3. Kapitel

Er wirkte schmal, empfindlich, zerbrechlich. Ewing hatte das Gefühl, daß ein kräftiger Windstoß ihn umwerfen würde. Er maß nicht mehr als anderthalb Meter, blaß, mit wächserner Haut, großen olivfarbenen Augen und dünnen Lippen. Sein Schädel war nackt und glänzte schwach. In regelmäßigen Abständen waren edelsteinbesetzte Ringe auf chirurgischem Wege an seiner Haut befestigt; sie tanzten, wenn er sich bewegte.

„Ich hoffe, ich störe Sie nicht“, flüsterte er zögernd.

„Nein. Keineswegs. Wollen Sie nicht Platz nehmen?“

„Ich würde es vorziehen, zu stehen“, entgegnete der Irdische. „Es entspricht unserer Gewohnheit.“

Der Irdische lächelte schüchtern. „Ich bin Gelehrter Myreck“, begann er endlich. „Und Sie sind Baird Ewing — von der Kolonialwelt Corwin.“

„Das stimmt.“

„Ich hatte das große Glück, Sie heute im Zentralgebäude des Raumhafens kennenzulernen. Anscheinend rief ich einen schlechten Eindruck hervor — den der Leichtfertigkeit vielleicht, oder gar den der Verantwortungslosigkeit. Dafür möchte ich Sie um Verzeihung bitten, Kolonist Ewing. Ich würde schon dort Gelegenheit dazu gehabt haben, hätte nicht dieser sirische Affe so schnell Ihre Aufmerksamkeit auf sich gelenkt.“

„Im Gegenteil, Gelehrter Myreck, Ihre Entschuldigung ist unnötig. Ich beurteile keinen Menschen auf den ersten Blick — besonders nicht auf einer Welt, deren Bräuche und Lebensweise mir fremd sind.“

„Eine vortreffliche Anschauung.“ Trauer überflog für einen Augenblick Myrecks sanfte Züge. „Aber Sie wirken angespannt, Kolonist Ewing. Würden Sie mir das Privileg gewähren, Sie zu lockern?“

„Mich zu lockern?“

„Geringe neurale Adjustierungen, eine Technik, die wir hier mit einigem Geschick praktizieren. Darf ich?“

Zweifelnd erkundigte sich Ewing: „Aber was ist dazu erforderlich?“

„Ein momentaner physischer Kontakt, nicht mehr.“ Myreck lächelte flehentlich. „Es schmerzt mich, einen Menschen so angespannt zu sehen. Es verursacht mir tatsächliche physische Pein.“

„Sie haben meine Neugier erregt“, meinte Ewing. „Lockern Sie mich.“

Myreck glitt vorwärts und legte seine Hände sacht um Ewings Nacken.

Seine dünnen Finger gruben sich plötzlich ein und preßten scharf gegen Ewings Schädelbasis. Ewing empfand einen abrupten Lichtblitz und ein zuckendes Zerreißen seiner Sinneswahrnehmungen. Dann fühlte er, wie die Spannung von ihm wich. Seine Muskeln gaben so plötzlich nach, daß er glaubte, Schultern und Rücken wären ihm entfernt worden. Die chronische Steifheit seines Nackens löste sich. Die Anspannung, die ein Jahr der Stasis in ihm verursacht hatte, wich plötzlich.

„Das ist wahrhaftig ein Kunstgriff“, brachte er schließlich hervor..

„Wir beeinflussen den Gangliennexus an dem Punkt, an dem Gehirn und Rückenmark ineinander übergehen. In den Händen des Unkundigen kann die Behandlung tödlich sein.“ Myreck lächelte.

Ewing wechselte das Thema. „Darf ich eine persönliche Frage stellen?“

„Natürlich.“

„Die Kleidung, die Sie tragen — der Schmuck —, ist diese Mode auf der Erde weitverbreitet oder handelt es sich dabei lediglich um eine — Liebhaberei von Ihrer Seite?“

Myreck schob seine wächsernen Finger gedankenvoll ineinander. „Es sind, sagen wir einmal, kulturelle Manifestationen. Menschen meiner Art und Neigung kleiden sich so; andere wieder unterschiedlich, wie es ihnen einfällt. Ich gehöre einer Akademie an.“

„Gelehrter ist also Ihr Titel?“

„Ja. Und zugleich mein gegebener Name. Ich bin Mitglied der Akademie für Abstrakte Wissenschaften der Stadt Valoin.“

„Ich muß meine Unwissenheit bekennen“, bemerkte Ewing. „Ich habe noch nie von Ihrer Akademie gehört.“

„Verständlich. Wir drängen uns nicht in das Licht der Öffentlichkeit.“ Myreck blickte einen Moment lang Ewing in die Augen. „Nun zur Sache, Kolonist Ewing. Wären Sie bereit, Anfang nächster Woche vor einer Versammlung der Akademie für Abstrakte Wissenschaften zu sprechen?“

„Ich? Ich bin kein Akademiker. Ich wüßte nicht, was ich sagen sollte.“

„Im Gegenteil. Wir halten Sie für besonders befähigt dazu. Die Sitzung wird zwanglos sein. Sie brauchen sich in keiner Weise vorzubereiten.“

„Und darf ich fragen, weshalb Sie glauben, ich würde einen guten Redner abgeben?“

„Sie kommen aus einer Kolonie, über die keiner von uns etwas weiß. Sie besitzen einen unschätzbaren Reichtum an Erfahrungen und Informationen. Ihre Anwesenheit bei unserer Zusammenkunft würde uns eine hohe Ehre sein.“

„Ich bin fremd in der Stadt“, wandte Ewing ein. „Ich wüßte nicht, wie ich zu Ihnen gelangen sollte.“

„Wir werden Ihre Beförderung regeln. Die Versammlung findet am Viertabend nächster Woche statt. Werden Sie kommen?“

Ewing erwog das Angebot einen Augenblick lang. Es bot eine gute Gelegenheit, mit einem Studium der terrestrischen Kultur aus nächster Nähe zu beginnen.

Er sah auf. „Gut. Viertabend nächster Woche also.“

„Wir sind Ihnen zu großem Dank verpflichtet, Kolonist Ewing.“

Myreck verbeugte sich. Die juwelenbesetzten Verzierungen, die an seiner Haut befestigt waren, baumelten hin und her und schlugen gegen seinen kahlen Schädel, als er sich aufrichtete. Er ging rückwärts zur Tür, lächelnd und nickend, und verhielt, bevor er den Öffnungsknopf aufdrückte. „Alles Gute“, sagte er. „Unsere tiefste Dankbarkeit ist Ihnen gewiß. Wir erwarten Sie am Viertabend.“

Die Tür glitt hinter ihm zu.

Ewing zuckte die Achseln; dann erinnerte er sich an die Spulen, die er aus der Hotelbibliothek angefordert hatte, und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Betrachter zu.

Er las flüchtig fast eine Stunde lang. Sein Gehirn ordnete den Stoff so schnell ein, wie seine Augen ihn erfaßten. Nach Ablauf der Stunde besaß er ein mehr als ungefähres Bild der terrestrischen Geschichte während der dreizehnhundert Jahre seit dem ersten erfolgreichen interstellaren Flug.

Zweiundsechzig mutige Männer und Frauen hatten auf Sirius im Jahre 2573 die erste Kolonie errichtet. Die anderen waren schnell gefolgt. In Scharen sandte die übervölkerte Erde ihre Söhne und Töchter zu den Sternen. Die Annalen der zweiten Hälfte des dritten Jahrtausends führten Kolonie um Kolonie auf.

Bei Anbruch des dreißigsten Jahrhunderts, besagte das Werk, war menschliches Leben auf mehr als tausend Welten des Universums verpflanzt worden.

Der große Drang nach außen ebbte ab. Auf der Erde hatte die längst überfällige Einführung der Geburtenkontrolle die Drohung der Übervölkerung beseitigt, und mit ihr starb ein Teil des Impulses, der zur Kolonisierung getrieben hatte. Die Einwohnerzahl der Erde stabilisierte sich bei fünfeinhalb Milliarden; drei Jahrhunderte zuvor hatten sich nahezu elf Milliarden auf dem überfüllten kleinen Planeten gedrängt.

Mit der bevölkerungsmäßigen setzte auch die kulturelle Stabilisierung und das Ende der Pionierpersönlichkeit ein. Die Entwicklung eines neuen Erdenmenschentyps begann, dem die Energie und der brennende Ehrgeiz seiner Ahnen fehlten. Die auf der Erde Zurückgebliebenen schufen eine Kultur der Ästheten, der Denker, der Musiker und Mathematiker.

Die Geschichte des vierten Jahrtausends ließ sich voraussagen. Die Robotkultur der Erde wurde selbstgenügsam. Man glich Geburten und Sterbeziffern sorgfältig aus. Auf die Stabilität folgte Isolierung. Die Kolonien benötigten ihre veränderte Mutterwelt nicht mehr, noch die Erde sie. Die Kontakte ließen nach.

Im Jahre 3800, besagte der Text, unterhielt nur noch Sirius IV regelmäßige Beziehungen zur Erde. Die Vertreter der tausend anderen Kolonien waren so gering an Zahl, daß sie faktisch nicht existierten.

Nur Sirius IV, dachte Ewing. Es schien seltsam, daß ausgerechnet dieses rauhe Volk die Mutterwelt nicht vergaß.

Je weiter er las, desto mehr schwand die Überzeugung, daß er Hilfe für Corwin finden würde. Er las in den Nachmittag hinein, bis er Hunger verspürte. Aufstehend, schaltete er den Betrachter aus, rollte die Spulen auf und schob sie in ihre Behälter zurück. Seine Augen schmerzten. Etwas von der physischen Erschöpfung, die Myreck von ihm genommen hatte, begann sich in seinen Körper zurückzustehlen.

Dem gedruckten Auskunftsblatt zufolge, das auf der Innenseite in die Tür eingelassen war, lag im dreiundsechzigsten Stockwerk des Hotels ein Restaurant. Er schlüpfte aus seinen Kleidern, trat in das Bad und schaltete die Dusche ein. Der Strom ionisierter Teilchen sprühte als violetter Dunst von der gekachelten Decke herunter.

Der Ionenschwall übte eine beruhigende Wirkung aus. Ewing wartete, während er die Schmutzschicht von seiner Haut schälte. Er musterte sich in dem mannshohen Spiegel, nickte und kehrte in den Schlafraum zurück.

Dort zog er sich formell an, wobei er seinen zweitbesten Tressenrock wählte. Er überprüfte die Kammern seines Blasters, fand, daß sie sämtliche funktionierten, und schnallte sich die Waffe um. Befriedigt griff er nach dem Haustelephon, und als die Robotvermittlung sich meldete, sagte er: „Ich möchte jetzt essen. Würdest du das Speisezimmer des Hotels benachrichtigen, mir einen Einzeltisch zu reservieren?“

„Selbstverständlich, Mr. Ewing.“

Er unterbrach die Verbindung und vergewisserte sich, daß seine Brieftasche an ihrem Platz steckte. Er hatte einen beträchtlichen Vorrat an Platinbarren von Corwin mitgebracht, da nach dem letzten Bericht Platin auf der Erde als kostbares Metall galt. Die terrestrische Wirtschaft hatte sich offensichtlich in fünfhundert Jahren nicht wesentlich verändert; er hatte das Platin mit Leichtigkeit und zu einem guten Preis im Hotelbüro umtauschen können. Jetzt barg seine Brieftasche eine große Summe terrestrischen Papiergeldes.

Er öffnete die Tür. Unmittelbar davor war ein undurchsichtiger Plastikbehälter angebracht, der dazu diente, Nachrichten zu deponieren. Das rote Licht darüber glühte und wies auf das Vorhandensein einer Mitteilung hin.

Er drückte den Daumen auf die Identiplatte, hob das Oberteil des Kastens ab und zog den Zettel heraus. Er war sauber in blauen Großbuchstaben getippt. Er lautete:

KOLONIST EWING —

WENN SIE BEI GESUNDHEIT BLEIBEN WOLLEN, HALTEN SIE SICH VON MYRECK UND SEINEN FREUNDEN FERN.

Er trug keine Unterschrift. Ewing lächelte kalt; das Ränkespiel setzte bereits ein. Er hatte es erwartet. Die Ankunft eines fremden Kolonisten auf der Erde stellte ein ungewöhnliches Ereignis dar; sie mußte notwendigerweise ihre Rückwirkung zeitigen, sobald seine Anwesenheit weiteren Kreisen bekannt wurde.

„Öffne“, sagte er kurz zu seiner Tür.

Die Tür glitt zurück. Er betrat erneut sein Zimmer und griff nach dem Haustelephon.

Der Bürorobot fragte: „Wie können wir Ihnen dienen, Mr. Ewing?“

„Irgendwo in meinem Raum scheint ein Spionstrahl verborgen zu sein“, erklärte Ewing. „Schicke jemand hoch und lasse das Zimmer überprüfen.“

„Ich versichere Ihnen, mein Herr, daß nichts Derartiges in diesem Hotel möglich ist.“

„Ich sage dir, daß sich in meinem Raum eine versteckte Kamera oder ein Mikrophon befindet. Entweder es wird gefunden, oder ich quartiere mich in einem anderen Hotel ein.“

„Ja, Mr. Ewing. Wir werden unverzüglich jemand zur Untersuchung hinaufsenden.“

„Gut. Ich gehe jetzt in den Speiseraum. Sollte sich irgend etwas ereignen, bin ich dort zu finden.“

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