37 Dunkelheit in der Weißen Burg

Gawyn saß im Palastgarten von Caemlyn auf einer Bank. Mehrere Stunden waren vergangen, seit er Egwenes Boten fortgeschickt hatte. Ein Dreiviertelmond schimmerte träge am Himmel. Gelegentlich kamen Diener, um sich zu erkundigen, ob er etwas brauchte. Sie schienen sich Sorgen um ihn zu machen.

Er wollte bloß den Himmel betrachten. Es war Wochen her, dass er das zum letzten Mal getan hatte. Die Luft kühlte ab, aber er ließ seinen Mantel auf der Lehne der Bank hängen. Die freie Luft fühlte sich gut an – irgendwie unterschied sie sich von der Luft unter dem bewölkten Himmel.

Nachdem das letzte Licht der Abenddämmerung verblich, funkelten die Sterne wie scheue Kinder, die sich jetzt, nachdem der Lärm des Tages verklungen war, hervorwagten. Es fühlte sich so gut an, sie endlich wieder sehen zu können. Gawyn atmete tief ein.

Elayne hatte recht. Sein Hass auf al’Thor gründete sich größtenteils auf Frustration. Vielleicht auch auf Eifersucht. Al’Thor spielte eine Rolle, die dem so viel näher kam, was er gern erreicht hätte. Nationen zu beherrschen, Heere anzuführen. Betrachtete man ihrer beider Leben, wer hatte die Rolle eines Prinzen übernommen und wer die Rolle eines verirrten Schafhirten?

Vielleicht hatte er sich Egwenes Forderungen widersetzt, weil er führen wollte, weil er derjenige sein wollte, der die Heldentaten vollbrachte. Als Behüter würde er zur Seite treten und ihr dabei helfen müssen, die Welt zu verändern. Eine große Persönlichkeit am Leben zu erhalten war eine ehrenvolle Aufgabe. Sogar eine unübertreffliche Ehre. Was war der Sinn großer Taten? Die Anerkennung, die sie brachten, oder das bessere Leben, das sie erschufen?

Zur Seite zu treten. Er hatte Männer wie Sleete für ihre diesbezügliche Bereitschaft stets bewundert, sie aber auch nie verstanden. Jedenfalls nicht richtig. Ich kann sie das nicht allein machen lassen, dachte er. Ich muss ihr helfen. Aus ihrem Schatten heraus.

Weil er sie liebte. Aber vor allem weil es so das Beste war. Wollten zwei Barden zur selben Zeit zwei verschiedene Lieder spielen, kam dabei nur Lärm heraus. Aber wenn einer zurücktrat, damit die Melodie des anderen harmonisch klingen konnte, dann konnte die vollbrachte Schönheit viel größer sein als alles, was einer von ihnen allein erreichte.

Und in diesem Augenblick begriff er endlich. Er stand auf. Er konnte sich Egwene nicht als Prinz nähern. Er musste als Behüter vor sie treten. Er musste auf sie aufpassen, ihr dienen. Dafür sorgen, dass ihre Wünsche befolgt wurden.

Es war Zeit zurückzukehren.

Er schlüpfte in seinen Mantel und ging zum Palast. Die Eröffnungsserenade der diversen Teichfrösche verstummte und wurde durch Aufplatschen ersetzt, als er sie passierte und das Gebäude betrat. Zu den Gemächern seiner Schwester war es kein weiter Weg. Sie würde noch auf sein; in der letzten Zeit konnte sie nur mühsam einschlafen. Während der vergangenen paar Tage hatten sie vor dem Zubettgehen oft noch eine Unterhaltung und eine warme Tasse Tee genossen. Aber vor ihrer Tür wurde er von Birgitte aufgehalten.

Sie schenkte ihm wieder einen dieser finsteren Blicke. Ja, es gefiel ihr tatsächlich nicht, gezwungenermaßen an seiner Stelle als Generalhauptmann aufzutreten. Das sah er nun ein. Er fühlte sich etwas unbehaglich, als er näher kam. Die Frau hob eine Hand. »Heute Abend nicht, Prinzchen.«

»Ich reise zur Weißen Burg ab«, sagte er. »Ich würde mich gern verabschieden.«

Er setzte sich wieder in Bewegung, aber Birgitte legte die Hand gegen seine Brust und schob ihn sanft zurück. »Ihr könnt morgen früh abreisen.«

Um ein Haar hätte er nach seinem Schwert gegriffen, aber er konnte sich beherrschen. Beim Licht! Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte er nicht auf jede Kleinigkeit so reagiert. Er war wirklich ein Narr geworden. »Fragt sie, ob sie mich sehen will«, sagte er höflich. »Bitte!«

»Ich habe meine Befehle«, erwiderte Birgitte. »Davon abgesehen könnte sie gar nicht mit Euch sprechen. Sie schläft.«

»Ich bin mir sicher, sie würde gern geweckt.«

»Es ist nicht diese Art Schlaf.« Birgitte seufzte. »Es hat mit Aes Sedai-Angelegenheiten zu tun. Geht zu Bett. Morgen früh wird Eure Schwester vermutlich eine Nachricht von Egwene für Euch haben.«

Gawyn runzelte die Stirn. Wie sollte …

Die Träume, begriff er. Das hatte die Aes Sedai gemeint, dass Egwene sie darin ausbildet, in ihren Träumen zu wandeln. »Also schläft Egwene auch?«

Birgitte musterte ihn. »Verdammte Asche, vermutlich habe ich schon zu viel gesagt. Geht in Eure Gemächer.«

Gawyn ging, aber er begab sich nicht in seine Gemächer. Er wird auf einen Augenblick der Schwäche warten, dachte er und erinnerte sich an die Worte der Sul’dam. Und wenn er zuschlägt, wird er eine solche Verwüstung hinterlassen, wie man sie bei einem einzelnen Mann für unmöglich halten würde…

Ein Augenblick der Schwäche.

Gawyn rannte los, jagte durch die Palastkorridore zu dem Reisezimmer, das Elayne eingerichtet hatte. Gesegneterweise hatte dort eine Kusine Dienst – ihr war ihre Müdigkeit anzusehen, aber sie wartete für den Fall, dass eine eilige Botschaft geschickt werden musste. Gawyn erkannte die dunkelhaarige Frau nicht, aber sie schien ihn zu kennen.

Gähnend öffnete sie ein Wegetor für ihn. Er rannte hindurch und weiter auf das Reisegelände der Weißen Burg. Das Tor erlosch sofort hinter ihm. Gawyn zuckte zusammen und fuhr mit einem Fluch herum. Um ein Haar hätte es sich geschlossen, noch während er mittendrin stand. Warum hatte die Kusine es so abrupt verschwinden lassen, auf diese gefährliche Weise? Den Bruchteil einer Sekunde früher, und es hätte ihm den Fuß abgeschnitten oder Schlimmeres.

Er hatte keine Zeit. Er drehte sich um und lief wieder los.


Egwene, Leane und die Weisen Frauen erschienen in einem Zimmer in den Katakomben des Turms, wo eine Gruppe aufgeregter Frauen wartete. Das war ein Wachtposten, den Egwene als Rückzugspunkt eingerichtet hatte. »Berichtet!«, verlangte Egwene.

»Shevan und Carlinya sind tot, Mutter«, sagte Saerin grimmig. Die kurz angebundene Braune keuchte. Egwene fluchte. »Was ist passiert?«

»Wir waren mitten bei Eurer List, führten eine Diskussion über einen falschen Plan, Arad Doman den Frieden zu bringen, genau wie Ihr befohlen habt. Und dann …«

»Feuer«, sagte Morvrin zitternd. »Es schoss durch die Wände. Frauen lenkten die Macht, einige davon mit gewaltigen Kräften. Ich sah Alviarin. Andere auch.«

»Nynaeve ist noch immer dort oben«, fügte Brendas hinzu.

»Stures Weib«, sagte Egwene und sah die drei Weisen Frauen an. Sie nickten. »Schickt Brendas heraus«, befahl Egwene und zeigte auf die Weiße. »Wenn Ihr aufwacht, weckt Ihr die anderen, damit sie außer Gefahr sind. Lasst nur Nynaeve, Siuan, Leane und mich hier.«

»Ja, Mutter«, sagte Brendas.

Amys tat etwas, das ihre Umrisse verblassen ließ.

»Der Rest von Euch begibt sich an einen sicheren Ort«, sagte Egwene. »Abseits der Stadt.«

»Ja, Mutter«, sagte Saerin. Aber sie verblieb an Ort und Stelle.

»Was ist?«, fragte Egwene.

»Ich …« Saerin runzelte die Stirn. »Ich kann nicht gehen. Etwas ist seltsam.«

» Unsinn «, fauchte Bair. » Es …«

»Bair«, sagte Amys. »Ich kann nicht weg. Hier stimmt etwas nicht.«

»Der Himmel ist violett«, verkündete Yukiri, die aus einem kleinen Fenster schaute. »Beim Licht! Das sieht aus wie eine Kuppel, die die Burg und die Stadt bedeckt. Wann ist das denn passiert?«

»Hier ist etwas völlig durcheinander«, sagte Bair. »Wir sollten aufwachen.«

Plötzlich verschwand Amys, was Egwene zusammenzucken ließ. Einen Augenblick später war sie wieder zurück. »Ich konnte an den Ort zurück, an dem wir eben noch waren, aber ich kann die Stadt nicht verlassen. Das gefällt mir nicht, Egwene al’Vere.«

Egwene versuchte sich nach Cairhien zu transportieren. Es funktionierte nicht. Besorgt, aber resolut schaute sie aus dem Fenster. Ja, der Himmel war violett.

»Wacht auf, wenn Ihr müsst«, sagte sie zu den Weisen Frauen. »Ich kämpfe. Eine der Schattenbeseelten ist hier.«

Die Weisen Frauen schwiegen. »Wir begleiten Euch«, sagte Melaine schließlich.

»Gut. Ihr anderen, verlasst diesen Ort. Geht zum Musikantenweg und bleibt dort, bis Ihr aufwacht. Melaine, Amys, Bair, Leane, wir gehen zu einem höheren Raum im Turm, ein Zimmer mit holzgetäfelten Wänden und einem Bett mit vier Pfosten, das mit Gaze verhüllt ist. Das ist mein Schlafzimmer. «

Die Weisen Frauen nickten, und Egwene schickte sich dorthin. Auf dem Nachttisch stand eine Lampe; hier in Tel’aran’rhiod brannte sie nicht, obwohl sie sie in der realen Welt brennen ließ. Die Weisen Frauen und Leane erschienen um sie herum. Der Luftzug ihres Erscheinens ließ die Gaze um Egwenes Bett wehen.

Der Turm erbebte. Es wurde noch immer gekämpft.

»Seid vorsichtig«, sagte Egwene. »Wir jagen gefährliche Gegner, und sie kennen dieses Terrain besser als ihr.«

»Wir werden vorsichtig sein«, versicherte Bair. »Ich habe gehört, dass die Schattenbeseelten sich für die Herren dieses Ortes halten. Nun, das werden wir ja sehen.«

»Leane«, sagte Egwene, »kommt Ihr allein zurecht?« Egwene war versucht gewesen, sie wegzuschicken, aber sie und Siuan hatten eine gewisse Zeit in Tel’aran’rhiod verbracht. Sicherlich verfügte sie über mehr Erfahrung als die meisten anderen.

»Ich halte meinen Kopf unten, Mutter«, versprach sie. »Aber es werden mehr von ihnen da sein als von uns. Ihr braucht mich.«

»Einverstanden«, sagte Egwene.

Die vier Frauen verschwanden. Warum konnten sie die Burg nicht verlassen? Das war beunruhigend, aber doch nützlich. Es bedeutete, dass sie hier gefangen waren.

Aber Mesaana hoffentlich auch.


Fünf Tauben stiegen vom Dachrand in die Luft empor. Perrin fuhr herum. Der Schlächter stand hinter ihm und roch wie Stein.

Der Mann mit den harten Augen sah den flüchtenden Vögeln nach. »Deine?«

»Als Warnung«, erwiderte Perrin. »Ich ging davon aus, dass du Nussschalen am Boden durchschaust.«

»Schlau«, sagte der Schlächter.

Hinter ihm breitete sich eine prächtige Stadt aus. Perrin hätte nie geglaubt, dass eine Stadt so prächtig wie Caemlyn sein konnte. Aber falls es möglich war, dann Tar Valon. Die ganze Stadt war ein Kunstwerk, beinahe jedes Gebäude verfügte über Torbögen, Türme, Erker und Verzierungen. Selbst die Pflastersteine schienen nach künstlerischen Gesichtspunkten arrangiert zu sein.

Der Schlächter warf einen schnellen Blick auf Perrins Gürtel. In einer von Perrin erschaffenen Tasche steckte das Ter’angreal. Die Spitze ragte oben heraus, silbrige Teile, die zu einem kompliziert verknoteten Zopf verschlungen waren. Perrin hatte erneut versucht, das Ding durch Gedankenkraft zu zerstören, war aber nur wieder abgewehrt worden. Ein Angriff mit dem Hammer hatte nicht einmal einen Kratzer hinterlassen. Was auch immer dieses Ding darstellte, es war dazu konstruiert worden, solchen Angriffen zu widerstehen.

»Du bist geschickt geworden«, sagte der Schlächter. »Ich hätte dich vor Monaten töten sollen.«

»Ich glaube, das hast du versucht«, sagte Perrin und legte den Hammer auf die Schulter. »Wer bist du wirklich?«

»Ein Mann zweier Welten, Perrin Aybara. Der beiden gehört. Ich muss den Traumnagel zurückhaben.«

»Komm einen Schritt näher heran, und ich zerstöre ihn.«

Der Schlächter schnaubte und setzte sich in Bewegung. »Dazu fehlt dir die Kraft, Junge. Nicht einmal ich verfüge über genug Kraft, um das zu schaffen.« Unbewusst flackerte sein Blick über Perrins Schulter. Wohin?

Der Drachenberg. Er muss sich Sorgen gemacht haben, dass ich hergekommen bin, um das Ding dort hineinzuwerfen. War das ein Hinweis auf eine Möglichkeit, wie er das Ter’angreal zerstören konnte? Oder wollte der Schlächter ihn bloß verunsichern?

»Mach mich nicht wütend, Junge«, sagte der Schlächter, und Schwert und Messer erschienen in seinen Händen, während er weiterging. »Ich habe heute bereits vier Wölfe getötet. Gib mir den Nagel.«

Vier? Aber er hatte doch nur den einen getötet, den Perrin gesehen hatte. Er will mich provozieren.

»Ich soll dir glauben, dass du mich verschonst, wenn ich ihn dir gebe?«, fragte Perrin. »Würde ich ihn dir geben, würdest du ihn zurück nach Ghealdan bringen. Du weißt, dass ich dir nur wieder dorthin folgen würde.« Perrin schüttelte den Kopf. » Einer von uns muss sterben, so ist das nun einmal.«

Der Schlächter zögerte, dann lächelte er. »Luc hasst dich, weißt du? Er hasst dich sehr.« »Und du nicht?« Perrin runzelte die Stirn. »Nicht mehr, als der Wolf den Hirschbock hasst.« »Du bist kein Wolf«, erwiderte Perrin leise knurrend. Der Schlächter zuckte mit den Schultern. »Dann lass es uns hinter uns bringen.« Er stürzte vorwärts.


Gawyn stürmte in die Weiße Burg; die Wachtposten hatten nicht einmal genug Zeit zum Salutieren. Er raste an den verspiegelten Kandelabern vorbei. Nur einer von zweien war entzündet, um Öl zu sparen. Als er zu einer nach oben führenden Rampe kam, hörte er Schritte hinter sich.

Sein Schwert zischte aus seiner Scheide, während er herumfuhr. Mazone und Celark kamen ruckartig zum Stehen. Die ehemaligen Jünglinge trugen nun die Uniform der Burgwache. Würden sie versuchen, ihn aufzuhalten? Wer konnte schon ahnen, welche Befehle Egwene hinterlassen hatte.

Sie salutierten.

»Männer?«, fragte Gawyn. »Was macht Ihr hier?«

»Herr«, erwiderte Celark, dessen schmales Gesicht durch die notdürftige Beleuchtung im Schatten lag. »Wenn ein Offizier mit einem solchen Gesichtsausdruck vorbeirennt, dann fragt man nicht, ob er Hilfe braucht. Man folgt ihm einfach!«

Gawyn lächelte. »Dann kommt.« Er lief die Rampe hinauf, und die beiden Männer folgten ihm mit gezogenen Schwertern.

Egwenes Quartier war ein Stück weiter oben, und als Gawyn ihre Ebene erreichte, raste sein Puls und sein Atem ging stoßweise. Sie eilten durch drei Korridore, dann hob Gawyn die Hand. Er blickte die schattenerfüllten Nischen an. Waren welche groß genug, um ein Blutmesser zu verbergen?

Es gibt kein Licht ohne Schatten …

Vorsichtig spähte er um die Ecke in Richtung von Egwenes Tür; er stand genau an derselben Position, an der er zuvor gestanden hatte, als er ihre Pläne ruiniert hatte. Tat er jetzt wieder das Gleiche? Die beiden Burgwächter standen dicht hinter ihm und warteten auf seinen Befehl.

Ja. Er tat das Gleiche wie zuvor. Und doch hatte sich etwas verändert. Er würde sie beschützen, damit sie große Dinge erreichen konnte. Er würde in ihrem Schatten stehen und stolz sein. Er würde tun, worum sie bat – aber er würde für ihre Sicherheit sorgen, ganz egal, was auch geschah.

Denn das tat ein Behüter. Er schob sich nach vorn und bedeutete seinen Männern, ihm zu folgen. Die Dunkelheit in demselben schattenhaften Alkoven schien seine Aufmerksamkeit nicht wie zuvor abzustoßen. Ein gutes Zeichen. Vor der Tür blieb er stehen und griff vorsichtig nach der Klinke. Sie war unverschlossen. Tief Luft holend schlüpfte er hinein.

Kein Alarm ertönte; keine Falle schlug zu und riss ihn in die Luft. An den Wänden brannten ein paar Lampen. Ein leises Geräusch ließ ihn nach oben blicken. Dort hing eine Burgdienerin und ruderte mit weit aufgerissenen Augen mit den Armen, den Mund von einem unsichtbaren Strang Luft verschlossen.

Gawyn fluchte, eilte quer durch das Zimmer und riss die Tür zu Egwenes Schlafzimmer auf. Ihr Bett, das an der gegenüberliegenden Wand stand, war mit weißen Spitzenvorhängen verhüllt, auf dem Tischchen daneben brannte eine Lampe. Mit wenigen Schritten stand Gawyn neben ihr und stieß den Vorhang zur Seite. Schlief sie? Oder war sie …

Er streckte die Hand nach ihrem Hals aus, aber ein leises Geräusch hinter ihm ließ ihn das Schwert herumreißen und den Hieb parieren, der auf seinen Rücken zielte. Nicht ein, sondern zwei dunkle Schemen sprangen aus den Schatten. Er schenkte Egwene einen schnellen Blick; Blut war keines zu sehen, aber er vermochte nicht zu sagen, ob sie atmete oder nicht. Hatte er die Attentäter rechtzeitig gestört?

Es blieb keine Zeit zum Nachsehen. Er nahm die Schwertfigur Apfelblüten im Wind ein und fing an zu brüllen. Seine Männer traten an die Tür und blieben verblüfft stehen.

»Holt Hilfe!«, befahl Gawyn. »Geht!«

Der dunkelhäutige Mazone drehte sich um, um zu gehorchen, während sich Celark mit entschlossener Miene in den Kampf stürzte.

Die Blutmesser bewegten sich wellenförmig. Mit Katze auf heißem Sand wollte Gawyn ihre Fertigkeiten in Erfahrung bringen, aber jeder Hieb traf nur die Luft. Seine Augen schmerzten bereits von dem Versuch, den Gestalten zu folgen.

Celark griff von hinten an, war aber genauso unbeholfen wie Gawyn. Gawyn biss die Zähne zusammen und kämpfte mit dem Rücken zum Bett. Er musste sie lange genug von Egwene fernhalten, bis Hilfe eintraf. Falls es ihm gelang …

Beide Gestalten verdrehten sich plötzlich und schlugen gemeinsam auf Celark ein. Der Mann hatte kaum noch Zeit für einen Fluch, bevor ihn eine Klinge am Hals traf und helles Blut spritzte. Gawyn brüllte erneut, wählte Eidechse im Dornhusch und zielte nach den Rücken der Attentäter.

Wieder schlugen seine Angriffe fehl. Es hatte den Anschein, als würde er sie nur um Haaresbreite verfehlen. Celark taumelte gurgelnd zu Boden, sein Blut schimmerte im Lampenlicht. Und Gawyn konnte nicht vortreten, um ihn zu verteidigen. Nicht ohne Egwene schutzlos preiszugeben.

Einer der Attentäter wandte sich wieder Gawyn zu, während der andere Celark mit einem Hieb enthauptete, der trotz der Schatten große Ähnlichkeit mit Der Fluss unterspült das Ufer hatte. Gawyn trat zurück und versuchte, nicht zu dem Toten hinzusehen. Verteidigung. Er musste nur verteidigen, bis Hilfe kam! Er schob sich zur Seite.

Die Seanchaner waren vorsichtig; sie wussten, dass er schon einmal einen von ihnen abgewehrt hatte. Aber alle Vorteile befanden sich auf ihrer Seite. Gawyn war nicht überzeugt, gegen zwei von ihnen standhalten zu können.

Doch, das wirst du, befahl er sich streng. Wenn du fällst, stirbt Egwene.

Hatte sich im Nachbarzimmer etwas bewegt? War die Verstärkung eingetroffen? Hoffnung schoss in Gawyn hoch, und er machte einen Schritt zur Seite. Von dort konnte er Mazones blutenden Körper auf dem Boden liegen sehen.

Eine dritte schattenverhüllte Gestalt glitt ins Zimmer und schloss hinter sich die Tür, verriegelte sie. Darum hatten die beiden anderen gezögert. Sie hatten warten wollen, bis ihr Verbündeter eintraf.

Dann griffen sie zu dritt an.


Perrin ließ dem Wolf freie Bahn.

Dieses eine Mal macht er sich keine Sorgen darüber, was das mit ihm anstellen würde. Er ließ einfach zu, er selbst zu sein, und als er kämpfte, schien die Welt um ihn herum genau richtig zu werden.

Vielleicht weil sie sich seinem Willen unterwarf.

Junger Bulle sprang von einem Dach in Tar Valon, kraftvolle Hinterbeine katapultierten ihn in die Luft, den Ter’angreaZ-Beutel auf dem Rücken befestigt. Er schwebte über eine Straße hinweg und landete auf einem weißen Marmordach mit Gruppen aus Statuetten am Rand. Er rollte sich ab und kam – das Ter’angreal an der Taille festgeschnallt – als Mann auf die Füße, schwang den Hammer.

Der Schlächter verschwand, bevor ihn der Hammer traf, erschien neben Perrin. Perrin verschwand, als der Schlächter ausholte, erschien links von ihm. Sie bewegten sich hin und her, umkreisten einander, verschwanden und tauchten wieder auf, versuchten mühsam einen Treffer zu landen.

Perrin warf sich aus dem Kreislauf und versetzte sich an eine Stelle neben einer der großen Statuen auf dem Dach, einen pompös aussehenden General. Er schlug mit dem Hammer darauf ein und verstärkte die Kraft des Hiebes. Steinsplitter flogen dem Schlächter entgegen. Der Wolfstöter erschien aus dem Nichts und erwartete Perrin neben sich zu finden. Stattdessen hagelten Steine und Staub auf ihn herab.

Der Schlächter schrie auf, als ein paar Splitter seine Haut aufschnitten. Augenblicklich wurde sein Umhang so widerstandsfähig wie Stahl und ließ die Steine abprallen. Er schlug ihn zurück, und das ganze Gebäude fing an zu beben. Fluchend sprang Perrin in die Höhe, als das Dach einstürzte.

Er flog durch die Luft und wurde zum Wolf, bevor er auf einem Dach in der Nähe landete. Der Schlächter erschien mit gespanntem Bogen direkt vor ihm. Junger Bulle knurrte und stellte sich eine Windböe vor, aber der Schlächter schoss nicht. Er stand da, als wäre er … als wäre er bloß eine Statue.

Perrin fluchte und fuhr herum, während ein Pfeil an ihm vorbeischoss und seine Taille nur knapp verfehlte. Der echte Schlächter stand ein kurzes Stück entfernt; er verschwand und ließ die erstaunlich detaillierte Statue, die er erschaffen hatte, um Perrin abzulenken, zurück.

Perrin holte tief Luft und ließ den Schweiß von seiner Stirn verschwinden. Der Schlächter konnte ihn aus jeder Richtung angreifen. Er stemmte den Rücken gegen eine Wand und blieb angespannt stehen, musterte das Dach. Die Kuppel über ihm bewegte sich. Daran hatte er sich gewöhnt – sie bewegte sich zusammen mit ihm.

Aber er bewegte sich nicht.

Voller Panik sah er an sich herab. Die Tasche war verschwunden – der Pfeil des Schlächters hatte sie abgeschnitten. Perrin raste zum Dachrand. Unten rannte der Schlächter die Straße entlang, die Tasche in der Hand.

Aus einer Gasse sprang ein Wolf und schleuderte den Schlächter zu Boden. Springer.

Einen Augenblick später war Perrin da und griff an. Der Schlächter fluchte, verschwand unter Springer und erschien am Ende der Straße. Er ergriff die Flucht und hinterließ nur einen Schemen.

Perrin folgte ihm. Springer schloss sich ihm an. Wie hast du mich gefunden?, fragte Perrin.

Ihr seid beide alberne Welpen, übermittelte Springer. Sehr laut. Wie fauchende Katzen. Leicht zu finden.

Er hatte Springer absichtlich nicht gezeigt, wo er war. Nachdem er Eichentänzerin hatte sterben sehen… nun, das war Perrins Kampf. Da das Ter’angreal nun aus Ghealdan weg war und seine Leute entkamen, wollte er nicht das Leben weiterer Wölfe riskieren.

Nicht, dass Springer gehen würde, wenn er ihm das befahl. Knurrend jagte Perrin dem Schlächter hinterher, den Wolf an seiner Seite.


Egwene hockte keuchend an der Korridorwand; Schweiß tropfte von ihrer Stirn. Gegenüber von ihr kühlten von einer Feuerkugel geschmolzene Steintropfen.

Im Turmkorridor breitete sich Stille aus. An der Wand flackerten ein paar Lampen. Durch ein Fenster konnte sie den purpurnen Himmel zwischen dem Turm und den dunklen Wolken sehen. Der Kampf schien schon Stunden zu dauern, obwohl es vermutlich nur fünfzehn Minuten gewesen waren. Die Weisen Frauen hatte sie aus den Augen verloren.

Langsam schlich sie vorwärts und machte ihre Schritte mit dem Gewebe gegen Lauscher lautlos, bis sie eine Ecke erreichte und einen Blick riskierte. In beiden Richtungen herrschte Dunkelheit. Egwene schlich vorsichtig, aber entschlossen weiter. Die Weiße Burg war ihre Domäne. Sie fühlte sich überfallen, genau wie bei den Seanchanern. Aber dieser Kampf unterschied sich sehr von der Abwehr der Seanchaner. Damals war der Feind kühn und leicht zu entdecken gewesen.

Schwacher Lichtschein erschien unter einem Türspalt voraus. Mit vorbereiteten Geweben versetzte sie sich in den Raum. Zwei Frauen flüsterten dort miteinander, eine hielt eine Lichtkugel. Evanellein und Mestra, zwei der Schwarzen Schwestern, die aus der Weißen Burg geflohen waren.

Egwene griff mit einem Feuerball an, der Mestra in ein Inferno tauchte und vernichtete. Evanellein schrie auf, und Egwene wandte einen Trick an, den Nynaeve ihr beigebracht hatte – in Gedanken stellte sie sich eine völlig debile Evanellein vor, unfähig zu denken, unfähig zu reagieren.

Ein glasiger Blick trat in die Augen der Frau, ihr Mund schloss sich nicht mehr. Gedanken waren schneller als Gewebe. Egwene zögerte. Und nun? Sie töten, während sie sich nicht verteidigen konnte? Bei der Vorstellung drehte sich ihr der Magen um. Ich könnte sie gefangen nehmen. Und dann …

Jemand erschien im Zimmer. Sie trug Schwarz, ein prächtiges Gewand mit Silberbesatz. Dunkelheit aus wirbelnden Stoffstreifen umwehte sie, bauschte den Rock auf. Der Effekt war unnatürlich und eindrucksvoll, allein hier in Tel’aran’rhiod möglich.

Egwene sah der Frau in die Augen. Groß und blau, in einem knochigen Gesicht mit kinnlangem schwarzen Haar. Da funkelte Macht in diesen Augen, und Egwene wusste sofort, was ihr dort gegenüberstand. Warum kämpfen? Sie konnte unmöglich …

Egwene fühlte, wie sich ihre Einstellung veränderte, wie sie zu akzeptieren begann. Panik durchzuckte sie, und in einem Augenblick der Klarheit schickte sie sich weg.

Sie erschien in ihrem Gemach, hielt sich den Kopf und setzte sich auf ihr Bett. Beim Licht, diese Frau war wirklich stark gewesen.

Hinter ihr ertönte ein Laut; jemand erschien im Zimmer. Egwene sprang auf die Füße und bereitete Gewebe vor. Dort stand Nynaeve, die Augen vor Wut weit aufgerissen. Sie stieß die Hände nach vorn, und Gewebe bildeten sich, aber dann erstarrte sie.

»In den Garten«, sagte Egwene, die ihren Gemächern nicht vertraute. Sie hätte nicht herkommen dürfen; Mesaana würde diesen Ort kennen.

Nynaeve nickte, und Egwene verschwand und erschien im unteren Burggarten. Über ihr erstreckte sich die seltsame violette Kuppel. Was war das, und wie hatte Mesaana es bloß hergebracht? Nynaeve erschien einen Augenblick später.

»Sie sind noch immer dort oben«, flüsterte sie. »Ich habe gerade Alviarin gesehen.«

»Ich bin Mesaana begegnet«, sagte Egwene. »Sie hat mich beinahe überwältigt.«

»Beim Licht! Bist du wohlauf?«

Egwene nickte. »Mestra ist tot. Ich habe auch Evanellein gesehen.«

»Dort oben ist es so finster wie in einer Gruft«, flüsterte Nynaeve. »Ich glaube, dafür haben sie gesorgt. Siuan und Leane geht es gut; sie sind zusammengeblieben, ich habe sie vor kurzem gesehen. Kurz davor konnte ich Notori mit einem Feuerstoß treffen. Sie ist tot.«

»Gut. Die Schwarze Ajah stahl neunzehn Ter’angreale. Das könnte uns einen Anhaltspunkt geben, mit wie vielen Schwarzen Ajah wir es zu tun haben.« Sie, Siuan, Nynaeve, Leane und die Weisen Frauen waren in der Unterzahl – aber die Schwarzen Ajah schienen mit Tel’aran’rhiod keine große Erfahrung zu haben.

»Hast du die Weisen Frauen gesehen?«

»Sie sind dort oben.« Nynaeve verzog das Gesicht. »Sie scheinen das zu genießen.«

»Das sieht ihnen ähnlich«, erwiderte Egwene. »Ich will, dass wir beide zusammenbleiben. Wir versetzen uns in die Korridorkreuzungen, Rücken an Rücken, und halten nach Lichtern oder Leuten Ausschau. Wenn du eine Schwarze siehst, schlag zu. Wenn jemand dich entdeckt, sagst du ›Geh‹, und wir springen wieder her.«

Nynaeve nickte.

»Die erste Kreuzung ist direkt vor meinen Gemächern«, sagte Egwene. »Der Korridor auf der Südseite. Ich flute ihn mit Licht; du hältst dich bereit. Von dort springen wir einen Korridor nach unten, neben die Tür zur Rampe der Diener. Dann weiter nach unten.«

Nynaeve nickte knapp.

Um Egwene verblasste die Welt. Sie erschien in einem Korridor und stellte ihn sich sofort hell erleuchtet vor, zwang ihm ihren Willen auf. Licht überflutete den Ort. An der Wand kauerte eine Frau mit rundem Gesicht, die Weiß trug. Sedore, eine der Schwarzen Schwestern.

Sedore fuhr mit wutverzerrter Miene herum, während sich Gewebe um sie herum bildeten. Egwene arbeitete schneller und erschuf eine Feuersäule, bevor Sedore die ihre auslösen konnte. Egwene verzichtete auf Gewebe. Da war nur das Feuer.

Die Schwarze riss die Augen auf, als die Flammen brüllend über ihr zusammenschlugen. Sedore kreischte auf, aber das verstummte sofort, als die Hitze sie verschlang. Ihre verbrannte Leiche brach qualmend auf dem Boden zusammen.

Egwene stieß einen erleichterten Seufzer aus. »Jemand auf deiner Seite?«

»Nein«, sagte Nynaeve. »Wen hast du getroffen?«

»Sedore.«

»Wirklich?«, sagte Nynaeve und drehte sich um. Sie war eine Sitzende der Gelben gewesen.

Egwene lächelte. »Der nächste Korridor.«

Sie sprangen und wiederholten ihre Strategie, fluteten den Gang mit Licht. Es war niemand da, also gingen sie weiter. Die nächsten beiden Korridore waren leer. Egwene wollte gehen, als eine Stimme zischte: »Dummes Kind! Euer Muster ist offensichtlich.«

Egwene fuhr herum. »Wo …«

Sie verstummte, als sie Bair entdeckte. Die alte Weise Frau hatte ihre Kleidung und sogar ihre Haut verändert, um sich den weißen Wänden und Bodenfliesen anzupassen. Praktisch unsichtbar kauerte sie in einem Alkoven.

»Ihr solltet nicht…«, setzte Bair an.

Die gegenüberliegende Wand explodierte und schleuderte Steinbrocken durch die Luft. Auf der anderen Seite standen sechs Frauen, und sie schlugen mit Geweben aus Feuer zu.

Anscheinend war die Zeit des Anpirschens vorbei.


Perrin erklomm die Mauer um das Gelände der Weißen Burg und landete schwer. Die Merkwürdigkeiten des Wolfstraums hörten nicht auf; jetzt roch er nicht nur seltsame Gerüche, sondern hörte auch seltsame Laute. Ein Grollen aus dem Inneren des Turms.

Er jagte hinter dem Schlächter her, der das Gelände überquerte und dann die Turmwand selbst hinauflief. Perrin folgte ihm und rannte die Luft hoch. Der Schlächter behielt seinen Vorsprung bei, die Tasche mit dem Ter’angreal an den Gürtel geschnallt.

Perrin erschuf einen Langbogen. Er spannte die Sehne, blieb ruckartig auf der Seite des Turms stehen. Er schoss, aber der Wolfstöter tat einen Satz und fiel dann durch ein Fenster in den Turm. Der Pfeil flog über seinen Kopf hinweg.

Mit einem Satz erreichte Perrin das Fenster und duckte sich hinein. Springer folgte ihm wie ein Schemen in der Luft. Sie betraten ein Schlafzimmer, das mit blauem Brokat verziert war. Die Tür knallte zu, und Perrin stürmte hinter dem Schlächter her. Er machte sich nicht die Mühe, die Tür zu öffnen; er zertrümmerte sie mit seinem Hammer.

Der Schlächter rannte den Korridor entlang.

Folge ihm, wies Perrin den Wolf an. Ich schneide ihm den Weg ab.

Springer hetzte hinter dem Schlächter her. Perrin rannte nach rechts, dann in den nächsten Korridor hinein. Die Wände rasten an ihm vorbei.

Er passierte einen Gang, der voller Menschen zu sein schien. Er war so überrascht, dass er stehen blieb und ein Ruck durch den Korridor zu gehen schien.

Es waren Aes Sedai, und sie kämpften. Alles war hell erleuchtet, Feuerbälle flogen von einem Ende zum anderen. Also hatte er zuvor gar keine Phantomgeräusche gehört. Und, dachte er, ja…

» Egwene?«, fragte er.

Sie drückte sich in der Nähe gegen die Wand und starrte konzentriert den Gang entlang. Als er sprach, kreiselte sie auf dem Absatz herum und riss die Hände hoch. Etwas Unsichtbares packte nach ihm. Aber sein Geist reagierte sofort und stieß die Luft von sich.

Egwene starrte ihn überrascht an, als sie ihn nicht packen konnte.

Er trat vor. »Egwene, du solltest nicht hier sein. Dieser Ort ist gefährlich.«

»Pern’n?«

»Ich weiß nicht, wie du hergefunden hast«, sagte er. »Aber du musst jetzt gehen. Bitte.«

»Wie hast du mich aufhalten können?«, verlangte sie zu wissen. »Was tust du überhaupt hier? Warst du mit Rand zusammen? Sag mir, wo er ist.«

Sie sprach mit solcher Autorität. Sie erschien ihm beinahe wie eine völlig andere Person, die Jahrzehnte älter als das Mädchen war, das er gekannt hatte. Er wollte antworten, aber sie schnitt ihm das Wort ab.

»Ich habe dafür jetzt keine Zeit«, sagte sie. »Es tut mir leid, Perrin. Ich komme zurück zu dir.« Sie hob die Hand, und er fühlte, wie sich die Realität um ihn herum veränderte. Seile erschienen aus dem Nichts und fesselten ihn.

Amüsiert schaute er an sich herab. Die Seile rutschten in dem Augenblick herunter, in dem er sie als zu lose betrachtete.

Egwene blinzelte und sah ungläubig zu, wie sie zu Boden fielen. »Wie…«

Jemand stürmte aus einem Zimmer in der Nähe, eine hochgewachsene Frau mit schlankem Hals und schwarzen Haaren, die ein eng anliegendes weißes Kleid trug. Sie hob lächelnd die Hände, und ein Licht erschien vor ihr.

Perrin musste nicht wissen, was sie da tat. Er war ein Wolf; er war der Herrscher dieses Ortes. Gewebe waren bedeutungslos. Er stellte sich vor, dass der Angriff der Frau ihn verfehlte; er wusste, dass es so passieren würde.

Ein greller Lichtstreifen löste sich von der Frau. Perrin hob eine Hand vor sich und Egwene. Das Licht verschwand, als hätte es seine Hand aufgehalten.

Egwene drehte sich um, und über der Frau zerplatzte die Mauer. Ein Trümmerstück krachte brutal gegen ihren Kopf und schickte sie zu Boden. Beim Licht, nach so einem Schlag war sie vermutlich tot.

Egwene roch nach Erstaunen. Sie fuhr zu ihm herum. »Baalsfeuer? Du hast Baalsfeuer aufgehalten? Nichts sollte das schaffen können.«

»Es ist doch nur ein Gewebe«, erwiderte Perrin und tastete in Gedanken nach Springer. Wo war der Schlächter?

»Es ist nicht nur ein Gewebe, Perrin, es ist…«

» Es tut mir leid, Egwene. Wir unterhalten uns später. Sei an diesem Ort vorsichtig. Vermutlich ist dir das bereits klar, aber trotzdem. Es ist gefährlicher, als du ahnst.«

Er drehte sich um und lief los, ließ die nach Worten suchende Egwene zurück. Anscheinend hatte sie es geschafft, eine Aes Sedai zu werden. Das war gut; sie verdiente es.

Springer? Wo bist du?

Die einzige Antwort war ein plötzlicher furchterregender Schmerzimpuls.


Gawyn kämpfte gegen drei lebende Schatten aus Dunkelheit und Stahl um sein Leben.

Sie bedrängten ihn bis an die Grenzen seiner Fähigkeiten, fügten ihm ein halbes Dutzend blutende Wunden an Armen und Beinen zu. Mit Der Wirbelsturm wütet verteidigte er seine empfindlicheren Körperteile. Und das auch nur so gerade eben.

Sein Blut befleckte die Vorhänge um Egwenes Bett. Falls seine Gegner sie bereits getötet hatten, dann führten sie jedenfalls ein überzeugendes Schauspiel auf, sie weiterhin zu bedrohen.

Er ermüdete und wurde schwächer. Seine Stiefel hinterließen blutige Abdrücke auf dem Boden. Er fühlte keinen Schmerz. Seine Paraden kamen schwerfällig. In wenigen Augenblicken würden sie ihn überwältigen.

Es kam keine Hilfe, obwohl er heiser vom Rufen war. Du Narr! Du musst mehr Zeit mit Nachdenken verbringen und weniger damit, dich kopfüber in die Gefahr zu stürzen! Er hätte die ganze Burg alarmieren sollen.

Er war allein noch aus dem Grund am Leben, weil die drei vorsichtig waren und ihn auslaugten. Sobald er tot war, würden sie zu einem Amoklauf durch die Weiße Burg aufbrechen, genau wie die Sul’dam angedeutet hatte. Die Aes Sedai würden völlig überrascht werden. Diese Nacht konnte zu einer größeren Katastrophe auswachsen als der erste Angriff der Seanchaner.

Die drei bewegten sich vorwärts.

O nein!, dachte Gawyn, als einer von ihnen zu Der Fluss unterspült das Ufer ansetzte. Mit einem Satz nach vorn wich er zwei Klingen aus und schwang seine Waffe. Erstaunlicherweise traf er, und ein Aufschrei ertönte. Blut spritzte über den Boden, eine Schattengestalt fiel.

Die anderen beiden stießen Flüche aus, und jeder Vorwand, ihn langsam zu ermüden, hörte auf. Waffen blitzten aus dunklem Nebel, als sie auf ihn einschlugen. Erschöpft trug Gawyn einen weiteren Treffer an der Schulter davon, und Blut strömte seinen Arm unter dem Ärmel herab.

Schatten. Wie sollte ein Mann nur gegen Schatten kämpfen? Es war unmöglich!

Wo Licht ist, da muss auch Schatten sein …

Ihm kam ein letzter verzweifelter Gedanke. Mit einem Aufschrei sprang er zur Seite und riss ein Kissen von Egwenes Bett. Klingen zerschnitten die Luft um ihn herum, während er das Kissen gegen die Lampe rammte und sie löschte.

Der Raum wurde in Dunkelheit getaucht. Kein Licht. Keine Schatten.

Gleichheit.

Die Dunkelheit machte alles gleich, und in der Nacht konnte man keine Farben erkennen. Er konnte das Blut auf seinen Armen nicht sehen, konnte die schwarzen Schatten seiner Feinde oder Egwenes weißes Bett nicht sehen. Aber er konnte die Bewegungen der Männer hören.

Die Klinge zu einem verzweifelten Schlag erhebend, benutzte er Kolibri küsst die Honigrose und erahnte, in welche Richtung sich die Blutmesser bewegten. Vorbei war die Ablenkung durch ihre nebelhaften Gestalten, und sein Hieb traf und schnitt ins Fleisch.

Er riss die Klinge herum und hebelte sie frei. Abgesehen von dem stürzenden Mann, den er erwischt hatte, herrschte Stille im Raum. Gawyn hielt den Atem an, sein Herzschlag pochte laut in seinen Ohren. Wo war der letzte Attentäter?

Aus dem angrenzenden Zimmer kam kein Lichtschein;

Celark war vor der Tür zusammengebrochen und blockierte den Türspalt.

Gawyn fühlte sich zittrig. Er hatte zu viel Blut verloren. Hätte er doch nur etwas, das er zur Ablenkung werfen könnte … aber nein. Eine Bewegung würde Stoff rascheln lassen und ihn verraten.

Also biss er die Zähne zusammen, trat mit dem Fuß auf und hob die Klinge, um seinen Hals zu schützen, betete zum Licht, dass der Angriff von unten kam.

Das tat er auch, schnitt tief in seine Seite. Er nahm es mit einem Grunzen hin, schlug aber sofort mit allem zu, was er noch hatte. Sein Schwert zischte durch die Luft, traf kurz ein Hindernis und durchschnitt dann etwas. Gefolgt von einem dumpfen Poltern; ein abgeschlagener Kopf prallte von der Wand, eine Leiche schlug auf dem Boden auf.

Gawyn sackte gegen das Bett, Blut spritzte aus seiner Seite. Um ihn herum wurde alles schwarz, er verlor das Bewusstsein, obwohl das in dem dunklen Raum schwer festzustellen war.

Er griff nach der Stelle, wo sich seiner Erinnerung nach Egwenes Hand befinden musste, war aber zu schwach, sie zu finden.

Einen Augenblick später prallte er auf dem Boden auf. Sein letzter Gedanke war, dass er immer noch nicht wusste, ob sie tot war oder nicht.


»Große Herrin«, sagte Katerine und kniete vor Mesaana nieder, »wir können den von Euch beschriebenen Gegenstand nicht finden. Die Hälfte unserer Frauen sucht danach, während die andere Hälfte gegen die Würmer kämpft, die sich uns widersetzen. Aber er ist nirgendwo!«

Mesaana verschränkte die Arme unter den Brüsten, während sie die Situation überdachte. Mit einer beinah unbewussten Geste peitschte sie Katerines Rücken mit einem Strang Luft. Scheitern musste immer bestraft werden. Konsistenz war der Schlüssel zu jeder Ausbildung.

Um sie herum grollte die Weiße Burg, obwohl sie hier sicher war. Sie hatte dieser Gegend ihren Willen aufgezwungen und einen neuen Raum unterhalb der Kellergewölbe erschaffen, in dem sie eine Nische aus dem Felsen grub. Die Kinder, die oben kämpften, glaubten diesen Ort offensichtlich zu kennen, dabei waren sie tatsächlich nur Kinder. Vor ihrer Gefangennahme hatte sie Tel’aran’rhiod ein Jahrhundert lang betreten.

Der Turm grollte erneut. Sorgfältig betrachtete sie ihre Situation von allen Seiten. Irgendwie hatten die Aes Sedai einen Traumnagel gefunden. Wie waren sie auf einen solchen Schatz gestoßen? Mesaana war beinahe genauso sehr daran interessiert, ihn in ihre Hände zu bekommen, wie sie dieses Kind beherrschen wollte, die Amyrlin Egwene al’Vere. Die Fähigkeit, sämtliche Wegetore in seinen Zufluchtsort zu blockieren … nun, das war ein Werkzeug von entscheidender Bedeutung, vor allem wenn sie endlich gegen die anderen Auserwählten losschlug. Viel effektiver als die Schutzgewebe, die Träume vor jedem Eindringling schützten, und er verhinderte sämtliche Formen des Schnellen Reisens in oder aus der Gegend, es sei denn, man ließ es zu.

Da der Traumnagel aber eingesetzt wurde, konnte auch sie den Kampf mit den Kindern über ihr nicht an einen passenderen, vorher sorgfältig ausgesuchten Ort verlegen. Wirklich ärgerlich. Aber nein, sie würde nicht zulassen, die Situation gefühlsmäßig zu betrachten.

»Kehrt nach oben zurück und konzentriert alles darauf, die Frau Egwene al’Vere gefangen zu nehmen«, befahl Mesaana. »Sie wird wissen, wo das Gerät ist.« Ja, das war ihr jetzt klar. Mit einer einzigen Handlung würde sie zwei Siege erringen.

»Ja … Herrin …« Katerine duckte sich noch immer zusammen, während die Peitschenhiebe aus Luft auf ihrem Rücken niederprasselten. Ach ja. Mesaana winkte knapp und löste das Gewebe auf. Dabei kam ihr ein Gedanke.

»Wartet einen Moment«, sagte sie zu Katerine. »Ich werde Euch mit einem Gewebe ausstaffieren …«

Perrin erschien auf der Turmspitze der Weißen Burg.

Der Schlächter hielt Springer am Nackenfell gepackt. Ein Pfeil steckte im Leib des Wolfes; Blut floss über seine Pfote. Wind wehte, erfasste das Blut und sprühte es über die Steine.

»Springer!« Perrin machte einen Schritt auf ihn zu. Noch konnte er Springers Gedanken spüren, aber sie waren schwach.

Der Schlächter stemmte den Wolf in die Höhe. Er hob das Messer.

»Nein«, sagte Perrin. »Du hast, was du willst. Geh einfach.«

»Und was du vorhin gesagt hast?«, fragte der Schlächter. »Dass du weißt, wo ich hingehe und mir folgst? Der Traumnagel ist auf dieser Seite zu leicht zu finden.«

Und er warf den Wolf lässig über den Turmrand.

»NEIN!«, brüllte Perrin. Er sprang zum Rand, aber der Schlächter erschien neben ihm, packte ihn, hob den Dolch. Der Sprung stieß sie beide vom Turm. Perrins Magen machte einen Satz, als sie stürzten.

Er wollte sich versetzen, aber der Schlächter hielt ihn gepackt, und er versuchte mit aller Kraft, sie dort festzuhalten. Kurz erbebten beide, aber sie fielen weiter.

Der Schlächter war so stark. Er roch verkehrt, abgestanden und nach Wolfsblut. Sein Messer suchte Perrins Kehle, und ihm fiel nichts Besseres ein, als es mit dem Arm abzuwehren und sein Hemd so hart wie Stahl zu denken.

Der Schlächter verstärkte den Druck. Perrin erlebte einen Augenblick der Schwäche, die Verletzung auf seiner Brust pochte, während er und sein Feind in die Tiefe stürzten. Das Messer durchdrang den Ärmel und stieß in seinen Unterarm.

Perrin schrie auf. Der Wind war so laut. Nur wenige Sekunden waren vergangen. Der Schlächter riss das Messer heraus.

Springer!

Aufbrüllend trat Perrin nach dem Schlächter, stieß ihn weg, brach seinen Griff. Mit brennendem Arm drehte er sich in der Luft. Der Boden schoss auf sie zu. Er zwang sich an einen anderen Ort und erschien direkt unter Springer, packte den Wolf und krachte in die Erde. Seine Knie gaben nach; um ihn herum zersprang der Boden. Aber er legte Springer sicher ab.

Ein schwarzgefiedeter Pfeil sauste aus dem Himmel und traf Springers Rücken, durchbohrte seinen Körper und grub sich in Perrins Oberschenkel, der sich direkt unter dem Wolf befand.

Perrin schrie auf, als sich sein eigener Schmerz mit der plötzlichen Woge der Pein vermengte. Der Geist des Wolfes verblich.

»Nein!«, übermittelte Perrin mit Tränen in den Augen. Junger Bulle…

Perrin versuchte sich zu versetzen, aber sein Verstand war benebelt. Gleich würde der nächste Pfeil einschlagen. Das wusste er. Er schaffte es auszuweichen, als das Geschoss in den Boden einschlug, aber sein Bein ließ ihn im Stich und Springer war so schwer. Perrin stürzte zu Boden und ließ den Wolf fallen, der davonrollte.

Ein kurzes Stück entfernt landete der Schlächter, den langen bösartigen schwarzen Bogen in der Hand. »Leb wohl, Aybara.« Er hob den Bogen. » Sieht so aus, als würde ich heute fünf Wölfe töten.«

Perrin starrte zu dem Pfeil hoch. Alles war verschwommen.

Ich kann Faile nicht verlassen. Ich kann Springer nicht verlassen.

Ich werde es nicht!

Als der Schlächter die Sehne losließ, stellte sich Perrin verzweifelt stark vor, nicht schwach. Er fühlte, wie sein Herz wieder gesund wurde, sich seine Adern mit Kraft füllten. Er schrie, sein Kopf klärte sich lange genug, dass er sich versetzen und hinter dem Schlächter wieder auftauchen lassen konnte.

Er schwang den Hammer.

Der Schlächter drehte sich lässig um und wehrte ihn mit dem Arm ab, der so unfassbar stark war. Perrin fiel auf ein Knie, und der Schmerz in seinem Bein war noch immer da. Er keuchte auf.

»Du kannst dich nicht selbst heilen«, sagte der Schlächter. »Es gibt viele Möglichkeiten, aber sich einfach gesund vorzustellen funktioniert nicht. Allerdings scheinst du herausgefunden zu haben, wie du dein Blut auffrischst, was nützlich ist.«

Perrin roch etwas. Schrecken. War es sein eigener?

Nein. Nein, da. Hinter dem Schlächter hatte sich eine Tür in die Weiße Burg geöffnet. Sie zeigte Finsternis. Nicht nur Schatten. Finsternis. Perrin hatte genügend mit Springer geübt, um zu erkennen, worum es sich handelte.

Ein Albtraum.

Als der Schlächter den Mund öffnete, um etwas zu sagen, knurrte Perrin und warf sein ganzes Gewicht nach vorn, krachte in seinen Todfeind hinein. Sein Bein schrie vor Schmerz auf.

Sie stolperten direkt in die Finsternis des Albtraums.

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