Was ist das?«, fragte Perrin und versuchte den scharfen Geruch von verfaultem Fleisch zu ignorieren. Es waren keine Leichen zu sehen, aber seiner Nase nach zu urteilen, hätte der Boden mit ihnen übersät sein müssen.
Umgeben von der Vorhut, stand er neben der Jehannahstraße und schaute über eine hügelige Ebene mit wenigen Bäumen nach Norden. Wie an anderen Orten war das Gras braun und gelb, aber weiter von der Straße entfernt wuchs es dunkler wie von einer Krankheit befallen.
»Ich habe so etwas schon zuvor gesehen«, sagte Seonid. Die winzige hellhäutige Aes Sedai stand am Straßenrand und drehte das Blatt eines kleinen Busches in den Fingern. Ihr grünes Wollkleid war teuer, aber schlicht, ihr einziger Schmuck ihr Großer Schlangenring.
Leiser Donner grollte am Himmel. Hinter Seonid standen sechs Weise Frauen mit verschränkten Armen und unleserlichen Mienen. Perrin hatte gar nicht erst versucht, den Weisen Frauen – oder ihren beiden Aes Sedai-Lehrlingen – zu befehlen zurückzubleiben. Vermutlich hatte er Glück, dass er sie begleiten durfte.
»Ja«, sagte Nevarin, ging mit klappernden Armreifen in die Hocke und nahm Seonid das Blatt ab. »Ich habe als Mädchen die Große Fäule besucht; mein Vater hielt es für wichtig, dass ich sie sehe. Das sieht genauso aus wie dort.«
Perrin war nur einmal in der Fäule gewesen, aber diese dunklen Flecken waren unverwechselbar. Ein Rotkehlchen landete flatternd auf einem der fernen Bäume und fing an, an Zweigen und Blättern zu picken, fand aber nichts Lohnendes und flatterte wieder los.
Beunruhigend war, dass die Pflanzen hier besser aussahen als viele von denen, die sie unterwegs gesehen hatten. Fleckig, aber lebendig; sie schienen sogar zu gedeihen.
Beim Licht, dachte Perrin und nahm das Blatt entgegen, als Nevarin es ihm reichte. Es roch nach Verfall. Was für eine Welt soll das sein, wo die Fäule die gute Alternative ist?
»Mori hat die ganze Fläche umrundet«, sagte Nevarin und nickte einer Tochter zu, die in der Nähe stand. »Beim Zentrum wird alles dunkler. Sie konnte nicht erkennen, was dort ist.«
Perrin trieb Steher von der Straße. Faile folgte ihm; sie roch kein bisschen ängstlich, obwohl die Waffenmänner von den Zwei Flüssen zögerten.
»Lord Perrin?«, rief Will.
»Vermutlich ist es nicht gefährlich«, sagte Perrin. »Tiere gehen rein und raus.« Die Fäule war gefährlich wegen dem, was dort lebte. Und falls diese Bestien irgendwie nach Süden vorgedrungen waren, dann mussten sie das wissen. Die Aiel folgten ihm kommentarlos. Und da sich Faile ihm angeschlossen hatte, hatte Berelain natürlich ihrem Beispiel nacheifern müssen mit Annoura und Gallenne im Gefolge. Wenigstens hatte Alliandre sich einverstanden erklärt, in Perrins Abwesenheit zurückzubleiben und den Befehl über das Lager und die Flüchtlinge zu übernehmen.
Die Pferde waren bereits unruhig, und die Umgebung stimmte sie keineswegs friedlicher. Perrin atmete durch den Mund, um den Gestank nach Fäulnis und Tod abzuschwächen. Der Boden hier war auch feucht – wären doch bloß diese Wolken verschwunden, damit gutes Sonnenlicht den Untergrund trocknen konnte -, und die Pferde fanden keinen guten Halt, was sie langsam machte. Der größte Teil der Wiese war mit Gras, Kleeblatt und Unkraut bewachsen, und je weiter sie ritten, umso auffälliger wurden die dunklen Flecken. Nach einigen Minuten waren viele der Pflanzen eher braun als grün und gelb.
Schließlich kamen sie zu einem kleinen Tal, das sich an drei Hügel schmiegte. Perrin zügelte Steher, die anderen scharten sich um ihn. Hier erhob sich ein seltsames Dorf. Die Gebäude waren Hütten, die man aus einem merkwürdigen Holz erbaut hatte, das an große Schilfpflanzen erinnerte, und die Dächer bestanden ebenfalls aus Pflanzen – aber es handelte sich nicht um Stroh, sondern um gewaltige Blätter von der Breite von zwei Männerhänden.
Nichts Grünes wuchs hier, der Boden war sandig. Perrin glitt aus dem Sattel und bückte sich, um ihn zu befühlen, rieb das körnige Material zwischen den Fingern. Er sah die anderen an. Sie rochen nach Verwirrung.
Vorsichtig führte er Steher zur Dorfmitte. Die Fäulnis war von diesem Punkt ausgestrahlt, aber das Dorf selbst zeigte keine Spuren davon. Töchter verteilten sich verschleiert, Sulin an der Spitze. Sie führten eine schnelle Inspektion der Hütten durch und signalisierten einander mit schnellen Gesten, dann kehrten sie zurück.
»Niemand?«, fragte Faile.
»Nein«, antwortete Sulin und senkte vorsichtig den Schleier. »Der Ort ist verlassen.«
»Wer würde so ein Dorf bauen?«, fragte Perrin. »Und das ausgerechnet in Ghealdan?«
»Es wurde nicht hier gebaut«, sagte Masuri.
Perrin wandte sich der schlanken Aes Sedai zu.
»Dieses Dorf gehört nicht in diese Gegend«, sagte Masuri. »Solches Holz habe ich noch nie gesehen.«
»Das Muster stöhnt«, sagte Berelain leise. »Die wandelnden Toten, die seltsamen Todesfälle. In den Städten verschwinden Zimmer und verdirbt Nahrung.«
Perrin kratzte sich am Kinn und erinnerte sich an einen Tag, an dem seine Axt versucht hatte, ihn umzubringen. Wenn ganze Dörfer verschwanden und an anderen Orten wieder auftauchten, wenn die Fäule aus den Säumen wucherte, an denen sich das Muster auflöste … Beim Licht! Wie schlimm wurden die Dinge denn noch?
»Brennt das Dorf nieder«, befahl er. »Benutzt die Eine Macht. Vernichtet möglichst viele von den verseuchten Pflanzen. Vielleicht können wir verhindern, dass es sich ausbreitet. Wir bringen das Heer zu diesem Lager eine Stunde von hier und werden morgen dort bleiben, wenn ihr mehr Zeit braucht.«
Und ausnahmsweise hatten weder die Weisen Frauen noch die Aes Sedai etwas an dem direkten Befehl auszusetzen.
Jag mit uns, Bruder.
Perrin fand sich im Wolfstraum wieder. Undeutlich erinnerte er sich daran, müde beim schwindenden Licht einer offenen Lampe gesessen zu haben, deren einzelne Flamme flackerte, um darauf zu warten, dass die, die sich um das seltsame Dorf kümmern sollten, Bericht erstatteten. Er hatte in einer Ausgabe von Die Reisen des Jain Fernstreicher gelesen, die Gaul in Maiden gefunden hatte.
Jetzt lag er in der Mitte eines großen Feldes, dessen Gras bis Taillenhöhe wucherte. Er schaute auf; Gras strich gegen seine Wangen und Arme, als es im Wind erbebte. Am Himmel braute sich derselbe Sturm wie in der wachenden Welt zusammen. Hier war er gewalttätiger.
Als er in die Höhe starrte – sein Blickfeld wurde von braunen und grünen Grasstängeln und wilder Hirse eingeschränkt -, vermochte er beinahe zu spüren, wie der Sturm näher kam. Als würde er aus dem Himmel kriechen, um ihn einzuhüllen.
Junger Bulle! Komm! Komm jagen!
Es war die Stimme einer Wölfin. Instinktiv erkannte Perrin sie als Eichentänzerin; den Namen hatte sie dank der Weise, wie sie als Welpe zwischen Schösslingen herumgetollt war. Da waren noch andere. Flüsterer. Morgenlicht. Funken. Grenzenlos. Ein gutes Dutzend Wölfe rief nach ihm, zum Teil lebende Wölfe, die träumten, aber auch die Geister von Wölfen, die gestorben waren.
Sie riefen ihn mit einer Mischung aus Gerüchen, Bildern und Lauten. Der Geruch eines springenden Bocks, dessen Hufe Spuren in die Erde stanzten. Abgefallene Blätter, die unter rennenden Wölf en zerbröckelten. Das Knurren des Sieges, die Aufregung des gemeinsam daherjagenden Rudels.
Die Einladung weckte etwas tief in seinem Inneren, den Wolf, den er versucht hatte wegzusperren. Aber man konnte einen Wolf nicht lange einsperren. Entweder er entkam oder er starb; Gefangenschaft würde er nicht ertragen. Er sehnte sich danach aufzuspringen und sein freudiges Einverständnis kundzutun, sich im Rudel zu verlieren. Er war Junger Bulle, und er war hier willkommen.
»Nein!«, sagte Perrin, setzte sich auf und hielt sich den Kopf. »Ich werde mich nicht in euch verlieren.«
Zu seiner Rechten saß Springer im Gras. Der große graue Wolf betrachtete ihn; seine goldenen Augen blinzelten nicht und reflektierten Blitze aus der Höhe. Das Gras reichte bis zu Springers Hals.
Perrin nahm die Hand herunter. Die Luft war schwer, voller Feuchtigkeit, und sie roch nach Regen. Über dem Geruch des Wetters und dem des trockenen Feldes konnte er Springers Geduld riechen.
Junger Bulle, du bist eingeladen, sagte Springer.
»Ich kann nicht mit dir jagen«, erklärte Perrin. »Springer, wir haben doch darüber gesprochen. Ich verliere mich. Wenn ich in die Schlacht ziehe, werde ich wütend. Wie ein Wolf!«
Wie ein Wolf? Junger Bulle, du bist ein Wolf. Und ein Mann. Komm jagen.
»Ich kann nicht, das sagte ich dir doch! Ich lasse nicht zu, dass mich das verschlingt.« Er dachte an einen jungen Mann mit goldenen Augen, der in einen Käfig gesperrt war und sämtliche Menschlichkeit verloren hatte. Sein Name war Noam gewesen – Perrin hatte ihn in einem Dorf namens Jarra gesehen.
Beim Licht, dachte er. Das ist nicht weit von hier. Oder zumindest nicht weit von der Stelle, an der sein Körper in der realen Welt schlummerte. Jarra war in Ghealdan. Ein seltsamer Zufall.
Mit einem Ta’veren in der Nähe gibt es keine Zufälle.
Er runzelte die Stirn, stand auf und betrachtete die Landschaft. Moiraine hatte ihm gesagt, dass in Noam nichts Menschliches mehr übrig geblieben war. Das erwartete einen Wolfsbruder, wenn er sich völlig von dem Wolf verschlingen ließ.
»Ich muss lernen, das zu kontrollieren, oder ich muss den Wolf aus mir verbannen«, sagte Perrin. »Für einen Kompromiss ist keine Zeit mehr übrig, Springer.«
Springer roch unzufrieden. Er mochte nicht, was er als die menschliche Neigung bezeichnete, Dinge kontrollieren zu wollen.
Komm. Springer stand auf. jagen. »Ich…«
Komm lernen, übermittelte Springer frustriert. Die Letzte Jagd naht.
Springers Botschaft beinhaltete das Bild eines jungen Welpen, der seine erste Beute erlegte. Das und Sorgen wegen der Zukunft – normalerweise keine wölfische Eigenschaft. Die Letzte Jagd brachte Veränderungen mit sich.
Perrin zögerte. Bei einem vergangenen Besuch des Wolfstraums hatte er von Springer verlangt, ihm zu zeigen, wie man den Ort beherrschte. Ausgesprochen unangebracht für einen jungen Wolf – eine Art Herausforderung der Überlegenheit des Älteren -, aber das war eine Erwiderung darauf. Springer war gekommen, um zu lehren, aber er würde es wie ein Wolf tun.
»Es tut mir leid«, sagte Perrin. »Ich jage mit dir – aber ich darf mich nicht verlieren.«
Diese Dinge, die du da denkst, übermittelte Springer ärgerlich. Wie kannst du diese Bilder voller Leere schicken? Die Erwiderung wurde von Bildern der Leere begleitet – ein leerer Himmel, ein leeres Feld. Du bist junger Bulle. Du wirst immer Junger Bulle sein. Wie kannst du junger Bulle verlieren? Schau herunter, und du wirst seine Pfoten sehen. Beiß zu, und seine Zähne werden töten. Das kann man nicht verlieren.
»Das ist eine Menschensache.«
Immer wieder die gleichen leeren Worte.
Perrin holte tief Luft, atmete die zu feuchte Luft wieder aus. »Also gut.« In seinen Händen erschienen Hammer und Messer. »Lass uns gehen.«
Du jagst Wild mit deinen Hufen? Das Bild eines Stiers, der seine Hörner ignorierte und versuchte, auf den Rücken eines Hirschs zu springen und ihn in den Boden zu trampeln.
»Du hast recht.« Plötzlich hielt Perrin einen guten Langbogen aus den Zwei Flüssen. Er war kein so guter Schütze wie Jondyn Barran oder Rand, aber schlecht war er auch nicht.
Springer schickte einen Stier, der einen Hirsch anspuckte. Perrin knurrte und antwortete mit Wolfskrallen, die sich aus einer Pfote schoben und einen Hirsch aus der Ferne trafen, aber das schien Springer nur noch mehr zu amüsieren. Trotz seines Unmuts musste Perrin zugeben, dass es wirklich ein lächerliches Bild war.
Der Wolf leitete das Bild an die anderen weiter, was sie belustigt heulen ließ, obwohl die meisten von ihnen den Stier zu bevorzugen schienen, der auf dem Hirsch herumsprang. Perrin knurrte und jagte hinter Springer auf den Wald zu, wo die anderen Wölfe warteten.
Als er lief, schien das Gras immer dichter zu werden. Es hielt ihn zurück wie dichtes Unterholz. Bald war ihm Springer weit voraus.
Lauf, Junger Bulle!
Ich versuche es ja.
Nicht so wie früher!
Perrin schob sich weiter durch das Gras. Dieser seltsame Ort, diese wunderbare Welt, in der die Wölfe liefen, konnte berauschend sein. Und gefährlich. Davor hatte Springer ihn mehr als nur einmal gewarnt.
Gefahren für morgen. Ignoriere sie, übermittelte Springer und wurde leiser. Sorgen sind ein Ding der Zweibeiner.
Ich kann meine Probleme nicht ignorieren!, antwortete Perrin.
Und doch tust du das oft.
Das stimmte in der Tat – vielleicht sogar mehr, als der Wolf wusste. Perrin brach aus dem Gras auf eine Lichtung heraus und blieb stehen. Auf dem Boden lagen die drei Eisenstücke, die er in seinem früheren Traum geschmiedet hatte. Der große Klumpen von der Größe zweier Fäuste, die flach gedrückte Stange, das flache Rechteck. Das Rechteck glühte schwach gelbrot und versengte das kurze Gras in seiner Umgebung.
Die Klumpen verschwanden, allerdings hinterließ das glühende Rechteck eine verbrannte Stelle. Perrin schaute auf, suchte nach den Wölfen. Am Himmel über den Bäumen öffnete sich ein großes schwarzes Loch. Er vermochte nicht zu sagen, wie weit es genau entfernt war, und es schien alles in seinem Sichtfeld zu dominieren, während es zugleich fern erschien.
Mat stand dort. Er kämpfte gegen sich selbst, gegen ein Dutzend Männer, die alle sein Gesicht hatten und die unterschiedlichsten Arten kostbarer Kleidung trugen. Mat wirbelte seinen Speer und bemerkte die Schattengestalt nicht, die sich mit einem blutigen Messer in der Hand von hinten an ihn heranschlich.
»Mat!«, rief Perrin, obwohl er wusste, dass das sinnlos war. Was er da sah, war eine Art Traum oder Vision der Zukunft. Es war schon einige Zeit her, dass er so etwas das letzte Mal gesehen hatte. Er hatte fast schon geglaubt, dass es nicht mehr passieren würde.
Er wandte sich ab, und eine andere Finsternis öffnete sich am Himmel. Plötzlich sah er Schafe, die auf den Wald zurannten. Wölfe verfolgten sie, und im Wald wartete eine schreckliche Bestie ungesehen. Perrin spürte, dass er sich ebenfalls in diesem Traum befand. Aber wen jagte er, und warum? Etwas an diesen Wölfen erschien falsch.
Eine dritte Finsternis an der Seite. Faile, Grady, Elyas, Gaul… sie alle gingen auf eine Klippe zu, gefolgt von Tausenden.
Die Vision erlosch. Plötzlich schoss Springer durch die Luft, landete neben Perrin und kam rutschend zum Stehen. Der Wolf hatte die Löcher nicht gesehen; seinen Augen waren sie nicht erschienen. Stattdessen betrachtete er die verbrannte Stelle voller Unmut und übermittelte ein Bild von einem ungekämmten Perrin, dessen Bart und Haar ungeschnitten und dessen Kleidung verwahrlost war. Perrin erinnerte sich an die Zeit; das war am Anfang von Failes Gefangenschaft gewesen.
Hatte er wirklich so schlimm ausgesehen? Beim Licht, er erschien zerlumpt. Beinahe wie ein Bettler. Oder wie… Noam.
»Hör auf, mich verwirren zu wollen!«, sagte er. »Ich wurde so, weil ich Faile mit allen Mitteln finden wollte, und nicht, weil ich den Wölfen nachgab!«
Für den jüngsten Welpen sind immer die Ältesten des Rudels schuld. Springer hüpfte wieder ins Gras.
Was sollte das denn bedeuten? Die Gerüche und Bilder verwirrten ihn. Knurrend rannte Perrin los, verließ die Lichtung und tauchte ins Gras ein. Wieder setzten ihm die Stängel Widerstand entgegen. Es war wie der Kampf gegen eine Strömung. Springer lief voraus.
»Verflucht, warte auf mich!«, rief Perrin.
Wenn wir warten, verlieren wir die Beute. Lauf, junger Bulle!
Perrin biss die Zähne zusammen. Springer war nur noch ein Punkt in der Ferne, fast schon am Waldrand. Perrin wollte über diese Visionen nachdenken, aber dazu war keine Zeit. Wenn er Springer verlor, würde er ihn in dieser Nacht nicht wiedersehen, das wusste er. Also gut, dachte er resigniert.
Unter ihm bäumte sich das Land auf, das Gras raste blitzschnell an ihm vorbei. Es war, als hätte er mit einem Schritt hundert Schritte gemacht. Er tat den nächsten Schritt, schoss vorwärts. Hinterließ einen verschwommenen Schemen.
Das Gras teilte sich für ihn. Der Wind pfiff ihm mit einem angenehmen Brausen ins Gesicht. In seinem Inneren erwachte der urtümliche Wolf. Perrin erreichte den Wald und wurde langsamer. Jeder Schritt brachte ihn jetzt nur noch zehn Fuß weit. Die anderen Wölfe waren da, und sie gesellten sich zu ihm und rannten aufgeregt an seiner Seite.
Auf zwei Füßen, junger Bulle?, fragte Eichentänzerin. Der Pelz des jungen Weibchens war so hell, dass er fast schon weiß war, mit schwarzen Streifen auf der rechten Seite.
Er antwortete nicht, obwohl er sich erlaubte, mit ihnen zusammen in den Wald zu laufen. Was ursprünglich als kleiner Hain erschienen war, war zu einem weitläufigen Forst geworden. Perrin eilte an Baumstämmen und Farnen vorbei, fühlte kaum den Boden unter seinen Füßen.
So lief man richtig. Voller Kraft. Energisch. Er sprang über umgestürzte Baumstämme, die Sprünge trugen ihn so hoch in die Luft, dass er um ein Haar die Unterseite der Äste berührte. Geschmeidig landete er. Der Wald gehörte ihm. Er gehörte zu ihm, und das begriff er.
Seine Sorgen schmolzen dahin. Er ließ zu, die Dinge zu akzeptieren, wie sie waren, und nicht so, wie er befürchtete, dass sie sich entwickelten. Die Wölfe waren seine Brüder und Schwestern. Ein laufender Wolf in der realen Welt stellte ein Meisterwerk aus Gleichgewicht und Kontrolle dar. Hier, wo sich die Regeln der Natur ihrem Willen unterwarfen, waren sie so viel mehr. Wölfe sprangen hoch und stießen sich von den Bäumen ab, nichts fesselte sie an den Boden. Einige schnellten sogar zu den Ästen hinauf und schwebten von Ast zu Ast.
Es war aufregend. Hatte er sich jemals so lebendig gefühlt? So sehr ein Teil der ihn umgebenden Welt, und doch zugleich so sehr ihr Herr und Meister? Der majestätische Zwerglorbeer war mit Eibe und gelegentlich mit Fieberstrauch in voller Blüte durchsetzt. Perrin schnellte in die Luft, als er einen davon passierte, der Luftzug seiner Bewegung ließ einen Sturm blutroter Blüten von den Zweigen regnen. Gefangen vom Luftstrom fluteten sie um ihn herum, wiegten ihn in ihrem süßen Duft.
Die Wölfe fingen an zu heulen. Für Menschen klang ein Heulen wie das andere. Für Perrin war jedes anders. Dieses Heulen verkündete Freude, der Anfang einer Jagd.
Wartet. Das ist es, was ich fürchtete! Ich darf mich nicht davon gefangen nehmen lassen. Ich bin ein Mensch, kein Wolf.
Aber genau in diesem Augenblick roch er den Hirschbock. Ein mächtiges Tier, eine würdige Beute. Erst kürzlich war er hier vorbeigekommen.
Perrin versuchte sich zu zügeln, aber die Vorfreude erwies sich als zu stark. Er jagte den Wildpfad entlang, der Fährte hinterher. Die Wölfe, Springer eingeschlossen, liefen ihm nicht voraus. Sie liefen mit ihm, und sie rochen erfreut, als sie ihn die Führung übernehmen ließen.
Er war der Herold, die Angriffsspitze. Die Jagd donnerte hinter ihm her. Es war, als würde er die sich an der Küste brechenden Wellen des Ozeans selbst anführen. Aber er hielt sie auch zurück.
Ich kann sie nicht für mich zurückhalten, dachte Perrin.
Und dann war er auf allen vieren, den Bogen zur Seite geworfen und vergessen, Hände und Füße in Pfoten verwandelt. Die hinter ihm heulten angesichts dieses glorreichen Augenblicks erneut ihre Anerkennung heraus. Junger Bulle hatte sich ihnen nun wahrhaftig angeschlossen.
Der Hirschbock war voraus. Junger Bulle erspähte ihn zwischen den Bäumen; er hatte schneeweißes Fell und ein Geweih mit mindestens sechsundzwanzig Enden; der Winterfilz war abgeschabt. Und er war gewaltig, größer als ein Pferd. Der Hirsch drehte sich um, musterte das Rudel scharf. Ihre Blicke kreuzten sich, und Perrin witterte seine Beunruhigung.
Junger Bulle heulte seine Herausforderung heraus und raste durch das Unterholz. Der große weiße Hirschbock rannte los, jeder Sprung brachte ihn zwanzig Schritte weiter. Er traf nie einen Ast oder verlor den Halt, obwohl der trügerische Waldboden mit rutschigem Moos überwuchert war.
Junger Bulle folgte ihm überlegt, platzierte seine Pfoten, wo erst Augenblicke zuvor Hufe gelandet waren, hielt mit jedem Schritt genau mit. Er hörte den Hirsch keuchen, sah den Schweiß auf seinem Fell, roch seine Furcht.
Nein, auf keinen Fall. Junger Bulle würde sich nicht mit dem zweitklassigen Sieg zufriedengeben, seine Beute bis zur Erschöpfung gehetzt zu haben. Er würde das Blut schmecken, das mit voller Kraft aus einem gesunden Herzen pumpte. Er würde seine Beute auf dem Gipfel ihrer Kraft bezwingen.
Er fing an, seine Sprünge zu variieren, folgte dem Hirsch nicht mehr auf direktem Weg. Er musste einen Vorsprung herausholen, nicht hinterherhetzen! Der Geruch des Hirschbocks wurde besorgter. Das trieb Junger Bulle zu noch größerer Geschwindigkeit an. Der Hirsch schoss nach rechts, und Junger Bulle sprang, traf einen Baumstamm mit allen vier Pfoten und stieß sich seitwärts ab, um die Richtung zu ändern. Die Drehung verschaffte ihm einen Vorteil vom Bruchteil eines Herzschlages.
Bald jagte er nur noch einen Atemzug hinter dem Hirschbock her, jeder weitere Sprung brachte ihn auf wenige Zoll an seine Hufe heran. Er stieß ein Heulen aus, und seine Brüder und Schwestern hinter ihm erwiderten seinen Ruf. Diese Jagd vereinte sie.
Aber Junger Bulle führte.
Sein Heulen verwandelte sich in ein triumphierendes Knurren, als der Hirschbock erneut die Richtung wechselte. Die Chance war da! Junger Bulle setzte über einen Stamm hinweg und schnappte mit den Reißzähnen nach dem Hals des Hirschs. Er schmeckte Schweiß, Fell und warmes Blut. Sein Gewicht warf den Hirschbock zu Boden. Während sie sich umherwälzten, ließ Junger Bulle nicht los, zwang seine Beute, über deren Haut scharlachrotes Blut strömte, auf den Waldboden.
Die Wölfe heulten ihren Sieg hinaus, und einen kurzen Augenblick lang ließ er los, um nach der Vorderseite des Halses zu beißen und zu töten. Anderes existierte nicht mehr. Der Wald war verschwunden. Das Heulen verblich. Da war nur noch das Töten. Das süße Töten.
Eine Gestalt krachte in ihn hinein und schleuderte ihn ins Unterholz. Benommen schüttelte Junger Bulle den Kopf, knurrte. Ein anderer Wolf hatte ihn aufgehalten. Springer! Warum?
Der Hirsch sprang auf die Füße und raste weiter in den Wald hinein. Junger Bulle heulte vor Wut und Zorn, wollte ihm hinterherjagen. Wieder machte Springer einen Satz und warf sein Gewicht gegen Junger Bulle.
Wenn erstirbt, stirbt er den letzten Tod, übermittelte Springer. Die Jagd ist vorbei, Junger Bulle. Wir jagen ein anderes Mal.
Um ein Haar hätte Junger Bulle Springer angegriffen. Aber nein. Das hatte er schon einmal versucht, und es war ein Fehler gewesen. Er war kein Wolf. Er …
Perrin lag auf dem Boden und schmeckte Blut, das nicht ihm gehörte, das Gesicht schweißüberströmt. Er kämpfte sich auf die Knie, dann setzte er sich keuchend wieder hin und zitterte von dieser wunderbaren, erschreckenden Jagd.
Die anderen Wölfe setzten sich, schwiegen aber. Springer legte sich neben Perrin, den grauen Kopf auf die alten Pfoten gelegt.
»Das ist es«, sagte Perrin schließlich, »was ich fürchte.« Nein, du fürchtest es nicht. »Du sagst mir, was ich fühle?« Du riechst nicht nach Angst.
Perrin ließ sich wieder auf den Rücken fallen und starrte zu den Ästen hinauf; unter ihm zerfielen Zweige und Blätter. Sein Herz pochte von der Jagd. »Dann sorge ich mich eben deswegen.«
Sorge ist nicht dasselbe wie Furcht, meinte Springer. Warum das eine sagen und das andere fühlen? Sorgen, sorgen, sorgen. Das ist alles, was du tust.
»Nein. Ich töte auch. Wenn du mir beibringen willst, wie man den Wolfstraum meistert, wird das auf diese Weise geschehen?«
Ja.
Perrin sah zur Seite. Das Blut des Hirschbocks war auf einen trockenen Stamm gespritzt, Dunkelheit, die ins Holz eindrang. Auf diese Weise zu lernen würde ihn bis an den Rand der Verwandlung in einen Wolf bringen.
Aber er hatte dieses Problem zu lange vor sich hergeschoben, hatte Hufeisen geschmiedet, während er die schwierigsten und anspruchsvollsten Stücke nicht angerührt hatte. Er verließ sich auf die Macht der Witterung, die man ihm verliehen hatte, griff nach den Wölfen, wenn er sie brauchte – aber ansonsten ignorierte er sie.
Man konnte keinen Gegenstand schmieden, bevor man seine einzelnen Teile verstanden hatte. Er würde nicht wissen, wie er mit dem Wolf in seinem Inneren umgehen musste – oder ihn zurückweisen konnte -, bevor er den Wolfstraum verstand.
»Also gut«, sagte Perrin. »Dann soll es eben so sein.«
Galad ließ Stämmig durch das Lager traben. An allen Seiten errichteten Kinder Zelte und gruben Feuerstellen, bereiteten alles für die Nacht vor. Seine Männer marschierten jeden Tag fast bis zum Einbruch der Nacht, am nächsten Morgen standen sie in aller Frühe wieder auf. Je schneller sie Andor erreichten, umso besser.
Die vom Licht verfluchten Sümpfe lagen hinter ihnen, jetzt reisten sie durch offenes Gelände. Vielleicht wären sie schneller vorangekommen, wären sie nach Osten abgebogen und zu einer der großen Überlandstraßen in den Norden marschiert, aber das würde nicht sicher sein. Besser, sie gingen den Heeren des Wiedergeborenen Drachen und der Seanchaner aus dem Weg. Das Licht würde auf die Kinder scheinen, aber mehr als ein tapferer Held war in diesem Licht gestorben. Ohne Todesgefahr konnte es keine Tapferkeit geben, aber Galad wäre lieber weiterhin atmend im Licht gewandelt.
Sie hatten in der Nähe der Jehannahstraße gelagert und würden sie am nächsten Tag überqueren und weiter nach Norden ziehen. Er hatte eine Patrouille ausgeschickt, die die Straße im Auge behalten sollte. Er wollte wissen, wie stark die Straße frequentiert wurde, und er brauchte unbedingt Vorräte.
Galad machte mit seiner Runde durch das Lager weiter, begleitet von einer Handvoll berittener Gefolgsleute, und ignorierte die Schmerzen seiner diversen Wunden. Das Lager war schön ordentlich. Die Zelte waren nach Legionen gruppiert und bildeten konzentrische Ringe ohne gerade Durchgänge. Das sollte mögliche Angreifer verwirren und langsamer machen.
In der Mitte des Lagers klaffte eine Lücke. Ein Loch in der Formation, wo einst die Zweifler ihre Zelte aufgestellt hatten. Er hatte befohlen, dass man die Zweifler verteilte, zwei von ihnen jeder Kompanie zuteilte. Wenn die Zweifler nicht von den anderen getrennt waren, würden sie sich den anderen Kindern vielleicht kameradschaftlicher verbunden fühlen. Galad nahm sich vor, einen neuen Lagerplan zu erstellen und die Freifläche zu beseitigen.
Galad und seine Gefährten führten ihren Weg durch das Lager fort. Er ritt, damit man ihn sah, und Männer salutierten, wenn er sie passierte. Er erinnerte sich noch gut an die Worte Gareth Brynes: den größten Teil der Zeit lag die wichtigste Aufgabe eines Generals nicht im Treffen von Entscheidungen, sondern die Männer daran zu erinnern, dass jemand Entscheidungen treffen würde.
»Mein Kommandierender Lordhauptmann«, sagte einer seiner Gefährten. Brandel Vordarian. Er war schon ein älterer Mann, der älteste der Lordhauptmänner, die unter Galad dienten. »Ich wünschte, Ihr würdet es Euch noch einmal überlegen, was diese Botschaft angeht.«
Vordarian ritt direkt neben Galad, Trom befand sich auf der anderen Seite. Die Lordhauptmänner Golever und Harnesh ritten in Hörweite dahinter, gefolgt von Bornhaid, der heute als Galads Leibwächter diente.
»Der Brief muss überbracht werden«, sagte Galad.
»Es erscheint töricht, mein Kommandierender Lordhauptmann«, fuhr Vordarian fort. Glattrasiert und mit grauen Strähnen in seinem blonden Haar war der Andoraner ein wahrer Hüne von Mann. Galad war Vordarians Familie flüchtig bekannt, unbedeutende Adelige am Hof seiner Mutter.
Nur ein Narr weigerte sich, dem Rat von älteren und weiseren Männern nicht zuzuhören. Aber nur ein Narr befolgte sämtliche Ratschläge.
»Vielleicht ist es töricht«, erwiderte Galad. »Aber es ist richtig.« Der Brief war an die zurückgebliebenen Zweifler und Kinder gerichtet, die unter der Kontrolle der Seanchaner standen; viele würden Asunawa nicht begleitet haben. In dem Brief hatte Galad die Geschehnisse erklärt und ihnen befohlen, sich so bald wie möglich bei ihm zu melden. Es war unwahrscheinlich, dass jemand von ihnen kommen würde, aber sie hatten ein Recht zu wissen, was geschehen war.
Lord Vordarian seufzte, dann machte er Harnesh Platz, der an Galads Seite ritt. Der glatzköpfige Mann kratzte sich abwesend an der Narbenmasse, wo sein linkes Ohr gewesen war. »Genug von diesem Brief, Vordarian. Wie Ihr darauf herumreitet, nagt an meiner Geduld.« Es gab viel, das an der Geduld des Murandianers nagte, wie Galad fand.
»Ich nehme an, Ihr wünscht andere Dinge zu besprechen?« Galad nickte zwei Kindern zu, die Feuerholz hackten und in ihrer Arbeit innehielten, um ihm zu salutieren.
»Ihr habt Kind Bornhaid, Kind Byar und anderen gesagt, dass wir uns mit den Hexen von Tar Valon verbünden sollen! «
Galad nickte. »Mir ist klar, dass diese Vorstellung beunruhigend ist, aber wenn Ihr darüber nachdenkt, werdet Ihr sehen, dass es die einzig richtige Entscheidung ist.«
»Aber die Hexen sind das Böse!«
»Vielleicht«, sagte Galad. Einst hätte er das vielleicht abgestritten. Aber nachdem er anderen Kindern zugehört und darüber nachgedacht hatte, was Tar Valon seiner Schwester angetan hatte, war er zu dem Schluss gekommen, dass er möglicherweise zu nachsichtig mit den Aes Sedai war. »Aber selbst wenn sie böse sind, Lord Harnesh, sind sie doch verglichen mit dem Dunklen König bedeutungslos. Die Letzte Schlacht naht. Streitet Ihr das ab?«
Harnesh und die anderen schauten gen Himmel. Die schreckliche Bewölkung dauerte nun schon Wochen. Am Vortag war ein weiterer Mann der seltsamen Krankheit zum Opfer gefallen, bei der Käfer aus seinem Mund gekrochen waren, als er gehustet hatte. Ihre Lebensmittelvorräte schwanden dahin, da immer mehr verdarb.
»Nein, das bestreite ich nicht«, murmelte Harnesh.
»Dann solltet Ihr frohlocken«, sagte Galad, »denn der Weg ist eindeutig. Wir müssen in der Letzten Schlacht kämpfen. Unsere Führung kann dort vielen, die uns verachtet haben, den Weg des Lichts zeigen. Und selbst wenn das nicht geschieht, werden wir kämpfen, denn es ist unsere Pflicht. Streitet Ihr das ab, Lordhauptmann?«
»Nein, natürlich nicht. Aber die Hexen, mein Kommandierender Lordhauptmann?«
Galad schüttelte den Kopf. »Ich wüsste nicht, wie sich das vermeiden ließe. Wir brauchen Verbündete. Seht Euch um, Lord Harnesh. Wie viele Kinder haben wir? Selbst mit den letzten Rekruten sind wir keine zwanzigtausend. Unsere Festung wurde erobert. Wir haben weder Beistand noch Gefolge, und die großen Nationen dieser Welt verabscheuen uns. Nein, streitet es nicht ab! Ihr wisst, dass das stimmt.«
Galad erwiderte die Blicke der Männer, und einer nach dem anderen nickte.
»Daran sind die Zweifler schuld«, murmelte Harnesh.
»Ein Teil der Schuld liegt bei Ihnen«, stimmte Galad ihm zu. »Aber es liegt auch daran, dass jene, die Böses tun würden, voller Ekel und Feindseligkeit auf jene herabschauen, die für das Richtige einstehen.«
Die anderen nickten.
»Wir müssen vorsichtig handeln«, sagte Galad. »In der Vergangenheit hat die Kühnheit und vielleicht auch der Übereifer der Kinder jene entfremdet, die unsere Verbündeten hätten sein sollen. Meine Mutter pflegte zu sagen, dass ihre Diplomatie nie siegte, wenn jeder das bekam, was er wollte – dann glaubten alle nur, sie übervorteilt zu haben, was alle zu weiteren extravaganten Forderungen ermutigte. Der Trick liegt nicht darin, jeden zufriedenzustellen, sondern jedem das Gefühl zu geben, das bestmögliche Ergebnis erreicht zu haben. Sie müssen zufrieden genug sein, um das zu tun, was man will, aber unzufrieden genug, um zu wissen, dass man sie überlistet hat.«
»Und was hat das mit uns zu tun?«, fragte Golever hinter ihnen. »Wir folgen weder König noch Königin.«
»Ja, und das macht Monarchen Angst«, erwiderte Galad. »Ich wuchs am Hof von Andor auf. Ich weiß, wie meine Mutter die Kinder betrachtete. Jedes Mal, wenn sie mit ihnen zu tun hatte, fand sie das entweder frustrierend oder kam zu der Entscheidung, sie vollständig unterdrücken zu müssen. Beide Reaktionen können wir uns nicht leisten! Die Monarchen der Welt müssen uns respektieren, nicht uns hassen.«
»Schattenfreunde«, murmelte Harnesh.
»Meine Mutter war keine Schattenfreundin«, sagte Galad leise.
Harnesh errötete. »Sie natürlich ausgenommen.«
»Ihr sprecht wie ein Zweifler«, sagte Galad. »Verdächtigt jeden, der gegen uns ist, ein Schattenfreund zu sein. Viele von ihnen werden vom Schatten beeinflusst, aber ich bezweifle, dass das bewusst geschieht. In diesem Punkt hat sich die Hand des Lichts geirrt. Die Zweifler vermochten oft nicht zu unterscheiden zwischen einem eingeschworenen Schattenfreund, jemand, der von Schattenfreunden beeinflusst wurde, und jemand, der einfach anderer Meinung als die Kinder war.«
»Also, was sollen wir tun?«, fragte Vordarian. »Uns den Launen von Monarchen beugen?«
»Ich weiß noch nicht, wie wir es angehen sollen«, gestand Galad. »Ich muss darüber nachdenken. Mir wird der richtige Weg einfallen. Wir können nicht die Schoßhunde von Königen und Königinnen werden. Aber denkt doch nur einmal daran, was wir innerhalb der Grenzen einer Nation erreichen könnten, wenn wir ungestört handeln könnten, ohne eine ganze Legion zu brauchen, um die Herrscher dieser Nation einzuschüchtern.«
Das ließ die anderen nachdenklich nicken. »Mein Kommandierender Lordhauptmann!«, rief eine Stimme.
Galad drehte sich im Sattel um und sah Byar auf seinem weißen Hengst auf sie zutraben. Das Pferd hatte Asunawa gehört; Galad hatte es nicht haben wollen, da er seinen Kastanienbraunen bevorzugte. Galad ließ die Gruppe anhalten, als Byar näher kam; sein weißer Wappenrock war makellos. Byar war nicht der sympathischste Mann im Lager, aber er hatte sich als loyal erwiesen.
Allerdings sollte Byar gar nicht im Lager sein.
»Ich befahl Euch, die Jehannahstraße zu beobachten, Kind Byar«, sagte Galad streng. »Diese Pflicht müsste noch mindestens gute vier Stunden dauern.«
Byar salutierte, als er den Hengst zügelte. »Mein Kommandierender Lordhauptmann. Wir haben eine verdächtig aussehende Reisegruppe auf der Straße gefangen genommen. Was sollen wir mit ihr machen?«
»Ihr habt sie gefangen genommen?«, sagte Galad. »Ihr solltet die Straße beobachten, keine Gefangenen machen.«
»Mein Kommandierender Lordhauptmann«, erwiderte Byar. »Wie sollen wir wissen, wer da vorbeikommt, wenn wir nicht mit ihnen sprechen können? Ihr wolltet, dass wir nach Schattenfreunden Ausschau halten.«
Galad seufzte. »Ich wollte, dass Ihr nach Truppenbewegungen oder möglichen Kaufleuten Ausschau haltet, an die wir uns wenden können, Kind Byar.«
»Diese Schattenfreunde haben Vorräte«, sagte Byar. »Ich glaube, sie könnten Kaufleute sein.«
Galad seufzte erneut. Niemand konnte Byars Hingabe infrage stellen – er war an seiner Seite geritten, um Valda zu stellen, obwohl das das Ende seiner Karriere hätte bedeuten können. Und doch konnte man zu eifrig sein.
Der hagere Offizier sah beunruhigt aus. Nun, Galad erkannte, dass seine Befehle nicht genau genug gewesen waren. Daran würde er in Zukunft denken müssen, vor allem bei Byar. »Friede«, sagte er, »Ihr habt nichts falsch gemacht, Kind Byar. Wie viele Gefangene sind es?«
»Dutzende, mein Kommandierender Lordhauptmann.« Byar sah erleichtert aus. »Kommt.«
Er zog das Pferd herum, um den Weg zu zeigen. Die ersten Kochfeuer brannten bereits, der Geruch von brennendem Zunder lag in der Luft. Galad schnappte Gesprächsfetzen auf, als er an den Soldaten vorbeiritt. Was würden die Seanchaner mit jenen Kindern machen, die zurückgeblieben waren? War es wirklich der Wiedergeborene Drache gewesen, der Illian und Tear erobert hatte, oder doch ein falscher Drache? Da war die Rede von einem riesigen Felsen aus dem Himmel, der weit im Norden von Andor eine ganze Stadt zerstört und einen gewaltigen Krater hinterlassen hatte.
Die Unterhaltungen der Männer enthüllten ihre Sorgen. Sie hätten begreifen müssen, dass sich zu sorgen keine nützliche Beschäftigung war. Niemand konnte das Weben des Rades vorhersagen.
Byars Gefangene stellten sich als Gruppe von Leuten mit einer überraschend großen Anzahl schwer beladener Wagen heraus, vielleicht hundert oder sogar mehr. Die Reisenden drängten sich um ihre Wagen und musterte die Kinder feindselig. Galad runzelte die Stirn und sah sich alles genau an.
»Das ist aber eine große Karawane«, sagte Bornhaid leise neben ihm. »Kaufleute?«
»Nein«, erwiderte Galad ebenso leise. »Das sind Reisemöbel – seht doch die Zylinder an den Seiten, damit man sie in ihren Einzelteilen transportieren kann. Hafersäcke für Pferde. Hinten in dem Wagen dort rechts, das sind in Zelttuch eingewickelte Hufschmiedwerkzeuge. Seht ihr die Hämmer, die herausragen?«
»Beim Licht!«, flüsterte Bornhaid. Er erkannte es auch. Das war der Tross, der einem Heer von beträchtlicher Größe folgte. Aber wo waren die Soldaten?
»Haltet Euch bereit, sie voneinander zu trennen«, befahl Galad Bornhaid und stieg ab. Er ging zum ersten Wagen. Der Kutscher hatte eine stämmige Gestalt und ein rosiges Gesicht, das Haar war so gekämmt, dass es die Glatze verbergen sollte, was aber nicht einmal im Ansatz gelang. Seine Hände kneteten nervös einen braunen Filzhut, im Gürtel seiner dicken Jacke steckten zwei Handschuhe. Galad konnte bei ihm keine Waffen entdecken.
Neben dem Wagen standen zwei andere Leute, die bedeutend jünger waren. Der Mann war muskulös und sah wie ein Kämpfer aus – aber er war kein Soldat -, der garantiert Ärger machen konnte. Eine hübsche Frau klammerte sich an seinem Arm fest und biss sich auf die Unterlippe.
Der Mann auf dem Kutschbock zuckte zusammen, als er Galad sah. Ah, dachte Galad, also weiß er genug, um Morgases Stiefsohn zu erkennen.
»Also, Reisende«, sagte Galad vorsichtig. »Mein Mann berichtet mir, Ihr seid Kaufleute?«
»Ja, guter Herr«, erwiderte der Kutscher.
»Ich kenne mich in der Gegend nicht gut aus. Seid Ihr damit vertraut?«
»Nicht besonders, Herr«, sagte der Kutscher und knetete den Hut weiter. »Tatsächlich sind auch wir weit von zuhause weg. Ich bin Basel Gill aus Caemlyn. Ich bin nach Süden gekommen, um mit einem Kaufmann in Ebou Dar Geschäfte zu machen. Aber diese seanchanischen Invasoren haben es mir unmöglich gemacht, meinem Handwerk nachzugehen.«
Er erschien sehr nervös. Wenigstens hatte er nicht gelogen, was seinen Herkunftsort anging. »Wie hieß dieser Kaufmann denn?«, wollte Galad wissen.
»Falin Deborsha, mein Lord«, sagte Gill. »Ihr kennt Ebou Dar?«
»Ich war dort«, sagte Galad ganz ruhig. »Ihr habt schon eine beeindruckende Karawane. Interessante Zusammenstellung von Waren.«
»Wir hörten, dass hier im Süden Heere aufgestellt werden, mein Lord. Ich habe viele dieser Dinge einer Söldnertruppe abgekauft, die sich auflöste, und dachte, ich könnte sie hier unten vielleicht verkaufen. Vielleicht braucht Euer Heer ja Lagermöbel? Wir haben Zelte, tragbare Schmiedeausrüstung, alles, was ein Soldat gebrauchen kann.«
Schlau, dachte Galad. Vielleicht wäre er auf die Lüge hereingefallen, aber dieser »Kaufmann« hatte einfach zu viele Köche, Wäscherinnen und Schmiede dabei und nicht einmal annähernd genug Wächter für eine so wertvolle Karawane.
»Ich verstehe«, sagte er. »Nun, tatsächlich brauche ich Dinge. Vor allem Lebensmittel.«
»Es tut mir leid, mein Lord«, erwiderte der Mann. »Von unseren Lebensmitteln können wir nichts erübrigen. Alles andere verkaufe ich gern, aber die Lebensmittel habe ich bereits jemanden in Lugard durch einen Boten versprochen.«
»Ich zahle mehr.«
»Ich gab mein Versprechen, er ist ein guter Herr«, sagte der Mann. »Ich könnte es nicht brechen, ganz egal, wie gut der Preis auch ist.«
»Ich verstehe.« Galad winkte Bornhaid zu. Der Soldat gab Befehle, und Kinder in weißen Wappenröcken kamen mit gezogenen Waffen näher.
»Was … was tut Ihr da?«, fragte Gill.
»Eure Leute auseinandertreiben«, sagte Galad. »Wir sprechen mit jedem von ihnen allein und sehen, ob ihre Geschichten übereinstimmen. Ich fürchte, Ihr habt uns… nicht die ganze Wahrheit gesagt. Immerhin hat es für mich den Anschein, als wärt Ihr ein Tross, der einem großen Heer folgt. Sollte das der Fall sein, würde ich gern wissen, was für ein Heer das ist, ganz zu schweigen davon, wo es ist.«
Schweiß trat auf Gills Stirn, als Galads Soldaten die Gefangenen zielstrebig voneinander trennten. Galad wartete eine Weile, beobachtete dabei Gill. Schließlich kamen Bornhaid und Byar angelaufen, die Hände auf den Schwertern.
»Mein Kommandierender Lordhauptmann«, sagte Bornhaid nachdrücklich.
Galad wandte sich von Gill ab. »Ja?«
»Wir könnten hier ein Problem haben«, sagte Bornhaid.
Sein Gesicht war vor Zorn rot angelaufen. Byar hatte die Augen weit aufgerissen; sie funkelten beinahe schon fiebrig. »Ein paar der Gefangenen haben geredet. Es ist, wie Ihr befürchtetet. In der Nähe befindet sich ein großes Heer. Es hatte einen Zusammenstoß mit Aiel – die Burschen da drüben in den weißen Gewändern sind tatsächlich sogar Aiel.«
»Und?«
Byar spukte aus. »Habt Ihr je von einem Mann namens Perrin Goldauge gehört?«
»Nein. Sollte ich?«
»Ja«, sagte Bornhaid. »Er hat meinen Vater getötet.«