22.

Kapitel

Caitlin und Caleb flogen über Martha’s Vineyard und überquerten dabei viele Meilen dunklen Waldes. Die Spätnachmittagssonne strahlte vom Himmel. Caitlin staunte, wie groß die Insel war. Die Aquinnah-Klippen, die jetzt ihr Ziel waren, befanden sich auf der anderen Seite der Insel. Trotz Calebs hoher Fluggeschwindigkeit würden sie eine ganze Weile brauchen.

Caleb flog nicht gerne, wenn Leute in der Nähe waren, weil er nicht unnötig Aufmerksamkeit auf sich oder überhaupt auf die Vampire lenken wollte. Jetzt hatte er allerdings keine Bedenken, weil zu dieser Jahreszeit kaum Menschen unterwegs waren. Außerdem flogen sie größtenteils über ausgedehnte Wälder.

In Caitlins Kopf drehte sich alles, als sie an die Walfang-Kirche und den neuesten Hinweis zurückdachte, den sie dort gefunden hatten. Damit hatte sie nun wirklich nicht gerechnet. Sie hatte vermutet, es könnte vielleicht noch ein weiterer Schlüssel sein, aber stattdessen hatten sie eine kleine Schriftrolle vorgefunden, ein brüchiges, vergilbtes Stück Pergament, das in der Mitte durchgerissen worden war. Schon der erste Blick hatte ihnen gezeigt, dass eine Hälfte fehlte. Und ohne die andere Hälfte war auch die erste nutzlos. Was sie nun also hatten, war die Hälfte eines Rätsels. Angesichts des Zustandes der Schriftrolle war es ohnehin erstaunlich, dass sie so lange überlebt hatte. Hätte sie nicht in einem schmalen, luftdichten Metallröhrchen gesteckt, wäre bestimmt nichts mehr davon übrig gewesen. Das Röhrchen ruhte inzwischen sicher in Caitlins Tasche.

Zu dritt hatten sie die mysteriöse Nachricht auf der halben Schriftrolle studiert, aber allen war klar gewesen, dass sie nutzlos war. Die Worte und Sätze waren in der Mitte durchgerissen worden. Ihnen blieben nur Bruchstücke, Teile eines Rätsels.

Es lautete wie folgt:

Die vier Reiter …

Sie verlassen …

betreten einen Ring …

versammeln sich …

und finden die …

neben der vierten …

Immer wieder hatten sie versucht, die Sätze zu vervollständigen. Aber so sehr sie sich auch bemüht hatten, ohne die andere Hälfte war es ihnen nicht gelungen.

Ernüchtert hatten sie schließlich aufgegeben. Roger hatte ein wenig kleinlaut gewirkt, obwohl er natürlich nichts dafürkonnte. Es gab keinerlei Spuren oder Hinweise darauf, wo sich die zweite Hälfte befinden könnte.

Also hatten Caitlin und Caleb beschlossen, der einzigen anderen Spur nachzugehen, die sie noch hatten: die Aquinnah-Klippen, von denen Caitlin geträumt hatte.

Sie hatte Mühe, sich den Traum wieder ins Gedächtnis zu rufen. Er kam ihr bereits fern und undeutlich vor, als hätte sie ihn schon vor Monaten geträumt. Allmählich fragte sie sich sogar, ob sie es überhaupt geträumt hatte. Sie wollte Caleb nicht enttäuschen und ihn nicht noch tiefer in dieses scheinbar aussichtslose Unterfangen verstricken.

Schließlich ließen sie die Wälder hinter sich und erreichten eine wunderschöne Graslandschaft. Die Gräser schwankten im Wind und wurden von der Spätnachmittagssonne angestrahlt, die sie in einem sanften Rot leuchten ließ. Die Aussicht war wunderschön. Unter ihnen erkannte Caitlin eine Farm, Schafe und Kühe weideten auf den weiten Wiesen.

Schon bald konnte man den Salzgeruch des Meeres riechen. Erneut veränderte sich die Landschaft, jetzt flogen sie über Dünengras, das dann allmählich in Sand überging.

Schließlich kamen die Klippen in Sicht.

Sie waren schlichtweg atemberaubend. Hoch ragten sie in den Himmel auf, die Felsen leuchteten in einem geheimnisvollen Rot. Vor allem jetzt in der Spätnachmittagssonne wirkten die riesigen Klippen so lebendig, als stünden sie in Flammen.

Am Fuß der Felswand befand sich ein Sandstrand, der mit Felsbrocken jeglicher Größe und Form übersät war. Das Ganze hatte etwas Prähistorisches und Märchenhaftes, es schien so unwirklich wie ein Strand auf dem Mars. Caitlin konnte nicht fassen, dass es so etwas überhaupt gab.

Rose musste das Mystische auch gespürt haben, denn sie streckte ihren kleinen Kopf aus Caitlins Jacke und schnupperte die salzige Luft.

Als sie über den Klippen kreisten und dann zur Landung ansetzten, kam ihr der Ort plötzlich seltsam vertraut vor. Sie hatte eindeutig das Gefühl, als hätte sie ihn schon einmal gesehen. Ganz genau. Irgendwann einmal musste sie mit ihrem Dad hier gewesen sein.

Sie hatte keine Ahnung, ob sie etwas finden würden, aber offenbar waren sie genau an dem Ort, an dem sie sein sollten.

Der Strand war menschenleer. Nachdem Caleb sanft auf dem Sand gelandet war, setzte Caitlin Rose auf den Boden. Sofort rannte der kleine Wolf los, sprang ins Wasser und schwamm mit den Wellen ans Ufer zurück.

Caitlin und Caleb mussten unwillkürlich lächeln.

Langsam gingen sie den Strand entlang und ließen die Umgebung auf sich wirken. Schweigend nahm Caleb ihre Hand.

Der Strand wurde von dem Geräusch der sich brechenden Wellen und vom Geruch der Salzluft beherrscht. Caitlin schloss die Augen und atmete tief durch. Die frische Luft tat gut.

Aufmerksam ließ Caleb die Blicke über den Strand und die Felsen schweifen.

»Das hier ist definitiv der richtige Ort«, erklärte Caitlin schließlich. »Ich spüre, dass ich mit ihm hier gewesen bin.«

Caleb nickte. »Das kann gut sein. Für uns Vampire ist das ein sehr bedeutender Ort.«

Überrascht sah Caitlin ihn an. »Warst du denn schon mal hier?«

»Schon oft«, antwortete er. »Die Aquinnah-Klippen gehören zu unseren heiligen Orten; sie sind eins der ältesten Energiefelder der Erde. Die roten Felsen und der Sand speichern die uralte Energie, die wir brauchen, und geben sie wieder an uns ab.

Menschen merken das natürlich nicht, sie haben die tiefe Bedeutung dieses Ortes nie begriffen. Doch wir Vampire wissen seit Tausenden von Jahren davon. Es ist ein machtvoller und mystischer Ort, den unsere Ahnen geschaffen haben.

Es wäre also nachvollziehbar, wenn dein Vater dir diesen Ort gezeigt hätte. Unter Vampiren ist es ein alter Brauch, junge beziehungsweise frisch verwandelte Vampire an diesen Ort zu bringen. In erster Line jedoch ist es ein Ort der Liebe.«

Fragend sah Caitlin ihn an. »Ein Ort der Liebe?«

»Vampirhochzeiten sind zwar ausgesprochen selten«, fuhr er fort, »weil wir uns nicht fortpflanzen können und weil wir uns nicht leichtfertig dazu entschließen, uns für alle Ewigkeit zu binden. Aber wenn zwei Vampire dennoch heiraten, sind die entsprechenden Zeremonien sehr aufwendig und feierlich. Sie können tagelang dauern. Und fast immer findet eine solche Hochzeit genau hier statt.«

Ehrfürchtig blickte Caitlin sich um.

»Wenn wir nachts bei Vollmond herkommen würden«, erklärte er, »könnte es durchaus sein, dass wir eine Vampirhochzeit miterleben würden. Diese Klippen symbolisieren die Ewigkeit, sie gehören zu den ältesten Werken der Natur auf diesem Planeten. Man glaubt, dass ihre Energie eine Verbindung unterstützt, die nie wieder zerstört werden kann.«

Das Herz wurde Caitlin weit. Obwohl sie erst so kurze Zeit zusammen waren, hatte sie das Gefühl, Caleb schon ewig zu kennen. Als er von Eheschließung sprach, wurde ihr klar, dass sie sich nichts mehr wünschte, als den Rest ihres Lebens mit ihm verbringen zu können. Der Gedanke, dass ihr Leben vor seinem enden würde, weil sie verschiedenen Rassen angehörten und ihre Liebe verboten war, erschien ihr absolut deprimierend. Bald würde sie nur noch eine weitere Erinnerung für ihn sein.

Am liebsten hätte sie ihm von ihren Befürchtungen erzählt, aber sie wusste nicht, wie sie sich ausdrücken sollte. Außerdem war sie sich nicht sicher, ob er für sie das Gleiche empfand. Daher ging sie einfach nur schweigend weiter.

Alles fühlte sich so vollkommen an. Warum konnte es nicht so bleiben, wie es gerade war? Sie liebte diese Insel und diesen Strand und konnte sich durchaus vorstellen, sich zusammen mit Caleb hier niederzulassen. Vor ihrem inneren Auge sah sie, wie sie sich ein gemeinsames Leben aufbauten, in Sicherheit vor dem Rest der Welt. Vielleicht würden sie hoch oben auf den Klippen ein kleines Haus mit Blick über das Meer bauen und ihre Vergangenheit einfach hinter sich lassen. Aber wäre das überhaupt möglich?

Im Laufe der vergangenen Tage hatte Caitlin das Gefühl gehabt, dass ihr Leben immer mehr aus den Fugen geriet. Ständig war um sie herum etwas passiert, und sie war in alles mit hineingezogen worden. Doch nachdem die Dinge sich nun ein wenig beruhigt hatten und sie ganz offensichtlich in einer Sackgasse steckten, fragte sie sich, ob sie die Suche nicht einfach abbrechen sollten, damit sie wieder eine Art normales Leben führen könnte.

Doch tief in ihrem Inneren wusste sie, dass das nicht möglich war. Sie würden ihrer Bestimmung folgen und das Schicksal erfüllen. Sehr bald würde sich alles zwischen ihnen für immer verändern. Der Gedanke war niederschmetternd.

Sie musste an Calebs Klavierspiel denken. Die Musik war so wunderschön gewesen, im Geiste hörte sie ihn immer noch spielen.

»Ich wusste gar nicht, dass du Klavier spielen kannst«, sagte sie leise.

Er seufzte tief. »Das ist lange her. Ich fürchte, ich bin dem Stück nicht gerecht geworden. Du hättest mal hören sollen, wie Ludwig es gespielt hat!«

Verblüfft starrte sie ihn an. »Du meinst doch nicht etwa Ludwig van Beethoven?«

Doch er nickte.

»Du hast Beethoven tatsächlich spielen hören, Beethoven höchstpersönlich?«

»Ja, gegen Ende seines Lebens.«

Sprachlos und mit offenem Mund sah Caitlin ihn an. Wieder einmal fand sie es erschreckend, was er alles gesehen und erlebt haben musste.

»Du meinst, du … hast ihn richtig kennengelernt?«, fragte sie schließlich ungläubig.

»Ja«, antwortete Caleb, »wir waren eng befreundet. Er war einer von uns.«

»Ein Vampir?« Jetzt war Caitlin richtig schockiert.

Wieder nickte er bloß.

Natürlich hätte Caitlin gerne mehr erfahren – am liebsten alles – doch sie merkte, dass Caleb nicht darüber reden wollte. Was auch immer geschehen war, er verband tiefe Gefühle damit.

»Es muss unglaublich faszinierend sein, Menschen wie ihn persönlich getroffen zu haben. Sich an so etwas zu erinnern«, murmelte sie.

»Ja, manchmal schon«, erwiderte er. »Aber meistens ist es eher eine Last.«

»Warum?«

»Irgendwann fangen die Erinnerungen an, dich herunterzuziehen. Man verliert sich so sehr in der Vergangenheit, dass es einem schwerfällt, in der Gegenwart zu leben. Man kann es mit einem Haus vergleichen, das mit alten Dingen angefüllt ist. Ab einem gewissen Punkt bleibt kein Platz mehr für etwas Neues.«

Schweigend gingen sie einige Minuten nebeneinander her. Die Sonne schickte sich an unterzugehen und tauchte alles in ein sanftes Licht. Die Wellen brachen sich krachend, Rose lief kläffend vor ihnen her, und über ihren Köpfen kreischten Seemöwen.

Erneut sah Caitlin sich um und suchte nach einem Hinweis auf ihren Vater, nach etwas, woran sie sich erinnerte. Doch sie fand nichts.

Plötzlich hörte sie ein lautes Geräusch und spürte einen Luftzug, dann rasten zwei weiße Pferde an ihnen vorüber. Automatisch drehte sie sich um, um zu sehen, woher sie kamen, konnte aber nichts entdecken. Es mussten wilde Pferde sein. Jetzt galoppierten sie den Strand hinunter ins flache Wasser hinein.

Caleb und Caitlin drehten gleichzeitig den Kopf und sahen sich an. So etwas hatte Caitlin noch nie gesehen.

»Wildpferde«, erklärte Caleb. »Auch noch weiße Wildpferde. Das ist ein sehr gutes Zeichen. Komm, fangen wir sie!«, rief er und sprintete los.

Zuerst dachte Caitlin, er wäre verrückt geworden: Wie sollten sie bloß ein Pferd einholen? Doch dann fiel ihr ihre neu entdeckte Schnelligkeit wieder ein, und sie rannte los.

Es fühlte sich an, als würden ihre Beine von ganz allein laufen. Bevor sie wusste, wie ihr geschah, lief sie schneller als jemals zuvor. Bald hatte sie Caleb eingeholt, und innerhalb weniger Sekunden liefen sie neben den Pferden her. Rose folgte ihnen auf dem Fuße.

Ein breites Grinsen erhellte Calebs Gesicht. »Lass uns reiten!«, rief er.

Dann schwang er sich auf den Rücken des einen Pferdes, und Caitlin sprang so schnell, wie sie konnte, auf das andere Pferd. Sie konnte es kaum fassen, dass sie jetzt auf dem Rücken eines Pferdes saß und neben Caleb hergaloppierte. Sein Haar wehte wild im Wind, und er lachte übermütig. Seite an Seite rasten sie den Strand entlang, immer weiter dem Sonnenuntergang entgegen. Es fühlte sich absolut unwirklich an.

Der Ritt führte meilenweit den Strand entlang. Die Klippen, die Felsen und der Sand flogen an ihnen vorüber. Überrascht stellte Caitlin fest, wie lang dieser Strand doch war. Endlos dehnte er sich vor ihnen aus.

Und dann blieben die Pferde ganz plötzlich ohne Vorwarnung stehen.

Caleb und Caitlin gelang es nicht, sie zum Weiterlaufen zu bewegen – sie weigerten sich einfach.

Verwirrt wechselten sie einen Blick.

»Ich glaube, sie wollen, dass wir hier absteigen!«, rief Caleb schließlich lachend.

Caitlin sah nach unten und stellte fest, dass sie im knietiefen Wasser standen.

Calebs Grinsen wurde noch breiter. »Da werden wir wohl nasse Füße bekommen!«

Und schon sprang er vom Pferderücken und landete im Wasser.

Schnell zog Caitlin die Schuhe aus, nahm sie in eine Hand und folgte Calebs Beispiel.

Das Wasser an ihren nackten Füßen war eiskalt, doch es reichte ihr nur bis zu den Schienbeinen, als die Welle sich zurückzog. Eigentlich war es sogar regelrecht erfrischend. Und der weiche Sand fühlte sich wunderbar an.

Als sie aufsah, galoppierten die Pferde davon, den leeren Strand entlang der Sonne entgegen.

Rose rannte ins Wasser, spielte mit den Wellen und jaulte übermütig.

Caleb kam näher und hob Caitlin spielerisch hoch, damit sie nicht nass wurde, als die nächste Welle heranrollte. Er schwankte nicht einmal, er war so stark wie ein Fels in der Brandung. Lachend wirbelte er sie im Kreis und hielt sie fest an sich gedrückt.

Das Herz wurde ihr weit.

Langsam setzte er sie ab, hielt sie aber immer noch im Arm. Ihre Blicke begegneten sich. Allmählich verblasste sein Lächeln, und sein Gesicht wurde ernst.

Seine Augen wechselten die Farbe, von Braun zu Meeresgrün. Wie gebannt starrte er auf sie hinunter.

Ihr Herz klopfte heftig, als er sich schließlich vorbeugte und sie küsste.

***

Der Kuss war wie ein Feuerwerk. Eine grenzenlose Wärme und ein unglaubliches Prickeln breiteten sich in ihrem ganzen Körper aus – anders als alles, was sie bisher erlebt hatte. Sie erwiderte seinen Kuss, erst vorsichtig, dann mutiger, bis er sie schließlich aus dem Wasser hob und Richtung Strand trug.

Dort legte er sie in den trockenen Sand und ließ sich neben ihr nieder. Der Strand war nach wie vor leer, und die ganze Welt schien ihnen zu gehören. Caitlin hob die Hand und fuhr ihm durch die Haare, und ihre Küsse wurden immer leidenschaftlicher.

Von diesem Augenblick hatte sie geträumt, seit sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte.

Noch nie hatte sie jemanden so sehr geliebt.

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