12.
Kapitel
Während Caitlin sich an Caleb festklammerte und mit ihm durch die kalte Luft flog, ließ die schmerzhafte Hungerattacke allmählich nach, und sie konnte wieder klar denken. Als sie an sich hinuntersah und entdeckte, dass sie beide voller Blut waren, versuchte sie sich zu erinnern, was eigentlich passiert war.
Nach und nach kehrte die Erinnerung zurück: Sie hatten Hawthornes Haus verlassen. Die Polizei war aufgetaucht, dann hatte Caitlin die Kontrolle über sich verloren. Ein Schuss war gefallen. Genau, jetzt wusste sie es wieder: Als sie gerade ihre Zähne in den Hals des Polizisten hatte bohren wollen, hatte Caleb sie weggezogen. Mit Lichtgeschwindigkeit hatte er sie weggerissen und sie so davor bewahrt, einen weiteren Menschen anzugreifen.
Doch er hatte dafür bezahlt, denn der Polizist hatte geschossen und Caleb am Arm getroffen. Sein Blut war überall gewesen, aber offensichtlich hatte die Verletzung ihn nicht beeinträchtigt. Stattdessen war es ihm irgendwie gelungen, alle drei Polizisten auszuschalten, bevor sie überhaupt hatten reagieren können. Dann hatte er Caitlin mit einer einzigen geschmeidigen Bewegung hochgehoben und war mit ihr davongeflogen. Sie bewunderte seine Selbstbeherrschung und die Art und Weise, wie er jede schwierige Situation meisterte. Schließlich hatte er es geschafft, sie dort herauszuholen, ohne dass jemand ernsthaft verletzt worden war – mal abgesehen von seiner eigenen Verletzung. Es war ihr peinlich, dass sie derart unbeherrscht war und schwierige Situationen nicht im Griff hatte. Sie hatte ihn schon wieder in Gefahr gebracht.
Es war bereits dunkel, als Caitlin und Caleb über die Wälder am Rande von Salem flogen. Allmählich beruhigte sie sich wieder. Caleb hielt sie fest, und nach und nach löste sich ihre Anspannung. Auch ihr Hunger und ihre Wut ließen nach.
Als sie schließlich irgendwo mitten im Wald landeten, fühlte sie sich wieder ganz normal. Rückblickend kamen ihr die Ereignisse der vergangenen Stunde jetzt wild und verrückt vor – sie konnte einfach nicht nachvollziehen, warum sie sich derart aufgeführt hatte. Woher war diese plötzliche Wut gekommen? Warum hatte sie die Kontrolle verloren?
Natürlich wusste sie, dass diese Fragen nicht mit Logik zu beantworten waren: Wenn die furchtbaren Schmerzen sie überfielen, drehte sie einfach völlig durch. Dann war sie ihren animalischen Instinkten ausgeliefert – als wäre sie in dem Zustand ein anderer Mensch. Gott sei Dank hatte Caleb eingegriffen, denn sonst hätte sie jetzt diesen Polizisten auf dem Gewissen. Er hatte sie vor einer Riesendummheit bewahrt.
Als sie das Blut an seinem Arm sah, hatte sie wieder ein schlechtes Gewissen. Wegen ihr war er angeschossen worden.
Impulsiv streckte sie die Hand aus und legte sie auf seinen Arm.
»Es tut mir so leid«, entschuldigte sie sich. »Bist du okay?«
»Ja, absolut«, beruhigte er sie. »Vampire sind anders als Menschen: Unsere Haut verheilt sehr schnell. In ein paar Stunden wird nichts mehr davon zu sehen sein. Zum Glück war das nur eine ganz normale Kugel – bei einer Kugel aus Silber hätte die Sache ganz anders ausgesehen. Aber so musst du dir wirklich keine Gedanken machen«, fügte er beschwichtigend hinzu.
Prüfend musterte sie seinen Arm und stellte fest, dass die Wunde tatsächlich schon gut verheilt war. Zu ihrer Verblüffung sah sie nur noch wie ein großer blauer Fleck aus, der vor ihren Augen kleiner zu werden schien.
Ob sie wohl auch über diese Eigenschaft verfügte? Wahrscheinlich nicht, denn schließlich war sie ja nur ein Halbblut. Bestimmt hatten nur richtige Vampire diese erstaunliche Fähigkeit zur Schnellheilung. Ein Teil von ihr wünschte sich, sie wäre eine von ihnen. Unsterblichkeit. Übermenschliche Kräfte. Unverwundbarkeit gegenüber den meisten Waffen. Über einige dieser Eigenschaften verfügte sie, jedoch offensichtlich nicht über alle. Sie hing zwischen zwei Welten, und sie hatte keine Ahnung, für welche sie sich entscheiden sollte.
Nicht, dass sie es sich aussuchen könnte. Die einzige Möglichkeit, ein echter Vampir zu werden, bestand darin, von einem Vampir verwandelt zu werden. Aber Caleb war nicht dazu bereit, denn das war verboten. Außerdem hatte sie das Gefühl, dass er ihr die Verwandlung auch dann nicht nahelegen würde, wenn es erlaubt wäre. Seine Unsterblichkeit machte ihm offensichtlich zu schaffen – er schien Caitlin regelrecht um ihre Sterblichkeit zu beneiden. Sie hatte den Eindruck, dass er es ihr in ihrem eigenen Interesse nicht wünschte, unsterblich zu sein.
»Hast du sie noch?«, wollte er wissen.
Verständnislos sah sie ihn an.
»Die Karte, die ich dir vorhin gegeben habe.«
Natürlich, die war schließlich der Grund, warum sie genau hier gelandet waren.
Schnell steckte sie die Hand in die Tasche und stellte erleichtert fest, dass der Plan noch da war. Zum Glück gab es Reißverschlusstaschen.
Nachdem sie Caleb die Rolle gegeben hatte, rollte er sie auseinander und starrte darauf.
»Wir sind nicht weit weg«, bemerkte er, ließ das Papier sinken und schaute nachdenklich in den Wald. »Das Cottage müsste ganz in der Nähe sein.«
Caitlin sah sich um und kniff die Augen zusammen. Außer Bäumen konnte sie nichts erkennen.
»Ich sehe nichts«, erwiderte sie.
»Die Karte ist ziemlich alt«, erklärte er. »Sie wurde mit der Hand gezeichnet und ist sicherlich nicht besonders genau. Aber die Markierungen deuten auf diese Gegend hin.«
Erneut sahen sie sich um, jedoch ohne Erfolg.
Schließlich meinte Caitlin: »Dieses Cottage stand hier irgendwo vor Hunderten von Jahren. Könnte es nicht vielleicht sein, dass es gar nicht mehr existiert?«
Wieder ließ Caleb prüfend den Blick schweifen. Dann steuerte er durch das raschelnde Laub in eine bestimmte Richtung, und sie folgte ihm.
»Ja«, entgegnete er, »das könnte sein, vor allem, wenn es aus Holz erbaut wurde. Dann existiert es höchstwahrscheinlich nicht mehr. Aber ich hoffe einfach, dass es ein Steincottage ist. Die meisten Cottages, die von Vampiren erbaut wurden, waren aus Stein. Dann könnte es nämlich noch stehen, zumindest teilweise.«
»Selbst wenn es so wäre, glaubst du nicht, dass es inzwischen entdeckt oder auch mutwillig zerstört worden sein könnte?«, fragte sie.
»Das ist gut möglich. Es sei denn …«
Sie wartete. »Es sei denn?«
»Es sei denn, dass es von der Vegetation überwuchert wurde. Unter Vampiren gibt es eine Tradition, die eine Möglichkeit darstellt, bestimmte Hinweise über Generationen hinweg weiterzugeben. Wir erbauen ein Cottage aus Stein an einem abgelegenen Ort und bepflanzen es dann rundherum mit Glyzinien, Dornensträuchern und dichtem Gestrüpp. Wenn das Häuschen eine Weile sich selbst überlassen bleibt, wuchern die Pflanzen derart schnell und dicht, dass es für Menschen praktisch nicht mehr aufzuspüren ist. Auf diese Weise können eingeweihte Vampire es noch Jahrhunderte später wiederfinden.«
Erneut sah er sich um.
»Der Vorteil an diesem Wald hier besteht darin, dass er so abgeschieden ist. Das gibt mir Hoffnung.«
»Vorausgesetzt, diese Karte ist keine Fälschung«, überlegte Caitlin laut. »Möglicherweise handelt es sich ja um eine falsche Spur.«
Lächelnd sah Caleb sie an.
»Du hast einen wachen Verstand«, erwiderte er. »Aber vielleicht denkst du zu viel. Es wäre zwar möglich, aber ich glaube nicht daran. Diese Schriftrolle ist echt.«
Als sie weiter in den Wald vordrangen, nahm er sie an der Hand. Das einzige Geräusch, das zu hören war, war das Rascheln des trockenen Laubs. Die Kälte ging ihr durch Mark und Bein.
Auf einmal schlüpfte Caleb aus seinem Ledermantel und legte ihn ihr fürsorglich um die Schultern. Wieder einmal war sie verblüfft darüber, wie er ihre Gedanken lesen konnte. Seine Fürsorge rührte sie.
»Nein«, protestierte sie, »ich kann doch nicht deinen Mantel …«
»Nimm ihn ruhig, ich friere gar nicht.«
Der Mantel fühlte sich wundervoll an. Er war erstaunlich schwer, und Calebs Körperwärme hing noch darin. Caitlin liebte den Ledergeruch. Irgendwie hatte sie den Eindruck, als hätte er das Kleidungsstück schon seit Jahrhunderten getragen. Natürlich war ihr der Mantel viel zu groß, doch trotzdem schien er ihr perfekt zu passen. Außerdem hatte sie darin das Gefühl, zu Caleb zu gehören – so, als wäre sie seine Freundin. Sie liebte dieses Gefühl.
Prüfend schaute Caleb auf die Schriftrolle und wieder in den Wald. Immer noch nichts. Caitlin drehte sich langsam im Kreis und spähte mit zusammengekniffenen Augen in den dämmrigen Wald. Als ihre Augen sich angepasst hatten, glaubte sie auf einmal, etwas entdeckt zu haben.
»Caleb«, rief sie.
Als er sich zu ihr umdrehte, zeigte sie mit dem Finger in den Wald.
»Siehst du das? Ganz da hinten. Das sieht aus wie ein Dickicht, findest du nicht auch?«
Angestrengt blickte er in die angegebene Richtung, dann nahm er ihre Hand und ging mit ihr auf das Gestrüpp zu. »Schließlich haben wir nichts zu verlieren«, meinte er.
Je näher sie kamen, desto optimistischer wurde Caitlin. Das Dickicht war riesengroß und bestand aus einem Wust von undurchdringlichen Zweigen und Dornenranken. Der Gedanke an eine Mauer drängte sich auf. Als sie das Gestrüpp umrundeten, stellten sie fest, dass es um die dreißig Meter tief sein musste. Außerdem war es tatsächlich undurchdringlich. Wenn Calebs Beschreibung auf irgendetwas passte, dann war es das hier. Niemand konnte dieses Dickicht durchdringen – es sei denn, er hätte eine Machete dabei und wäre bereit, in tagelanger Arbeit einen Weg freizuschlagen. Was auch immer sich in der Mitte befinden mochte – falls dort überhaupt etwas war –, es wäre mit hoher Wahrscheinlichkeit unberührt.
Genauso gut konnte es sich natürlich auch einfach um ein ganz normales Dornengestrüpp handeln, in dem sie als Ergebnis ihrer Bemühungen nichts als weitere Dornen vorfinden würden.
Langsam nickte Caleb. »Tatsächlich«, murmelte er. »Das könnte es sein.«
Nachdem er die Stelle eine Weile nachdenklich gemustert hatte, forderte er sie schließlich auf: »Geh mal bitte ein Stück zurück.«
Caitlin fragte sich, was er wohl vorhatte, folgte aber gehorsam seiner Anweisung.
Sorgfältig zog er seine Ärmel bis über die Hände hinunter, um sie zu schützen, und riss dann mit seiner unglaublichen Kraft an dem Dornengestrüpp. Es war, als würde man einer Kettensäge bei der Arbeit zusehen.
Innerhalb weniger Sekunden hatte er bereits einen schmalen Durchgang gerodet, gerade eben breit genug für eine Person. Er steckte schon tief in der Dornenhecke, als sie ihn plötzlich rufen hörte: »Hier!«
Caitlin folgte ihm auf dem schmalen Weg durch das Astwerk und holte ihn schließlich nach gut zehn Metern ein.
Über seine Schulter hinweg erhaschte sie einen Blick auf eine niedrige Steinmauer.
»Du hast es tatsächlich gefunden«, jubelte er.
Nachdem Caleb weitere Äste beiseitegeräumt hatte, kam ein kleines gemauertes Häuschen zum Vorschein. Gemeinsam traten sie durch die niedrige Tür.
Drinnen war es dunkel, und es roch ziemlich muffig. Nach einigen zögernden Schritten blieb er plötzlich stehen. Vor ihren Füßen rollte etwas zur Seite. Vorsichtig bückte Caleb sich und hob es auf.
»Was ist das?«, wollte Caitlin wissen.
Er hielt den Gegenstand in die Höhe, aber sie konnte ihn in der Dunkelheit nicht erkennen. Schließlich klärte er sie auf: »Eine alte Kerze. Ich glaube, sie ist noch intakt. Nimm sie bitte mal.«
Caitlin hielt die Kerze, während er seine Hände mit Lichtgeschwindigkeit gegeneinanderrieb – die Bewegung war derart schnell, dass sie die Wärme spüren konnte, die von seinen Händen ausstrahlte. Dann legte er die Handflächen über den Kerzendocht und wartete einen Moment. Als er sie wegzog, stellte Caitlin verblüfft fest, dass die Kerze brannte. Ehrfürchtig sah sie zu ihm auf. Sie wünschte, sie könnte das auch.
»Das musst du mir unbedingt beibringen«, sagte sie lächelnd.
Im Kerzenschein konnte sie erkennen, wie er ihr Lächeln erwiderte. Vorsichtig beleuchtete sie den Boden vor ihren Füßen und entdeckte weitere Kerzen. Daher also stammte das rollende Geräusch, das sie zuvor gehört hatten. Caleb hob eine zweite Kerze auf und bog den Docht zurecht, damit Caitlin ihn mit ihrer Flamme anzünden konnte. Nun verfügten sie über ausreichend Licht, um das Cottage zu erkunden.
Es war winzig und so niedrig, dass Caitlin gerade noch aufrecht stehen konnte, wohingegen Caleb sich ducken musste. Der einzige Raum maß ungefähr drei mal drei Meter. Die Steinwände waren nicht perfekt gemauert, boten aber trotzdem auf den ersten Blick keine geeignete Stelle, an der man etwas verstecken könnte. An einer Wand befand sich eine kleine Feuerstelle, auf der Äste und Blätter lagen, die wohl im Laufe der Jahrhunderte durch den Schornstein gefallen waren.
Die Holzdielen waren bemerkenswert gut erhalten, was aber auch einleuchtend war. Das Cottage hatte keine Fenster, und da es abgesehen von dem Kamin und der Tür keine Öffnung gab, hatten die Witterungseinflüsse dem Inneren kaum etwas anhaben können. Außerdem war das kleine Haus derart überwuchert, dass die Elemente schon seit Jahrhunderten keine Chance mehr gehabt hatten.
Ansonsten war nicht viel zu sehen. Es schien keinerlei Versteckmöglichkeiten zu geben, die Hütte war komplett leer. Leider sah es so aus, als wären sie erneut in eine Sackgasse geraten.
Immerhin war der Raum trocken, gemütlich und bot Schutz. Sie könnten also wenigstens die Nacht hier verbringen, sich ein wenig aufwärmen und ausruhen.
»Glaubst du, du kannst ein Feuer in Gang bringen?«, fragte sie.
Prüfend musterte er den offenen Kamin. »Ich sehe keinen Grund, warum das nicht funktionieren sollte.«
Nachdem er ihr seine Kerze gereicht hatte, räumte er zügig die Äste und Blätter zur Seite. Der Staub ließ Caitlin niesen.
Caleb zog weitere Äste aus dem Kamin, sammelte alles ein und trug es aus dem Cottage.
Caitlin hörte, wie er aufs Dach kletterte und den Kamin auch von oben reinigte. Plötzlich spürte sie einen Luftzug und begriff, dass der Schornstein jetzt frei war. Sekunden später tauchte Caleb wieder auf und brachte einen Armvoll trockenes Feuerholz mit. Wie schnell er war! Die Schnelligkeit von Vampiren war erstaunlich. Im Vergleich dazu fühlte sie sich ziemlich langsam und schwerfällig.
Nachdem er das Holz auf der Feuerstelle aufgeschichtet hatte, nahm er eine Kerze und entzündete das Holz an mehreren Stellen gleichzeitig. Innerhalb weniger Minuten prasselte in dem kleinen Cottage ein gemütliches Feuer. Dankbar stellte sie sich davor und genoss die Wärme.
Sie steckte die beiden Kerzen weit oben in die Steinmauer, sodass der Raum jetzt ziemlich warm und hell war. Dann setzte sie sich nahe ans Feuer, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand und rieb sich die Hände. Allmählich fühlte sie sich besser.
Caleb folgte ihrem Beispiel und ließ sich an der anderen Seite des Feuers nieder. Der Raum war so klein, dass sich ihre Füße fast berührten.
Aufmerksam musterte Caleb das Zimmer – den Boden, die Wände, die Ziegel des gemauerten Kamins und dann die Decke. Dabei unterzog er jede Einzelheit einer intensiven Prüfung. Auch Caitlin sah sich ganz genau um. Beide hatten nur einen Gedanken: Was konnte hier versteckt sein? Und wo?
»Das ist definitiv der richtige Ort«, meinte Caleb nachdenklich. »Hier hat Elizabeth gelebt. Die Frage ist bloß, warum die Karte uns hierhergeschickt hat. Ich sehe jedenfalls nichts«, fügte er schließlich niedergeschlagen hinzu.
»Ich auch nicht«, musste Caitlin zugeben.
Ungezwungenes Schweigen senkte sich über sie. Nach dem Strudel der Ereignisse im Laufe des Tages fühlte Caitlin sich erschöpft. Sie war einfach froh, dass sie für die Nacht ein Dach über dem Kopf hatten, und konnte allmählich an nichts anderes mehr denken. Sie liebte das Gefühl von Calebs Mantel um ihre Schultern. In der Tasche ihrer Jeans spürte sie ihr Tagebuch und hätte es gerne herausgenommen, um einen Eintrag zu machen – aber sie war schlicht und ergreifend zu müde.
Sie sah zu Caleb hinüber und betrachtete ihn versonnen. Es war erstaunlich, wie immun er gegenüber Kälte, Müdigkeit und offensichtlich sogar Hunger war. In der Nacht schien seine Energie sogar noch zuzunehmen. Trotz all dem, was sie durchgemacht hatten, wirkte er absolut frisch – und das, obwohl man auf ihn geschossen hatte. Ein Blick auf seinen Arm zeigte ihr, dass die Wunde bereits vollständig verheilt war.
Gedankenverloren starrte er ins Feuer, und seine braunen Augen leuchteten. Caitlin empfand das dringende Bedürfnis, mehr über ihn zu erfahren.
»Erzähl mir etwas von dir«, forderte sie ihn auf. »Bitte.«
»Was willst du denn wissen?«, fragte er und sah weiter ins Feuer.
»Alles«, erwiderte sie. »Die Dinge, die du erlebt hast … Ich kann all das nur schwer begreifen. Woran kannst du dich am besten erinnern?«
Ein langes Schweigen senkte sich über den Raum, während Caleb mit gerunzelter Stirn nachdachte.
»Schwer zu sagen«, begann er schließlich leise. »An Anfang war ich absolut begeistert von der Vorstellung, immer weiterzuleben, Jahrhundert für Jahrhundert. Dann starben nach und nach alle Menschen, die mir etwas bedeutet hatten – Freunde, Verwandte und andere geliebte Menschen. Das ist es, was am meisten wehtut. Man fühlt sich sehr, sehr einsam.
Nach den ersten hundert Jahren baut man allmählich eher eine Bindung zu Orten als zu Menschen auf: zu Dörfern, Städten, Gebäuden, Bergen. Daran hält man sich fest.
Doch im Laufe der Jahrhunderte verschwinden sogar diese Orte von der Bildfläche. Ortschaften verfallen, neue entstehen. Länder schließen sich zusammen. Kriege löschen ganze Kulturen aus, die man einst geliebt hat. Sprachen gehen verloren. Also lernt man, sein Herz auch nicht mehr an Orte zu hängen.«
Caleb räusperte sich.
»Wenn Orte, die man liebt, von der Bildfläche verschwinden, wendet man sich schließlich Besitztümern zu. Über viele Jahrhunderte habe ich Kunstgegenstände gesammelt und einen unschätzbaren Schatz angehäuft. Das hat mir große Freude bereitet. Aber nach einigen Hundert Jahren hat das ebenfalls seinen Reiz eingebüßt. Das Sammeln wird irgendwann bedeutungslos.
Nach Tausenden von Jahren schließlich betrachtet man das Leben mit anderen Augen. Man bindet sich nicht mehr an Menschen, Orte oder Besitztümer. Man bindet sich an gar nichts mehr.«
»Was bleibt denn dann noch übrig?«, wollte Caitlin wissen. »Was bedeutet dir etwas? Es muss doch noch irgendetwas geben.«
Grübelnd starrte Caleb vor sich hin.
»Ich nehme an«, antwortete er nach einer Weile, »dass nur noch Eindrücke übrigbleiben, wenn alles andere wegfällt.«
»Eindrücke?«
»Genau, Eindrücke von bestimmten Menschen. Erinnerungen an Zeiten, die man miteinander verbracht hat. Wie sie einen beeinflusst haben.«
Caitlin wählte ihre nächsten Worte mit Bedacht.
»Meinst du … Beziehungen? Liebesbeziehungen?«
Schweigen legte sich über den Raum. Sie spürte, dass auch er sich Mühe bei der Wahl seiner Worte gab.
»Es gibt alle möglichen Arten von Beziehungen, die eine Rolle spielen, aber im Endeffekt wird eine Liebesbeziehung wahrscheinlich den tiefsten Eindruck hinterlassen«, erwiderte er schließlich. »Aber es steckt mehr dahinter. Am Anfang geht es um die Liebesgeschichte, doch im Laufe der Zeit nimmt die Person einen kleinen Teil von dir in Besitz. Ich weiß nicht, wie ich es sonst erklären soll. Aber es ist das, was einem nach all den Jahrhunderten bleibt.«
Calebs Ehrlichkeit rührte Caitlin. Sie hatte damit gerechnet, dass er ihr erzählen würde, wo er geboren wurde und aufgewachsen war. Aber wie üblich war er weit darüber hinausgegangen. Seine Worte beeindruckten sie sehr. Sie wusste nicht, was sie dazu sagen sollte.
»Nach so langer Zeit«, fuhr er fort, »versucht man automatisch, alle Menschen, die man kennenlernt, einzuordnen und herauszufinden, ob man sie schon in einem anderen Leben gekannt hat. Ich habe festgestellt, dass ich eigentlich jeden, den ich jetzt treffe, bereits in einem anderen Leben kannte. Die anderen erinnern sich nie daran, ich aber schon. Daher warte ich immer auf den Moment, in dem ich begreife, woher ich sie kenne. Irgendwann kommt dieser Moment, und dann ergibt alles einen Sinn.«
Caitlin zögerte mit der nächsten Frage, denn sie fürchtete sich vor der Antwort.
»Was ist denn … mit uns?«
Mit gerunzelter Stirn schaute Caleb ins Feuer, während Caitlin nervös auf seine Antwort wartete. Es dauerte lange, bis er weitersprach.
»Du bist die Einzige, bei der alles irgendwie im Dunkeln bleibt. Ich bin mir sicher, dass wir uns irgendwo schon mal begegnet sind – aber bisher weiß ich nicht, wann und wo das war. Irgendetwas wird vor mir zurückgehalten, und ich verstehe nicht, warum das so ist. Daher kann ich nur vermuten, dass es etwas über dich – über uns – gibt, das ich nicht erfahren soll.«
Wieder war Caitlin sprachlos. Ihre Gefühle für ihn überwältigten sie derart, dass alles, was sie sagen würde, nur falsch verstanden werden konnte.
Völlig verwirrt erhob sie sich und hob mit zitternder Hand ein Holzscheit auf, um es ins Feuer zu werfen. Aber weil sie so nervös war, glitt es ihr aus der Hand und landete mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden.
Caitlin und Caleb erstarrten und sahen sich an. Der Aufprall des Holzscheits hatte irgendwie hohl geklungen. Die Dielenbretter – unter den Dielenbrettern musste sich ein Hohlraum befinden!
Gleichzeitig eilten die beiden zu der Stelle, an der das Stück Holz gelandet war. Als Caleb es zur Seite schob, wirbelte jahrhundertealter Staub auf und legte das blanke Holz frei. Mit den Fingerknöcheln klopfte er auf das Dielenbrett, und erneut war ein hohles Geräusch zu hören.
»Geh mal ein Stück zurück«, forderte er sie auf.
Dann hob er den Arm und schlug mit der Faust kräftig auf das Brett. Das Holz zersplitterte mit einem lauten Krachen. Nun griff er in das Loch und riss mehrere Dielen heraus.
Schließlich nahm Caitlin eine Kerze und hielt sie in den Hohlraum. Das Loch war nicht tief, sie konnten die Erde auf dem Grund erkennen. Obwohl Caitlin die Höhlung sorgfältig ausleuchtete, fanden sie zuerst nichts. Doch als sie die Kerze in eine Ecke hielt, entdeckte sie plötzlich doch etwas. »Da!«
Vorsichtig griff sie danach und zog es langsam heraus. Dann hielt sie den Gegenstand in die Höhe und befreite ihn von zentimeterdickem Staub.
Es war ein kleiner roter Beutel aus Satin, der mit einer Schnur zugebunden war. Was mochte bloß darin sein? Eine Münze? Ein Schmuckstück? Ihr Herz pochte heftig vor Aufregung, als es ihr endlich gelang, die Schnur zu lösen. Vorsichtig griff sie in den Beutel und fühlte kaltes Metall.
Verblüfft starrten beide auf den Gegenstand in ihrer Hand.
Es war ein kleiner Schlüssel.
Sie vergewisserte sich, dass sonst nichts mehr in dem Beutel steckte. Nur dieser Schlüssel.
Caleb nahm ihn ihr aus der Hand, ging dichter ans Feuer und betrachtete ihn ganz genau.
»Kannst du etwas damit anfangen?«, wollte sie wissen.
Er schüttelte den Kopf.
Nachdenklich setzten sie sich wieder ans Feuer und betrachteten den Schlüssel. Als Caitlin ihn umdrehte, fiel ihr auf einmal etwas auf. Sie befeuchtete ihre Fingerspitze und fuhr damit über das Metall. Eine feine Schmutzschicht löste sich und enthüllte eine winzige Gravur: The Vincent House.
Fragend sah Caitlin Caleb an. »Kennst du das?«
Seufzend lehnte er sich zurück und schüttelte den Kopf.
»Ich nehme an, unsere Suche ist noch nicht vorüber«, sagte er schließlich.
Seine Stimme klang enttäuscht. Offensichtlich hatte er damit gerechnet, in diesem Cottage das Schwert zu finden. Er tat ihr leid, und sie fühlte sich irgendwie schuldig, obwohl sie ebenfalls frustriert war. Anscheinend mussten sie sich auf eine noch längere Suche einstellen. Aber zumindest waren sie auf einen weiteren Hinweis gestoßen. Sie steckten nicht in einer Sackgasse, sondern hatten immerhin einen Schlüssel gefunden. Aber wozu passte er?
Bevor sie ihren Gedanken zu Ende führen konnte, krümmte sie sich plötzlich vor Schmerz zusammen. Eine extrem schmerzhafte Hungerattacke überfiel sie, schlimmer als je zuvor. Sie konnte kaum noch atmen.
Plötzlich spürte sie eine Hand auf der Schulter. »Caitlin?«
Er wartete nicht erst auf eine Antwort. Eine starke Hand fasste sie unter einem Arm, dann wurde sie hochgehoben und in Windeseile aus dem Cottage getragen. In hohem Tempo ging es durch das Dickicht in den Wald hinein.
Während die Schmerzen ihr immer wieder durch den Körper schossen, flogen die Bäume rasend schnell an ihr vorüber.
Sie spürte, wie die bekannte Wut sich in ihr aufbaute. Das Verlangen nach Nahrung wuchs. Und das Verlangen, zu töten. Ihr Körper veränderte sich zusehends, während sie sich in Calebs Armen wand und nicht wusste, wie lange sie sich noch im Griff haben würde.
Endlich blieb Caleb stehen und stellte sie auf ihre Füße. Mit kraftvollem Griff hielt er sie an den Schultern fest und sah ihr direkt in die Augen.
»Du musst mir zuhören. Ich weiß, dass dir das jetzt schwerfällt, aber du musst dich konzentrieren.«
Also gab sie sich die größte Mühe, sich auf seine Worte und seine Augen zu konzentrieren. Ihre Welt verschwand in einem roten Nebel, während der Drang zu töten immer größer wurde.
»Du hast einfach bloß Hunger. Du brauchst Blut, und zwar sofort. Wir sind in einem Wald und können zusammen auf die Jagd gehen – ich kann dir beibringen, wie es geht.«
Beibringen. Beibringen. Sie versuchte, sich an seine Worte zu klammern.
Dann spürte sie, wie er sie mit sich zog, und ehe sie sichs versah, waren sie schon in der Nacht verschwunden.