19.

Kapitel

Inzwischen saß Samantha auf dem Beifahrersitz. Sie war beeindruckt, wie gut Sam mit dem Wagen zurechtkam – nicht schlecht für sein Alter. Überrascht stellte sie fest, wie gut er mit der Schaltung umgehen konnte, und verzieh ihm schnell das anfängliche Knirschen beim Einlegen der Gänge. Sobald er in den dritten geschaltet hatte, war er sogar richtig gut. Seine Aggressivität gefiel ihr, insbesondere als der Tacho hundertneunzig anzeigte. Er hatte die richtige Einstellung, das musste man ihm lassen.

Entspannt lehnte sie sich zurück und genoss die Fahrt. Natürlich waren sie viel langsamer, als wenn sie geflogen wären, aber für Menschen war die Reisegeschwindigkeit gar nicht so übel. Bei dem Gedanken an den Besitzer des Autos, diesen Immobilienmakler – ihr Frühstück –, lächelte sie zufrieden. Sein Blut floss immer noch durch ihre Adern, und es fühlte sich gut an. Sie war erst einmal für eine Weile satt.

Natürlich hätte sie den Jungen eigentlich nicht fahren lassen müssen, aber warum sollte er sich nicht ein bisschen amüsieren? Seine Tage waren ohnehin gezählt. Es war nur noch eine Frage von Stunden, bis sie seinen Vater treffen und herausfinden würde, wo sich dieses Schwert befand. Danach könnte sie die beiden aus dem Weg räumen.

Doch irgendetwas nagte an ihr – unerklärlicherweise mochte sie diesen Jungen. Und das beunruhigte sie mehr als alles andere, denn sie konnte sich nicht entsinnen, in Hunderten von Jahren auch nur einen einzigen Menschen wirklich gemocht zu haben. Ganz zu schweigen von einem kleinen, dummen Teenager. Widerwillig musste sie zugeben, dass Sam etwas Besonderes war. Irgendwie schien eine Seelenverwandtschaft zwischen ihnen zu bestehen, etwas, das sie wiedererkannte. Schon bald hatte sie gespürt, dass er trotz seiner Jugend bereits viel herumgeschubst worden war. Wahrscheinlich resultierte daraus seine draufgängerische Art, seine Gleichgültigkeit gegenüber der Welt – so als wüsste er, dass seine Tage gezählt waren, als wäre er bereit, stilvoll abzutreten. Und genau das gefiel ihr. Es erinnerte sie an eine Affäre, die sie mit einem jungen Prinzen in Bulgarien gehabt hatte, irgendwann im vierzehnten Jahrhundert …

Vielleicht musste sie ihn ja nicht sofort umbringen, vielleicht könnte sie ihn noch ein bisschen länger leben lassen. Vielleicht sogar dann noch, wenn sie das Schwert gefunden hatte. Er könnte ihr Sklave sein, ein Spielzeug, mit dem sie tun konnte, was sie wollte. Vielleicht könnten sie sogar …

Abrupt brach sie ihren Gedankengang ab – sie war wütend auf sich selbst. Wurde sie etwa allmählich sentimental?

Das kam nicht in Frage, schließlich musste sie sich auf die Aufgabe konzentrieren, die vor ihr lag. Auf seinen Vater. In Kürze würden sie ihr Ziel erreichen, in weniger als einer Stunde. Falls der Vater ein Vampir war, musste sie sich möglicherweise auf einen Kampf einstellen, da er ihre Anwesenheit sofort spüren würde. Höchste Wachsamkeit war gefragt.

Sie würde tun, was getan werden musste; falls erforderlich würde sie sich auch auf einen Kampf um Leben und Tod einlassen. Dieser Mann war der Schlüssel zum Schwert, der Schlüssel zum Sieg ihres Clans. Und um diesen Sieg zu erringen, würde sie alles tun, gleichgültig, ob sie im Himmel oder in der Hölle landen würde.

***

Während Sam sich vom Navigationsgerät des Wagens zur Adresse seines Vaters leiten ließ und sie ihrem Ziel immer näher kamen, war er zunehmend irritiert. Er hatte sich vorgestellt, dass sein Vater in einem vornehmen Stadtteil an einer schönen Straße wohnte, natürlich in einem tollen Haus mit einem riesigen Grundstück.

Jetzt hatte er allerdings das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmen konnte, denn das Navi verkündete, sie würden ihr Ziel nach etwa einer Meile erreichen. Sie fuhren gerade durch ein richtiges Kaff – eigentlich war es nicht einmal ein Dorf, sondern bloß eine lang gezogene, langweilige Landstraße, an der hier und da Wohnwagen standen.

Als das Navi ihnen schließlich mitteilte, dass sie nun ein letztes Mal abbiegen müssten, traute Sam seinen eigenen Augen nicht. Auf einem großen Schild stand: Homestead Trailer Park.

Hier also lebte sein Dad. In einer Wohnwagensiedlung.

Während sie langsam die unbefestigte Straße zwischen den Wohnwagen entlangrollten, von denen einer schäbiger aussah als der andere, spürte er, wie sich ein ungutes Gefühl in seinem Magen ausbreitete. Das Gefühl war ihm vertraut – es trat immer dann auf, wenn seine Träume platzten. Wie blöd von ihm, sich Hoffnungen zu machen. Was war er doch für ein Idiot!

Je weiter sie fuhren, desto geringer wurde die Anzahl der Wohnwagen. Als sie das Ende der Sackgasse erreichten, entdeckte er die gesuchte Nummer auf einem hellblauen Camper. Das winzige Gefährt war völlig heruntergekommen. Die Fliegengittertür hing schief in den Angeln, die kleinen Eingangsstufen waren kaputt, und das Unkraut rund um den Trailer wucherte kniehoch. Er lag etwas versteckt hinter einigen Sträuchern, aber das war nicht die Art von Privatsphäre, die Sam sich vorgestellt hatte.

Auf einmal war er sehr verlegen. Es war ihm schrecklich peinlich, dass er Samantha an diesen Ort gebracht hatte. Er wünschte, er könnte einfach abhauen – oder sich zusammenrollen und sterben.

Er hielt an und schaltete die Zündung aus. Die beiden blieben erst einmal im Wagen sitzen und sahen sich an. Mindestens zum zehnten Mal überprüfte Sam das Navi, um sicherzugehen, dass die Adresse tatsächlich richtig war. Sie war es.

»Sollen wir aussteigen?«, fragte Samantha schließlich.

Sam wusste nicht, was er jetzt tun sollte. Was war das für ein Mann, der an einem derartigen Ort lebte? Was für ein Mensch war sein Dad bloß?

Am liebsten hätte er den Motor gestartet und wäre einfach davongebraust. Doch irgendwie konnte er nicht.

Schließlich schluckte er, öffnete die Tür und stieg aus. Samantha folgte seinem Beispiel.

Langsam näherten sie sich dem Trailer. Nachdem sie die verrotteten Holzstufen hinaufgestiegen waren, öffnete Sam die quietschende Fliegengittertür.

Er atmete tief durch, hob die Hand und klopfte an.

Von drinnen kamen raschelnde Geräusche. Sekunden später ging die Tür auf.

Und dann stand er vor ihm, sein Vater.

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