11. Kapitel

Ewing schritt durch die geräumige Vorhalle des Konsulats, wandte sich nach links und stieg eine Treppe hinunter. Ein Posten, der neben dem letzten Absatz stand, hielt ihn auf. „Wo wollen Sie hin?“

„Ich muß Vizekonsul Firnik sprechen.“

„Firnik hat eine Konferenz. Er hinterließ den Befehl, ihn nicht zu stören.“

„Ich besitze eine Sondergenehmigung. Zufällig weiß ich, daß er einen Gefangenen verhört. Ich habe wichtige Nachrichten für ihn, und ich lasse Sie rösten, wenn ich nicht hineinkomme.“

Der Posten wirkte unschlüssig. „Nun —“

„Hören Sie“, schlug Ewing vor, „weshalb setzen Sie sich nicht mit Ihrem unmittelbaren Vorgesetzten in Verbindung, wenn Sie die Verantwortung nicht selbst übernehmen wollen? Ich warte hier.“

Der Posten grinste, zufrieden, der Last der Entscheidung enthoben zu sein. „Ich bin sofort wieder hier“, versprach er.

Er drehte sich um und entfernte sich. Als er drei Schritte zurückgelegt hatte, zog Ewing den Froster aus der Tasche, stellte ihn auf niedrige Intensität, zielte und feuerte. Der Posten erstarrte.

Schnell lief Ewing hinter ihm her, zog ihn in seine ursprüngliche Stellung zurück und drehte ihn so, daß er den Zugang zu bewachen schien. Dann umging er ihn und strebte dem untersten Geschoß zu.

Eine zweite Wache, diesmal in der Uniform eines Leutnants, war dort postiert. Ewing kam ihr rasch zuvor: „Der Sergeant schickte mich hierher. Sagte, ich könnte den Vizekonsul hier finden. Ich habe eine dringende Nachricht für ihn.“

„Geradeaus, die zweite Tür links.“

Ewing dankte ihm und ging weiter. Er blieb einen Moment lang vor der bezeichneten Tür stehen, während er die Gesichtsmaske befestigte. Er vernahm Worte dahinter:

„Sie haben Ihre letzte Chance. Weshalb entschloß sich die Freie Welt Corwin, Sie zur Erde zu senden?“

„Wegen der Klodni“, antwortete eine müde Stimme. Der Akzent klang vertraut — die Stimme gehörte ihm! Ein Schock durchzuckte ihn bei der Erkenntnis. „Sie kamen von der Andromeda und —“

„Das genügt“, drang die rauhe Stimme Firniks an sein Ohr. „Byra, mach dich fertig zum Aufnehmen. Ich schalte den Bohrer ein.“

Er legte die Hand gegen die Tür und stieß sie auf. Er zog die Frosterpistole und trat ein.

Firnik, Byra, Drayl und Thirsk umstanden eine fünfte Gestalt, die zusammengesunken unter einem metallenen Helm saß.

Firnik sah überrascht hoch. „Wer sind Sie? Wie kommen Sie hier herein?“

„Lassen Sie das meine Sorge sein“, schnappte Ewing. Das Bild entrollte sich mit traumhafter Klarheit vor ihm. Ich bin schon einmal hiergewesen, dachte er mit einem Blick auf den schlaffen Körper seines früheren Selbst. „Treten Sie zurück von der Maschine, Firnik“, ordnete er an. „Ich habe einen Froster hier und brenne darauf, ihn gegen Sie anzuwenden. Stellen Sie sich an die Wand. Sie auch, Byra. Drayl, machen Sie seine Handgelenke los und nehmen Sie ihm den Helm ab.“

Der Mechanismus rollte zurück und enthüllte das unrasierte, erschöpfte Gesicht des anderen Ewing. Der maskierte Ewing zwang sich, ruhig zu bleiben. Er durchquerte den Raum, ohne die Pistole von den Siriern zu wenden, und hob den anderen Ewing hoch.

Schroff befahl er Firnik, den Wachposten neben der Treppe anzurufen und seine Flucht zu sichern. Er hörte dem Sirier zu, während er sprach; dann, mit den Worten: „Das hier sollte euch zumindest für einige Stunden ausschalten“, gefror er die vier Sirier, schleifte sein anderes Selbst aus dem Raum in den Korridor hinaus und in einen Lift.

Erst als Ewing auf der Straße angelangt war, stellte sich die Reaktion ein. Ein heftiges Zittern überfiel ihn. Er erspähte ein Taxi, schob seinen Begleiter hinein und instruierte den Chauffeur: „Fahren Sie bitte zum Grand Valloin Hotel.“

Die Fahrt verschlang fünf seiner verbliebenen achtzehn Kredite. Eilig schaffte Ewing seinen Mann durch den Hotelvorraum und nach oben in Zimmer 4113. Der andere — Ewing-zwei, nannte ihn Ewing jetzt — fiel augenblicklich mit dem Gesicht voran auf das Bett. Ewing machte sich daran, ihn auszuziehen, zerrte ihn unter die Dusche und brachte den erschöpften Mann endlich zu Bett. Sekunden später war er eingeschlafen.

Ewing holte tief Atem. Soweit war das Drehbuch befolgt worden; hier aber mußte es sich ändern.

Mehrere Alternativen boten sich an. Er konnte sich entfernen und Ewing-zwei sich selbst überlassen, in welchem Fall Ewing erwachen, zu Myreck geführt werden, eine Demonstration der Maschine verlangen und zurückkehren würde, um Ewing-eins zu werden und einen neuen Ewing-zwei zu retten. Dieser Weg ließ jedoch zu viele Fragen unbeantwortet.

Es gab eine Möglichkeit, die zyklische Kette zu unterbrechen, die drohte, eine unendliche Anzahl Ewings in einer unaufhörlichen Tretmühle vorwärtszubewegen. Ihre Verwirklichung erforderte allerdings Mut.

Er starrte in den Spiegel. Wage ich es? fragte er sich.

Er dachte an seine Frau, seinen Sohn und alles, wofür er gekämpft hatte, seit er die Erde erreichte. Ich bin überflüssig, sagte er sich; ich habe kein Recht, am Leben zu bleiben. Der Mann auf dem Bett war es, in dessen Händen das Schicksal lag. Ewing-eins stellte nur eine überzählige Speiche im Rad der Zeit dar. Sein Gesicht im Spiegel zeigte ihm keine Furcht. Er nickte; dann lächelte er. Sein Weg lag klar vor ihm.

Ein Diktaphon stand auf dem Zimmertisch. Ewing schaltete es ein und begann zu diktieren:

„Zweittagnachmittag. An mein Selbst einer früheren Zeit — den Mann, den ich Ewing-zwei nenne, von Ewing-eins. Lies dies mit größter Sorgfalt, präge es dir ein und vernichte es dann.

Du bist durch das scheinbar wunderbare Dazwischentreten eines Unbekannten den Händen deiner Peiniger entrissen worden. Du mußt glauben, daß dein Retter kein anderer als du selbst warst, der sich heute in zwei Tagen auf der Zeitlinie zurückverdoppelt hat. Da ich die Zeit, die jetzt vor dir liegt, bereits durchlebt habe, laß mich dir auseinandersetzen, was für dich vorgesehen ist. Ich flehe dich an, unser beider Dasein zu retten, indem du genau meine Anweisungen befolgst.

Jetzt ist Zweittag. Dein ermüdeter Körper wird erst am Vierttag erwachen. Kurz darauf wird sich der Gelehrte Myreck melden, dich an deine Abmachung mit ihm erinnern und mit dir vereinbaren, dich zu seiner Akademie in einem Vorort zu bringen. Dort wird er dir die Tatsache enthüllen, daß sie imstande sind, Gegenstände in der Zeit zu verlagern — ihr Gebäude selbst ist um drei Mikrosekunden verschoben, um Nachforschungen zu entgehen.

An diesem Punkt meiner eigenen Zeitlinie zwang ich sie, mich in der Zeit vom Vierttag zum Zweittag zurückzusenden, und führte nach meiner Ankunft hier deine Rettung durch. Mein Ziel dabei war, dir diese Auskünfte zu hinterlassen, die mein Retter vergessen hat. Unter keinen Umständen darfst du die gleiche Reise durchführen! Der Kreislauf muß mit dir enden.

Wenn Myreck dir die Maschine zeigt, hast du Interesse zum Ausdruck zu bringen, aber keine Vorführung zu verlangen. Dadurch wird automatisch eine neue Vergangenheit geschaffen, in der ein Ewing-drei unter Firniks Befragung gestorben ist, während du, Ewing-zwei, als freier Agent am Leben bleibst, um deine Aufgabe durchzuführen.

Was mich anbetrifft, so bin ich nicht länger für den Ablauf der Ereignisse notwendig und beabsichtige daher, mich nach Abschluß dieser Mitteilung aus dem Zeitstrom zu entfernen. Ich werde dies tun, indem ich die Energitronzelle in der Vorhalle kurzschließe, während ich mich darin aufhalte, eine Tatsache, deren du dich nach deinem Erwachen durch Überprüfen der Telestatberichte vom Zweittag, dem elften, vergewissern kannst. Diese Handlung, verbunden mit deiner Weigerung, Myrecks Maschine zu benutzen, wird der Vielzahl existierender Ewings ein Ende bereiten und dich als einzigen auf der Bühne zurücklassen. Nutze die Gelegenheiten, die sich dir bieten, so weit wie möglich aus. Ich weiß, daß du fähig bist, deiner Aufgabe gerecht zu werden.

Ich wünsche dir Glück. Du wirst es brauchen.

In tiefster Freundschaft

Ewing-eins.“


Als er die Nachricht beendet hatte, zog Ewing sie aus der Maschine und las sie dreimal langsam durch. Er faltete sie zusammen, zog zehn Kredite aus der Tasche — ein weiterer Punkt, den sein zeitlicher Vorgänger vernachlässigt hatte — und steckte die Botschaft und das Geld in einen Umschlag, den er neben dem Bett des schlafenden Mannes auf einen Stuhl legte.

Befriedigt verließ er auf Zehenspitzen den Raum, verschloß die Tür hinter sich und begab sich in die Hotelhalle. Die Maske hatte er mit der Frosterpistole zurückgelassen, für den Fall, daß Ewing-zwei sie benötigen würde.

Er ging zu einem Telefon, wählte den Zentralen Fernsprechdienst und sagte: „Ich möchte eine Mitteilung an den Gelehrten Myreck, Akademie für Abstrakte Wissenschaften, Zustellungsabteilung, Valloin, Zweigstelle 86, senden.“ Es war eine Deckadresse, die Myreck ihm genannt hatte. „Die Mitteilung lautet: Baird Ewing ist von unseren Gegnern verhört und gefoltert worden. Augenblicklich schläft er in seinem Hotelzimmer. Rufen Sie ihn heute nachmittag an.

Diese Nachricht ist Punkt Vierttagmittag zu übermitteln. Ist das klar?“

Er ging durch die Halle zu einem müßigen Terrestrier und fragte „Verzeihung — könnten Sie mir einen Einkredit-Schein wechseln? Ich möchte die Energitronzelle benutzen und habe kein Kleingeld.“

Der Terrestrier gab ihm zwei Halbkreditmünzen; sie wechselten einige höfliche Worte, dann strebte Ewing auf die Zelle zu, befriedigt, daß sich seine Identität eingeprägt hatte. Nach der Explosion würde es Zeugen geben, die aussagten, daß ein schlanker Mann die Zelle betreten hatte.

Er schob eine Münze in den dafür bestimmten Schlitz; der Energievorhang, der den Eingang bildete, färbte sich lange genug hellrosa, daß Ewing hindurchtreten konnte, und kehrte augenblicklich wieder zu seiner schimmernden schwarzen Undurchsichtigkeit zurück. Ewing stand vor einem Strahl warmen roten Lichtes.

Die Energitronzelle stellte lediglich eine Spielart der gewöhnlichen Ionenstrahldusche dar, eine molekulare, zerstäubte „Flüssigkeit“, die dem Reklameschild zufolge den Körper belebte und das Herz erfrischte. Ewing wußte, daß sie zugleich eine wirksame Selbstmordmöglichkeit lieferte. Eine hellerleuchtete Tafel besagte:

VORSICHT!

DER BENUTZER WIRD DAVOR GEWARNT, SICH DEN IN DIE ZELLE EINGELASSENEN GRENZLINIEN ZU NÄHERN ODER SICH AN DEM MECHANISMUS DES ENERGITRONS ZU SCHAFFEN ZU MACHEN. ER KANN IN UNGEÜBTEN HÄNDEN GEFÄHRLICH SEIN.

Ewing lächelte kalt. Mit ruhigen Fingern griff er nach dem plombierten Kontrollkasten; er riß ihn auf und drehte den Rheostaten in seinem Innern scharf nach oben. Der Molekularstrahl veränderte sich; er wurde verschwommener und knatterte.

An den Grenzlinien der Zelle existierte, wie er wußte, eine Gefahrenzone, die von nicht völlig ausgeglichenen Kraftfeldern eingenommen wurde; einen Arm oder ein Bein dazwischenzuhalten, konnte eine heftige Explosion zur Folge haben. Er näherte sich den Grenzlinien und streckte die Hände in die Gefahrenzone.

Ein plötzlicher Gedanke durchzuckte ihn: Was ist aus meinem Retter geworden? Ihn hatte er bei seinen Erwägungen völlig außer Acht gelassen. Ewing dachte einen Augenblick lang über ihn nach; dann blieb ihm keine Zeit mehr, weiter zu überlegen, denn ein blendender Blitz lohte auf, eine donnernde Energiewelle erhob sich aus der Zelle und zermalmte ihn in ihrem mächtigen Griff.

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