15. Kapitel

Sie verbrachten die Rückfahrt zu dem Raumhafen in starrem Schweigen. Er hielt mit einer Hand den schwankenden Stoß auf dem Boden des Taxi fest. Gelegentlich trafen Ewings Augen die seines Doubles und blickten schuldbewußt zur Seite.

Im Raumhafen verlangte Ewing einen Trägerrobot und übergab ihm die entwendeten Pläne, Aufzeichnungen und das Model mit dem Auftrag, sie an Bord des Schiffes zu bringen. Dann sahen sich die beiden Männer an.

Ewing kratzte unbehaglich sein Kinn. „Einer von uns muß an den Abflugschalter gehen und sein Startvorhaben bekanntgeben. Der andere —“

„Ja. Ich weiß.“

Das Dilemma war unlösbar. Die Lichter des Raumhafens flimmerten betäubend. Ewings Kehle war ausgedörrt. Der Augenblick der Entscheidung war gekommen. Aber wie sich entscheiden?

„Gehen wir etwas trinken“, schlug er vor.

Eine Schar Reisender drängte sich im Eingang zum Erfrischungsraum. Ewing bestellte für beide, und sie prosteten sich grimmig zu: „Auf Baird Ewing — wer immer er sein mag.“

Ewing trank, aber das Getränk schmeckte nicht. In diesem Moment schien es, daß der tote Punkt nie überwunden werden würde, daß sie ewig auf der Erde bleiben und zu entscheiden versuchen würden, wer von ihnen mit der Rettung für Corwin zurückkehren und wer bleiben sollte. Einen Augenblick später nahmen die Ereignisse ihnen das Heft aus der Hand.

Die Lautsprecheranlage plärrte „Achtung, Achtung! Bleiben Sie bitte auf Ihren Plätzen!“

Ewing wechselte einen betroffenen Blick mit seinem Doppelgänger. Die Lautsprecherstimme fuhr fort: „Es besteht kein Anlaß zur Beunruhigung. Es wird angenommen, daß ein gefährlicher Verbrecher sich im Raumhafen aufhält. Er könnte bewaffnet sein. Seine Größe beträgt einen Meter fünfundachtzig; er besitzt rötlichbraunes Haar, dunkle Augen und trägt unmoderne Kleidung. Bitte bleiben Sie auf Ihren Plätzen, während Sicherheitsbeamte unter Ihnen herumgehen. Halten Sie Ihre Ausweise zur Überprüfung bereit. Das ist alles.“

Augenblicklich setzte eine allgemeine erregte Unterhaltung ein. Die beiden Ewings drückten sich in ihre Ecke. „Jemand hat uns angezeigt“, flüsterte Ewing. „Myreck vielleicht. Oder der Mann, den du ausgeraubt hast. Wahrscheinlich Myreck.“

„Wer, ist jetzt völlig gleichgültig“, schnappte der andere. „Sie können jeden Augenblick hier sein. Und wenn sie zwei Männer finden, auf die ihre Beschreibung zutrifft —“

Ewing nickte. „Sie werden uns beide einsperren. Und keiner von uns wird Corwin wiedersehen.“

„Angenommen, sie finden nur einen?“ fragte der andere.

„Wie willst du das bewerkstelligen? Es gibt hier keine Möglichkeit, sich zu verbergen.“

„Daran dachte ich nicht. Vorausgesetzt, einer von uns opfert sich freiwillig — vernichtet zuvor seine Papiere und unternimmt dann einen Fluchtversuch — in der Verwirrung könnte der andere sicher nach Corwin starten.“

Ewings Augen verengten sich. Ein ähnlicher Plan hatte sich in seinem Gehirn geformt. „Damit stehen wir wieder vor dem alten Problem.“

„Nein“, widersprach der andere. „Ich gehe freiwillig.“

„Auf keinen Fall“, lehnte Ewing augenblicklich ab. „Wie könnte ich dem jemals zustimmen? Es ist Selbstmord!“ Er schüttelte den Kopf. „Wir haben keine Zeit, uns zu streiten. Es gibt nur einen Weg.“

Er suchte in seiner Tasche und brachte ein schimmerndes Halbkreditstück zum Vorschein. Er studierte es. Auf einer Seite war eine Darstellung der irdischen Sonne mit ihren neun Planeten graviert, auf der anderen eine verschnörkelte 50.

„Ich werfe sie hoch“, sagte er. „Wenn Sonnensystem oben liegt, gehst du, bei Bezifferung ich. Einverstanden?“

Ewing legte die Münze auf seinen Daumenagel und schnippte sie hoch. Mit einer schnellen Bewegung fing er sie aus der Luft und ließ sie auf den linken Handrücken fallen.

Der Nennwert lag oben. Die stilisierte 50 starrte ihn an.

Er lächelte humorlos. „Es sieht so aus, als ob es mich betroffen hat“, meinte er. Er zog seine Papiere aus der Tasche und riß sie in Fetzen. Dann schaute er über den Tisch auf das weiße, verzerrte Gesicht des Mannes, der Baird Ewing werden sollte. „Lebe wohl. Alles Gute. Und küß Laira für mich, wenn du zurückkommst.“

Vier sirische Polizisten betraten die Bar. Einer blieb an der Tür stehen; die anderen drei gingen herum. Ewing erhob sich von seinem Sitz; er vernahm ein geflüstertes „Lebe wohl“ hinter sich. Er war jetzt völlig ruhig. Er hatte das Gefühl, es ginge gar nicht wirklich um seinen Tod.

Eisig schritt er durch die erstarrte Gruppe, die an den Tischen saß. Seine Gestalt war die einzige, die sich außer den drei Polizeibeamten in der Bar bewegte. Sie schienen ihn noch nicht bemerkt zu haben. Er sah nicht zurück.

Die Frostpistole an seiner Hüfte war nur Zentimeter von seiner Hand entfernt. Er riß sie plötzlich hoch und feuerte auf den Polizisten, der neben der Tür stand; der Mann erstarrte und kippte um. Die drei anderen fuhren herum.

„Ich bin der Mann, den ihr sucht“, schrie Ewing. „Wenn ihr mich wollte, holt mich!“

Er drehte sich um und raste aus dem Erfrischungsraum in den Bogengang.

Er hörte fast augenblicklich seine Verfolger hinter sich. Er umklammerte den Froster, ohne jedoch zu schießen. Ein Energieblitz zischte über seinen Kopf und bröckelte ein Stück aus der Wand. Jemand brüllte: „Haltet den Mann! Haltet ihn!“

Fünf Polizisten tauchten am oberen Ende des Ganges auf. Ewing zog den Abzug durch und gefror zwei von ihnen; dann bog er scharf nach links ab, durcheilte eine automatische Tür und betrat das abgesperrte Gebiet des eigentlichen Raumfeldes.

Ein Robot glitt auf ihn zu. „Darf ich Ihren Passierschein sehen, mein Herr? Menschen dürfen diesen Teil des Feldes nicht ohne Passierschein betreten.“

Als Antwort hob Ewing die Waffe und kalzinierte die Nervenstränge des Robots. Er stürzte zu Boden, als seine Gyrokontrolle aussetzte. Ewing preßte sich gegen einen geparkten Tankwagen und deckte die vorrückenden Polizisten mit Frosterstrahlen ein. Die Beamten feuerten vorsichtig; auf dem Feld standen wertvolle Geräte, und sie zogen es in jedem Fall vor, ihren Mann lebendig in die Hände zu bekommen. Ewing wartete, bis der Nächste noch fünfzig Meter entfernt war. Er pumpte tiefe Atemzüge durch seine Lungen; der Sauerstoff ließ sein Herz rasen.

„Holt mich“, schrie er. Er drehte sich um und begann, über das breite Raumfeld zu laufen.

Die Landebühne erstreckte sich über zwei oder drei Meilen; er lief schnell, leichtfüßig, weite Haken schlagend und innehaltend, um auf seine Verfolger zu feuern. Er wollte sie solange in angemessener Entfernung halten, bis — Ja. Jetzt.

Dunkelheit senkte sich über das Feld. Ewing blickte in die Höhe, um die Ursache der plötzlichen Verfinsterung zu erkennen.

Ein ungeheures Schiff hing über ihm, senkte sich wie an Schnüren gezogen herab. Seine Düsen donnerten, strömten flammende Gase aus, während es herunterkam. Ewing lächelte bei dem Anblick.

Es wird schnell gehen, dachte er.

Er vernahm Rufe des Erstaunens von den Beamten. Sie blieben zurück, als das große Schiff auf das Landeareal zu fiel.

Als ob ich in die Sonne fiele. Heiß. Und schnell.

Er erkannte jetzt die Stelle, an der das Schiff landen würde. Er spürte die plötzliche Wärme; er befand sich in der Gefahrenzone. Er lief nach innen; die Luft schien zu kochen. Für Corwin, dachte er. Für Laira und Blade.

„Der Idiot! Er wird getötet werden!“ kreischte jemand wie in weiter Ferne. Strudel flammender Gase schienen über ihm zusammenzuschlagen; er vernahm das donnernde Dröhnen des Schiffes. Dann explodierte Helle um ihn, und Bewußtsein und Schmerz schwanden in einer Mikrosekunde.

Das Schiff setzte auf.


* * *

In dem Zentralgebäude bellte der Lautsprecher: „Achtung, bitte. Der Verbrecher ist entdeckt worden und bedroht die menschliche Gesellschaft nicht mehr. Sie können Ihre normale Tätigkeit wieder aufnehmen. Wir danken Ihnen für Ihre Hilfsbereitschaft und hoffen, daß Sie keine Unannehmlichkeiten gehabt haben.“

Im Erfrischungsraum des Zentralgebäudes starrte Ewing finster die beiden halbgelehrten Gläser auf dem Tisch an — seines und das des Toten. Mit einer brüsken Bewegung goß er sie zusammen und trank sie in vier schnellen Schlucken aus.

Was soll man denken und sagen und tun, fragte er sich, wenn ein Mann sein Leben für einen opfert? Nichts.

Er hatte die Szene durch das Beobachtungsfenster der Bar verfolgt. Und er würde niemals das Bild vergessen, wie ein winziger, menschenförmiger Punkt furchtlos in der hellen Bahn des Raumers stand und plötzlich in einem Flammenmeer verschwand.

Er stand auf. Er verspürte Erschöpfung und Müdigkeit. Seine Mission näherte sich ihrem erfolgreichen Ende, aber er empfand keine Befriedigung darüber. Zu viele hatten ihr Leben hingegeben, um seinen Erfolg möglich zu machen.

Irgendwie fand er den Abflugschalter und zog die Papiere hervor, die der Tote, der er selbst war, ausgefüllt hatte. „Mein Schiff steht in Startareal 11“, erklärte er dem Robot. „Mein Start war ursprünglich auf 17.00 festgesetzt, aber ich hatte um Aufhebung ersucht.“

Er wartete gleichgültig, während der Robot die nötigen Prozeduren durchführte, ihm neue Papiere zum Ausfüllen gab und ihn schließlich zur Startbahn wies, Ein anderer Robot erwartete ihn dort und führte ihn zu dem Schiff.

Er betrat es und blickte sich um. Alles war für den Abflug bereit. Er runzelte die Stirn; der andere Ewing hatte erwähnt, daß er eine Nachricht an Corwin geschickt hatte, vermutlich des Inhalts, er kehre mit leeren Händen zurück. Er aktivierte den subätherischen Generator und strahlte eine neue Mitteilung aus, die besagte, eine neue Entwicklung hätte sich ergeben, die mögliche Rettung verspräche.

Er rief den Zentralturm und ersuchte um Starterlaubnis in zwölf Minuten. Das ließ ihm genügend Zeit. Er schaltete den Autopiloten ein, zog sich aus und stieg in die Nährlösung.

Mit schnellen Fußbewegungen setzte er den Schlafmechanismus in Bewegung. Nadeln bohrten sich in sein Fleisch; die Temperatur begann zu fallen. Ein dünnes Gewebe drang aus den Öffnungen über ihn, wickelte ihn in unzerbrechlichen Schaum ein, der ihn vor dem Andruck schützen würde.

Die Drogen betäubten seine Gedanken. Er empfand ein leises Frösteln, als die Temperatur unter fünfzehn Grad sank. Sie würde sich später, wenn er schlief, noch beträchtlich mehr abkühlen. Er wartete benommen darauf, daß der Schlaf ihn überwältigte.

Er war kaum noch bei Bewußtsein, als der Start erfolgte. Er erfaßte nicht mehr, daß das Schiff die Erde verlassen hatte. Bevor die Beschleunigung endete, schlief er bereits.

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