6. Kapitel

Es war nach Mitternacht, als der Wagen vor dem Grand-Valoin-Hotel hielt.

Er nahm den Lift zu seiner Etage — der einundvierzigsten — und stieg aus. Der dicke Samt des roten Teppichs dämpfte seine Schritte, als er durch den Korridor zu seinem Zimmer ging.

Er drückte den Daumen auf die identitätsabgestimmte Platte der Tür und befahl mit leiser Stimme, um keinen seiner Nachbarn zu wecken: „Öffne.“

Die Tür rollte zurück. Unerwarteterweise brannte das Licht in seinem Raum.

„Hallo“, begrüßte ihn Byra Clork.

Ewing erstarrte im Eingang und blickte verblüfft auf das breitschultrige sirische Mädchen. Sie saß ruhig in dem Laxostuhl am Fenster. Eine Flasche stand auf dem Nachttisch, und daneben zwei Gläser, eines von ihnen zur Hälfte mit einer amberfarbenen Flüssigkeit gefüllt.

„Wie sind. Sie in mein Zimmer gekommen?“ fragte er.

Sie hatte ihr strenges Kostüm abgelegt und trug jetzt eine enganliegende, rockähnliche Hülle, die den oberen Teil ihres Körpers freigab und unmittelbar über dem Knie endete, Ihre Haut war tief gebräunt, ihre Arme und Schultern außergewöhnlich gut proportioniert. Trotz der gerundeten Fülle ihrer Brüste wirkte sie wenig weiblich auf Ewing; sie war zu stählern, zu kalt.

Sie entgegnete: „Ich erbat mir von der Direktion den Hauptschlüssel.“

„Und erhielten ihn ohne weiteres?“ schnappte Ewing. „Ich muß wohl meine Ansichten über terrestrische Hotels korrigieren. Ich stand unter dem Eindruck, daß das Zimmer eines Gastes ausschließlich ihm gehört.“

„So verhält es sich gewöhnlich auch“, meinte sie leichthin. „Ich erachte es jedoch für notwendig, mich mit Ihnen über eine wichtige Angelegenheit zu unterhalten, Eine Angelegenheit, die von großer Bedeutung für das sirische Konsulat in Valloin ist, das ich vertrete.“

Ewing kam zu Bewußtsein, daß er die Tür immer noch aufhielt. Er ließ sie los, und sie schloß sich automatisch. „Für Konsulatsgeschäfte ist es etwas spät, finden Sie nicht?“ erkundigte er sich.

Sie lächelte. „Es gibt Dinge, für die es nie zu spät ist. Wollen Sie nichts trinken?“

Er ignorierte das Glas, das sie ihm entgegenhielt. Er unterdrückte alle Gefühle, die in ihm aufstiegen, selbst seinen Ärger. Er empfand kein Verlangen nach diesem Mädchen. Sie sollte seinen Raum verlassen.

„Wie sind Sie in mein Zimmer gekommen?“ wiederholte er.

Sie zeigte an ihm vorbei auf das gedruckte Auskunftsblatt. „Dort steht es klar genug auf Ihrer Tür: ‚Die Direktion behält sich das Recht vor, jeden der Räume jederzeit zu betreten und zu besichtigen.’ Ich führe eine Besichtigung durch.“

„Sie sind nicht die Direktion!“

„Ich bin bei der Direktion angestellt“, erwiderte sie freundlich. Sie brachte eine gelbe, glänzende Karte zum Vorschein, die sie dem verwunderten Ewing gab. Er las:

ROLLUN FIRNIK

Direktor

Grand-Valloin-Hotel

„Was bedeutet das?“

„Es bedeutet, daß die Bürorobots Firnik unmittelbar unterstehen. Er betreibt dieses Hotel. Sirische Geschäftsleute haben es vor acht Jahren gekauft. Und nun, da alles hübsch legal zugeht, Ewing, setzen Sie sich und lassen Sie uns reden.“

Unsicher schlüpfte Ewing aus seiner Jacke und öffnete den Kleiderschrank, die Robothände schnellten hervor, nahmen ihm die Jacke ab und hängten sie auf. Er ließ sich auf der Bettkante nieder und schaute sie an.

„Wir haben heute bereits eine Unterhaltung geführt, nicht wahr? Ein reichlich ergebnisloses Gespräch, das sein Ende fand, als Sie von mir wegliefen.“ Ewing befeuchtete seine Lippen. „Unmittelbar vor Ihrem Abgang warnten Sie mich —“

„Vergessen Sie das!“

Die plötzliche Blässe ihres Gesichts verriet ihm, was er wissen wollte: Sie wurden beobachtet.

„Ich — habe jetzt andere Instruktionen“, sagte sie zögernd. „Wollen Sie nichts trinken?“

Er schüttelte den Kopf. „Ich habe heute schon mehr als mein Teil genossen, danke. Außerdem bin ich müde. Da Sie nun einmal hier sind, könnten Sie mich eigentlich darüber aufklären, was Sie von mir wollen.“

Mit gelassener Sorgfalt zog sie eine Zigarette aus ihrer Handtasche, betätigte das Feuerzeug und nahm einen tiefen Zug.

„Ihre Anwesenheit auf der Erde beunruhigt uns“, erklärte sie. „Mit uns meine ich die sirische Regierung, die ich repräsentiere. Wir haben ein bestimmtes finanzielles Interesse an der Erde. Wir wollen unsere Investierungen nicht aufs Spiel setzen.“

Ewing runzelte neugierig die Stirn. „Ich sehe nicht viel klarer.“

„Kurz gesagt, wir fragen uns, ob Sie — der Sie Corwin oder möglicherweise eine Liga von Kolonien vertreten — territoriale Absichten auf der Erde hegen oder nicht“, versetzte sie langsam. „Ich bin jetzt völlig offen. Zu offen vielleicht. Wir Sirier sind schlechte Diplomaten; unsere Rasse besitzt die Eigentümlichkeit, stets direkt zur Sache zu kommen.“

„Ich werde Ihnen mit gleicher Offenheit antworten: Es gibt keine koloniale Liga, und ich hege nicht im entferntesten die Absicht, die Erde zu annektieren.“

„Weshalb sind Sie dann hier?“

Er zog ungeduldig die Brauen zusammen.

„Das habe ich alles heute morgen Ihrem Freund Firnik erläutert, nur wenige Minuten, nachdem ich das Zentralgebäude des Raumhafens betreten hatte. Ich sagte ihm, daß Corwin in Gefahr schwebt, einer fremden Invasion zum Opfer zu fallen, und daß ich auf der Suche nach Hilfe zur Erde gekommen bin.“

„Ja, das haben Sie ihm allerdings gesagt. Und Sie erwarteten, er würde dieses Märchen glauben?“

Erbittert brüllte Ewing: „Verdammt, weshalb nicht? Es ist wahr!“

„Daß irgendein intelligenter Mensch fünfzig Lichtjahre zurücklegen würde, nur, um den schwächsten Planeten im Universum um Unterstützung zu bitten? Sie müssen sich schon bessere Lügen ausdenken“, spottete sie.

Er starrte sie an. Unter der gleichmäßig verteilten Beleuchtung des Raumes hatten ihre gebräunten Züge einen bronzenen Glanz angenommen; Schweiß stand auf ihrem nackten Oberkörper. Sie umklammerte das Glas mit einer Hand, ohne zu trinken.

„Unser Planet liegt isoliert“, entgegnete er mit ruhiger, aber scharfer Stimme. „Wir wußten nichts von dem momentanen Stand irdischer Kultur. Wir dachten, die Erde könnte uns helfen. Doch mein Auftrag war umsonst, und morgen werde ich wieder zurückkehren. Im Augenblick bin ich müde und möchte schlafen. Würden Sie bitte gehen?“

Sie stand plötzlich auf und setzte sich neben ihn auf das Bett. Die Nähe ihres Körpers vermochte ihn nicht zu erregen. Er erkannte resigniert, daß die Sirier ihn offensichtlich verdächtigten, Haupt einer weitgespannten Geheimorganisation zu sein, deren Ziel die Erringung der Herrschaft über die Erde bildete und die damit das Vorhaben von Sirius IV bedrohte.

Die Sirier waren Fanatiker; einmal von seiner hohen Position in dieser mythischen Verschwörung überzeugt, würden keine Worte genügen, ihnen seine Unschuld begreiflich zu machen.

„Gut“, sagte sie mit heiserer, aber überraschend weicher Stimme, „ich werde Firnik erzählen, Sie seien aus den Gründen hier, die Sie angeben.“

Ihre Worte hätten ihn überraschen können, aber er erwartete sie. Sie waren als Eröffnung des Spiels bestimmt, die ihn unvorsichtig machen sollte. Die sirischen Methoden waren plump.

„Danke“, erwiderte er sarkastisch. „Ihr Vertrauen ist herzerfrischend.“

Sie bewegte sich näher an ihn heran. „Warum wollen wir nicht zusammen etwas trinken? Ich bin nicht nur sirisches Konsulat. Ich habe auch eine Privatpersönlichkeit, Sie mögen es glauben oder nicht.“

Er spürte ihre Wärme gegen seinen Körper, Sie goß das Glas voll und zwang es in seine widerstrebende Hand. Er fragte sich, ob Firnik diese Szene über den Spionstrahl beobachtete.

Ihre Hände glitten in sanfter Liebkosung über seine Schultern. Ewing blickte mitleidig auf sie herunter. Ihre Augen waren geschlossen, ihre Lippen feucht, leicht geöffnet. Vielleicht spielt sie nicht, dachte er. Aber auch so war er nicht interessiert.

Er rückte plötzlich zur Seite, und sie verlor fast das Gleichgewicht, Ihre Augen öffneten sich weit; einen Augenblick lang loderte nackter Haß darin, aber siefing sich schnell und nahm eine Pose verletzter Unschuld an.

„Weshalb haben Sie das getan? Mögen Sie mich nicht?“

Ewing lächelte kalt, „Ich finde Sie amüsant. Aber ich lasse mich mit niemandem vor einem Spionstrahl ein.“

„Woher wissen Sie —“

„Außerdem“, fuhr er fort, „durchläuft der Planet, von dem ich komme, gerade eine puritanische Phase seiner Kultur. Und ich habe eine Frau auf Corwin, der ich treu bleiben will.“

Ihre Augen verengten sich; ihre Lippen kräuselten sich in momentanem Zorn, dann lachte sie — ein spöttisches Gelächter. „Sie halten das für eine Vorspiegelung? Sie glauben, ich täte es für mein Vaterland?“

Er nickte. „Ja.“

Sie versetzte ihm eine Ohrfeige.

„Gehen Sie jetzt?“ fragte er.

„Was hält mich noch?“ murmelte sie bitter. Sie funkelte ihn an. „Wenn Sie ein Musterexemplar corwinitischer Männlichkeit sind, bin ich froh, daß nicht öfter als alle fünfhundert Jahre jemand von euch hierherkommt. Maschine! Robot!“

Sie ergriff eine leichte Mantille, die über dem Stuhl lag, und legte sie sich um Schultern und Busen. Ewing traf keine Anstalten, ihr behilflich zu sein. Er wartete teilnahmslos mit gefalteten Armen.

„Sie sind unglaublich“, machte sie sich Luft, Sie hielt inne; dann leuchteten ihre Augen auf. „Sie bestehen also darauf, mich als Dame zu behandeln. Ich sollte sie dafür töten, aber ich werde es nicht tun. Wollen Sie jetzt wenigstens etwas mit mir trinken, bevor ich gehe?“

Sie war geschickt, dachte er, und zugleich unbeholfen. Sie hatte ihm den Vorschlag während der vergangenen halben Stunde so oft gemacht, daß er ein Narr gewesen wäre, nicht zu argwöhnen, daß das Getränk vergiftet war. Auch er konnte geschickt sein.

„Gut“, stimmte er zu. Er nahm das Glas, das sie für ihn eingegossen hatte, und reichte ihr das halbvolle, das sie, ohne zu trinken, die ganze Zeit über gehalten hatte. Er blickte sie erwartungsvoll an.

„Worauf warten Sie?“ fragte sie.

„Daß Sie zuerst trinken.“

„Immer noch voller Argwohn, wie?“ Sie hob ihr Glas und nahm einen tiefen Zug. Dann gab sie es an Ewing weiter, nahm ihm seines ab und trank ebenfalls daraus.

„Hier“, sagte sie. „Ich Bin noch am Leben. Kein tödliches Gift befindet sich in Ihrem Glas. Glauben Sie mir?“

Er lächelte. „Zumindest diesmal.“

Immer noch lächelnd, setzte er das Glas an. Die Flüssigkeit war warm und stark; er fühlte, wie sie durch seine Kehle rann. Einen Augenblick später gaben seine Beine nach.

Er kämpfte darum, sich aufrechtzuhalten. Das Zimmer schwankte um ihn; ihr triumphierendes Gesicht drehte sich in irrsinnigem Wirbel. Er fiel auf die Knie und klammerte sich an den Teppich.

„Es war vergiftet“, stieß er hervor.

„Natürlich. Ein Mittel, das auf den sirischen Metabolismus nicht wirkt. Wir waren bis jetzt nicht sicher, ob ein Corwinit darauf ansprechen würde.“

Er krampfte seine Hände in den Teppich. Der Raum verschwamm um ihn. Er empfand Übelkeit und gleichzeitig heißen Zorn über seine Unbesonnenheit. Immer noch bei Bewußtsein, hörte er, wie die Zimmertür sich öffnete und Byra fragte: „Habt ihr uns die ganze Zeit über beobachtet?“

„Ja.“ Die Stimme gehörte Firnik. „Glaubst du, daß er immer noch mit der Wahrheit hinter dem Berge hält?“

„Ich bin sicher“, bestätigte Byra. Ihr Tonfall klang rachsüchtig. „Er muß verhört werden.“

„Wir werden uns seiner annehmen“, versprach Firnik.

Der Corwinit versuchte, um Hilfe zu rufen, aber alles, was sich seinen Lippen entrang, war ein schwaches Stöhnen.

„Er kämpfte immer noch gegen das Gift“, vernahm er Byras Stimme. „Es müßte ihn jeden Moment überwältigen.“

Schmerz durchpulste ihn in quälenden Wellen. Sein Griff löste sich, und er fiel zur Seite. Er fühlte noch, wie kräftige Hände ihn unter den Armen packten und hochhoben, aber er konnte nichts mehr erkennen. Es wurde Nacht um ihn.

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