ihre Adern strömen, aber sie kannte ihre Grenzen nicht. Auch wusste sie nicht, ob sie die Kraft einfach so abrufen konnte.
Lächelnd machte er ihr Platz. »Bitte, nur zu!«
Vorsichtig drehte sie an dem Knauf, doch er gab nicht nach. Sie nahm ihre ganze Kraft zusammen, aber es tat sich immer noch nichts. Entmutigt und beschämt ließ sie die Hand sinken und wollte schon aufgeben.
Doch da sagte Caleb: »Konzentrier dich! Du gehst vor wie ein Mensch. Hab Vertrauen in deine Kraft. Dreh den Knauf aus deinem Inneren heraus. Vertrau auf deinen Körper.«
Sie schloss die Augen und atmete tief durch. Dann legte sie die Hand erneut auf den Knauf, versuchte, seine Anweisungen zu befolgen, und richtete ihre Konzentration nach innen.
Diesmal war ein lautes Knacken zu hören. Als sie überrascht die Augen öffnete, stellte sie fest, dass sie den Türknauf aufgebrochen hatte. Die Tür war offen.
Stolz lächelte sie Caleb an.
»Sehr gut«, lobte er sie und forderte sie mit einer Handbewegung auf, einzutreten. »Ladys first.«
Das Haus war gemütlich, mit seinen niedrigen Decken, Sprossenfenstern und knarrenden Holzdielenböden. Draußen wurde es schnell dämmrig, daher hatten sie nicht viel Zeit für ihre Suche – sofern sie kein Licht einschalten wollten. Also drehten sie zügig eine Runde durch das Haus und versuchten, sich so schnell wie möglich einen Überblick zu verschaffen.
»Was suchen wir eigentlich?«, wollte Caitlin wissen.
»Das weiß ich genauso wenig wie du«, erwiderte er. »Trotzdem denke ich, dass wir am richtigen Ort sind.«
Am Ende des Flurs stand eine große Infotafel mit Einzelheiten über Hawthornes Leben. Sie blieb stehen und las vor: »Nathaniel Hawthorne war nicht einfach nur ein Autor, der über Salem schrieb, wie viele andere, sondern er lebte auch in Salem. Viele seiner Erzählungen spielen in Salem. Die meisten in seinen Romanen beschriebenen Gebäude existierten tatsächlich, viele stehen sogar heute noch.
Zudem hatte Hawthorne eine persönliche Beziehung zu einigen Ereignissen und Personen seiner Werke. Sein berühmtestes Werk beispielsweise, Der Scharlachrote Buchstabe, erzählt die Geschichte einer Frau namens Hester Prynne, die wegen ihres ehebrecherischen Verhaltens ins Gefängnis gesteckt wurde. Hawthorne hatte eine direktere Verbindung zu jenen Ereignissen, als man meinen sollte, denn sein Großvater, John Hawthorne, war einer der Richter bei den Hexenprozessen von Salem gewesen. Er war mitverantwortlich für die Anklage, die Verurteilung und die Hinrichtung der Hexen. Seine Abstammung stellte eine schwere Bürde für Hawthorne dar.«
Fasziniert sahen Caitlin und Caleb sich an. Hier gab es eindeutig eine enge Verbindung – sie hatten das Gefühl, dass sie auf etwas Wichtiges gestoßen waren. Trotzdem wussten sie immer noch nicht genau, was das war. Offenbar fehlte ihnen noch ein Bindeglied.
Zügig setzten sie ihren Weg durch das Haus fort, musterten aufmerksam die Einrichtung und hielten die Augen offen. Doch als sie das Erdgeschoss komplett durchkämmt hatten, standen sie immer noch mit leeren Händen da.
Zögernd blieben sie vor einer schmalen Holztreppe stehen, die mit einer Samtkordel abgesperrt war. Daran hing ein Schild mit der Aufschrift: Privat, Zutritt nur für Angestellte.
Caleb warf Caitlin einen Blick zu.
»Jetzt sind wir schon so weit gekommen«, meinte er und löste die Kordel.
Aufgeregt stiegen sie die Treppe hinauf. Ihre Schritte hallten auf den harten Holzstufen wider. Das ganze Haus ächzte und stöhnte, als wolle es sich über die ungebetenen Besucher beschweren.
Die Decken im Obergeschoss waren sogar noch niedriger, sodass Caleb kaum aufrecht stehen konnte. Zwar war es inzwischen deutlich dunkler geworden, doch sie konnten noch genug erkennen. Das Zimmer, in dem sie standen, war wunderschön und sehr gemütlich – es war mit breiten Holzdielen, Sprossenfenstern und geschmackvollen Stilmöbeln ausgestattet. In der Mitte befand sich eine gemauerte Feuerstelle, die offensichtlich häufig benutzt worden war. Die Rußspuren hatten bis heute überdauert.
Caitlins Blick fiel auf eine weitere Infotafel, die sich mit der Geschichte von Elizabeth Paine beschäftigte.
Wieder las Caitlin laut vor: »Hester Prynne, die Figur, die im Mittelpunkt des Romans Der scharlachrote Buchstabe steht, wurde verfolgt, weil sie den Namen des Vaters ihres illegitimen Kindes nicht preisgeben wollte. Viele Gelehrte sind heute der Meinung, dass der Roman in Wahrheit auf dem Leben einer Frau basierte, die in Salem gelebt hatte: Elizabeth Paine. Keinem der Wissenschaftler ist es jedoch bislang gelungen, etwas über die Abstammung von Elizabeths Kind herauszufinden, weil sie es ablehnte, den Namen des Vaters zu verraten. Einer Legende zufolge soll er ein geheimnisvoller Fremder gewesen sein, der mit einem Schiff aus Europa gekommen war. Angeblich war Elizabeth eine verbotene Romanze mit ihm eingegangen.
Elizabeth wurde wegen ihres Ehebruchs aus Salem verbannt und lebte allein mit ihrem Kind in einem kleinen Cottage im Wald außerhalb der Stadt. Die genaue Lage ihres Cottages ist bis dato unbekannt.«
Sprachlos sah Caitlin Caleb an.
Schließlich flüsterte sie: »Eine verbotene Romanze? Zwischen …?«
Caleb nickte. »Ja. Eine Romanze zwischen einem Vampir und einem Menschen. In der Geschichte geht es in Wahrheit nicht um Ehebruch, sondern um Vampire – und um das Kind, das aus dieser Beziehung hervorging. Das Kind von Elizabeth und einem Vampir. Das Kind war ein Halbblut.«
Caitlin fühlte sich, als würde ihr der Boden unter den Füßen weggezogen. Die Entdeckung überwältigte sie förmlich.
Außerdem hatte sie das Gefühl, dass die Geschichte sich wiederholte, viele Generationen später. Alles lief nach dem gleichen Muster ab: eine verbotene Romanze, zwei Rassen, sie und Caleb. Sie traten in die Fußstapfen ihrer Vorfahren. War das Leben an sich einfach eine endlose Wiederholung von Ereignissen?
Prüfend sah sie sich im Raum um. Das schwindende Licht erschwerte die Suche, obendrein wusste sie immer noch nicht, wonach sie überhaupt suchten. Aber es bestand zumindest kein Zweifel mehr daran, dass sie den richtigen Ort gefunden hatten.
Caleb spazierte neugierig durch das Zimmer und betrachtete alles ganz genau. Beide waren sich ganz sicher, dass das, was sie suchten, hier zu finden war. Vielleicht war es ja sogar das Schwert?
Doch es gab nur wenige Möbelstücke, in denen offensichtlich nichts versteckt war.
»Hier, ich hab etwas!«, rief Caleb schließlich aus.
Caitlin eilte zu ihm hinüber. Er stand neben einer kleinen antiken Truhe.
Mit der Hand tastete er die Seite des Möbelstücks ab. »Sieh dir das mal an.«
Sanft nahm er ihre Hand und führte sie an die Stelle, die er gefunden hatte. Plötzlich spürte sie es – eine kleine Einkerbung in der Form eines Kreuzes.
»Was ist das?«, wollte sie wissen.
»Ich weiß es nicht«, antwortete er. »Ich weiß nur eins: Diese Einkerbung gehört eigentlich nicht in dieses Möbelstück. Und ich habe eine Vermutung – ich wette, diese ungewöhnliche Form entspricht ganz genau der Form deines Kreuzes.«
Verständnislos erwiderte sie seinen Blick. Wovon redete er überhaupt? Doch auf einmal begriff sie und fasste nach ihrer Halskette.
»Ich glaube, dass dein Kreuz in Wahrheit ein Schlüssel ist«, erklärte er.
Schnell nahm sie die Kette ab, und dann schoben sie das Kreuz gemeinsam in die Einkerbung. Begeistert stellten sie fest, dass es ganz genau hineinpasste. Ein leises Klicken war zu hören, als sie das Kreuz vorsichtig nach rechts drehten. Plötzlich öffnete sich ein hohes, schmales Fach.
Mit klopfendem Herzen griff Caitlin hinein und zog vorsichtig eine kleine Schriftrolle heraus. Das Papier war vergilbt und brüchig. Die alte Schnur, mit der die Rolle zusammengebunden war, zerbröselte unter ihren Fingern.
Behutsam reichte sie Caleb das Dokument, dann rollten sie es gemeinsam auseinander.
Es war eine handgezeichnete Karte – offensichtlich Hunderte von Jahren alt.
Am oberen Rand war eine handschriftliche Notiz zu erkennen: Elizabeths Cottage.
»Ihr Cottage«, flüsterte Caleb atemlos. »Das hier ist eine Landkarte, die zeigt, wo Elizabeth gelebt hat.«
Ehrfürchtig starrte Caitlin den Plan an.
»Wer auch immer diese Karte hier versteckt hat, wollte, dass du sie findest. Deine Halskette war der Schlüssel. Und das Geheimfach wurde bis jetzt noch nie geöffnet. Ganz offensichtlich solltest nur du diesen Plan finden und Elizabeths Cottage suchen. Dort wirst du ganz bestimmt auf etwas stoßen, das für dich bestimmt ist.«
Die Nachricht war für sie bestimmt. Für Caitlin, ganz allein für Caitlin. Der Gedanke überwältigte sie. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie das Gefühl, dass sie erwünscht war. Sie fühlte sich geliebt und wichtig. Es gab eine Verbindung zwischen ihr und etwas Großem, das Hunderte von Jahren alt war. Denn sie war der Mittelpunkt dieses ganzen Puzzles. Es fiel ihr schwer, ihre Emotionen zu zügeln.
Doch dann passierte es. Ganz plötzlich krampfte sich ihr Magen zusammen – die Schmerzen waren unerträglich. Verstört krümmte sie sich zusammen und schnappte nach Luft.
»Bist du in Ordnung?«, fragte Caleb besorgt und legte ihr die Hand auf die Schulter.
Die Hungerattacke war zurückgekehrt. Diesmal waren die Schmerzen so intensiv, dass sie kaum atmen konnte.
Der nächste Stich durchfuhr sie so heftig, dass sie zusammenzuckte. Dann stieß sie ein schauerliches Knurren aus und lief quer durch den Raum, als könnte sie den Schmerz dadurch abschütteln. Dabei stieß sie eine große Infotafel um, deren Glas klirrend zu Bruch ging.
Doch es gelang ihr nicht, sich wieder in den Griff zu bekommen. Völlig außer Kontrolle drehte sie sich im Kreis. Wenn das so weiterging, würde sie das komplette Inventar zerstören.
Auf einmal tauchte Caleb neben ihr auf und hielt sie fest.
»Caitlin«, sagte er eindringlich. »Caitlin, hör mir zu!«
Mit seiner ganzen Kraft packte er ihre Schultern, doch er war kaum in der Lage, sie zu bändigen.
»Alles wird gut. Du hast bloß Hunger. Hörst du mich? Alles wird gut. Du brauchst nur Nahrung. Wir müssen sofort hier raus«, sagte er laut und deutlich. »Sofort!«
Gepeinigt sah sie zu ihm auf. Sie konnte ihn zwar hören, wenn auch undeutlich, doch die Schmerzen waren so stark, dass sie sie überwältigten. Das Verlangen nach Nahrung und die blinde Zerstörungswut wurden übermächtig.
Offensichtlich ahnte Caleb, was gleich geschehen würde, denn er packte ihren Arm mit festem Griff. Noch bevor sie reagieren konnte, hatte er sie die Treppe hinuntergezerrt und zur Tür hinausgeschoben.
Es war schon fast dunkel, als sie Hawthornes Haus verließen und durch den Garten zur Straße eilten. In ihrer Hast blickten sie nicht auf und bemerkten gar nicht, dass sie geradewegs in eine Falle liefen.
»Stehen bleiben!«, rief plötzlich jemand.
Vor ihnen standen mehrere Polizisten und richteten ihre Waffen auf sie.
»Hände hoch! Ganz langsam!«
Caitlin befand sich immer noch in einer Art Nebel. Die stechenden Schmerzen peinigten sie, außerdem wurde sie von Wellen der Wut überrollt. Daher hatte sie Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren und zu verstehen, was gesprochen wurde. Sie sah die Polizisten zwar, doch sie fürchtete sich nicht. Im Gegenteil, sie wollte sich auf sie stürzen.
Calebs fester Griff an ihrer Schulter war das Einzige, was sie noch zurückhielt.
»Hände hoch, habe ich gesagt!«, brüllte ein Polizist, während die anderen beiden langsam näher kamen.
»Ruhig, Caitlin, ganz ruhig!«, flüsterte Caleb und hob ganz langsam die Hände. Mit der Schriftrolle in der Hand stupste er Caitlin an, damit sie seinem Beispiel folgte. »Sie können uns nichts tun.«
Caitlin fühlte sich jedoch alles andere als ruhig. Plötzlich sah sie rot. Als der Schmerz erneut zuschlug, konnte sie sich nicht länger beherrschen und verlor endgültig die Kontrolle. Mit starrem Blick zoomte sie die Kehle eines Polizisten heran und sah das Blut pulsieren. Sie brauchte sein Blut. Sofort.
Sie setzte zum Sprung an. Der Polizist in der Mitte war ihr Opfer – bevor er überhaupt reagieren konnte, hatte sie ihn bereits erreicht und umklammerte ihn. Sie warf den Kopf zurück, bleckte die Zähne und näherte sich seinem Hals.
Doch dann fiel auf einmal ein Schuss.