51 Eine Prüfung

Mins Nackenhaare stellten sich auf, als sie das Kristallschwert nahm. Callandor. Seit ihrer Kindheit hatte sie Geschichten über diese Waffe gehört, wilde Geschichten über das ferne Tear und das seltsame Schwert das kein Schwert ist. Jetzt hielt sie es in der Hand.

Es war viel leichter als erwartet. Die lange kristalline Schneide fing das Lampenlicht ein und spielte damit. Sie schien zu sehr zu schimmern, in ihrem Inneren veränderte sich das Licht auch dann, wenn sich Min nicht bewegte. Der Kristall war glatt, aber warm. Beinahe fühlte er sich lebendig an.

Rand stand vor ihr und betrachtete die Waffe. Sie befanden sich in ihren Gemächern im Stein von Tear, zusammen mit Cadsuane, Narishma, Merise, Naeff und zwei Töchtern.

Rand streckte die Hand aus und berührte die Waffe. Min sah ihn an, und über ihm erwachte eine Sicht zum Leben. Ein glühendes Schwert, Callandor, das von einer schwarzen Hand gehalten wurde. Sie keuchte auf.

»Was hast du gesehen?«, fragte Rand leise. »Callandor, gehalten von einer Faust. Die Hand schien aus Onyx zu sein.«

»Hast du eine Idee, was es bedeuten könnte?« Sie schüttelte den Kopf.

»Wir sollten es wieder verbergen«, sagte Cadsuane. Heute trug sie Braun und Grün, Erdfarben, die von ihrem goldenen Haarschmuck aufgehellt wurden. Sie stand mit verschränkten Armen kerzengerade da. »Pfff! Den Gegenstand jetzt hervorzuholen ist leichtsinnig, mein Junge!«

»Ich nehme Euren Einwurf zur Kenntnis«, sagte Rand. Er nahm das Sa’angreal von Min entgegen und schob es dann hinter der Schulter in eine Scheide auf seinem Rücken. An der Seite trug er wieder das uralte Schwert, auf dessen Scheide die rotgoldenen Drachen aufgemalt waren. Er hatte erwähnt, dass er es für eine Art Symbol hielt. Für ihn repräsentierte es die Vergangenheit, und Callandor - irgendwie – die Zukunft.

»Rand.« Min nahm ihn beim Arm. »Meine Forschungen … Callandor scheint einen tieferliegenden Fehler zu haben, als wir entdeckten. Diese Sicht untermauert bloß das, was ich zuvor sagte. Ich mache mir Sorgen, dass man es gegen dich benutzen könnte.«

»Ich vermute, das wird auch geschehen«, sagte Rand. »Alles andere auf der Welt ist gegen mich benutzt worden. Narishma, bitte ein Wegetor. Wir haben die Grenzländer lange genug warten lassen.«

Der Asha’man nickte, die Glöckchen in seinem Haar klirrten.

Rand wandte sich an Naeff. »Naeff, noch immer keine Nachricht aus der Schwarzen Burg?«

»Nein, mein Lord«, sagte der hochgewachsene Asha’man.

»Ich konnte nicht dorthin Reisen«, sagte Rand. »Das deutet auf großen Ärger hin, schlimmer als ich befürchtete. Benutzt dieses Gewebe, es kann Euch verkleiden. Reist an einen Ort einen Tagesritt entfernt, dann reitet hin und versteckt Euch. Seht, was Ihr entdecken könnt. Helft, wenn Ihr könnt, und solltet Ihr Logain und die finden, die loyal zu ihm stehen, übergebt ihm eine Botschaft.«

»Welche Botschaft, mein Lord?«

Rand wirkte in Gedanken versunken. »Sagt ihnen, dass ich mich geirrt habe. Sagt ihnen, dass wir keine Waffen sind. Wir sind Männer. Vielleicht hilft das ja. Seid vorsichtig. Das könnte gefährlich sein. Gebt mir Bescheid. Ich muss hier noch ein paar Dinge klären, aber ich könnte leicht in eine Falle tappen, die viel gefährlicher ist als alles, dem ich bis jetzt entgehen konnte. Probleme… so viele Probleme, die geklärt werden müssen. Und von meiner Sorte gibt es nur einen. Geht dieses Mal an meiner Stelle, Naeff. Ich brauche Informationen.«

»Ich … ja, mein Lord.« Er erschien verwirrt, aber er verließ den Raum, um zu gehorchen.

Rand holte tief Luft, dann rieb er sich den Armstumpf. » Gehen wir.«

»Bist du sicher, dass du nicht mehr Leute mitnehmen willst?«, fragte Min.

»Ja«, sagte Rand. »Cadsuane, haltet Euch bereit, falls nötig ein Wegetor zu öffnen und uns dort wegzuschaffen.«

»Wir gehen nach Far Madding, mein Junge«, sagte Cadsuane. »Ihr habt doch wohl nicht vergessen, dass wir dort die Quelle nicht berühren können.«

Rand lächelte. »Und Ihr tragt ein vollständiges Paralisnetz im Haar, das eine Quelle enthält. Ich bin davon überzeugt, dass Ihr sie gefüllt haltet, und das dürfte ausreichen, um ein einzelnes Wegetor zu erschaffen.«

Cadsuanes Miene wurde ausdruckslos. »Ich habe noch nie etwas von einem Paralisnetz gehört.«

»Cadsuane Sedai«, sagte Rand leise. »Euer Netz hat ein paar Verzierungen, die ich nicht erkenne – ich vermute mal, dass es eine Konstruktion aus der Zeit der Zerstörung der Welt ist. Aber ich war dabei, als man die ersten entwarf, und ich trug die ursprüngliche männliche Version.«

Im Raum kehrte Schweigen ein.

»Nun, mein Junge«, sagte Cadsuane schließlich. »Ihr …«

»Werdet Ihr diese Affektiertheit denn niemals aufgeben, Cadsuane Sedai?«, fragte Rand. »Mich Junge zu nennen? Es stört mich nicht mehr, aber es fühlt sich seltsam an. An dem Tag, an dem ich während des Zeitalters der Legenden starb, war ich vierhundert Jahre alt. Vermutlich macht Euch das zumindest mehrere Jahrzehnte jünger als mich. Ich erweise Euch den nötigen Respekt. Vielleicht wäre es angebracht, wenn Ihr ihn erwidert. Wenn Ihr wollt, dürft Ihr mich als Rand Sedai ansprechen. Soweit ich weiß, bin ich der einzige noch lebende männliche Aes Sedai, der auf die angemessene Weise erhoben wurde und sich nie dem Schatten zuwandte.« Cadsuane wurde sichtlich blass.

Rands Lächeln wurde freundlich. »Ihr wolltet dazukommen und mit dem Wiedergeborenen Drachen tanzen, Cadsuane. Ich bin, was ich sein muss. Habt Mut – Ihr stellt Euch den Verlorenen, habt aber jemanden an Eurer Seite, der genauso alt wie sie ist.« Er wandte sich von ihr ab, und ein gedankenverlorener Ausdruck trat in seine Augen. »Wenn hohes Alter doch bloß tatsächlich ein Hinweis auf große Weisheit wäre. Eine schöne Vorstellung, genau wie der Wunsch, dass uns der Dunkle König einfach in Ruhe lässt.«

Er nahm Mins Arm, und zusammen traten sie durch Narishmas Wegetor. Auf der anderen Seite wartete eine kleine Gruppe Töchter auf einer Waldlichtung und bewachte eine Gruppe Pferde. Min stieg in den Sattel, und ihr entging nicht, wie reserviert Cadsuane aussah. Was nicht verkehrt war. Wenn Rand auf diese Weise sprach, bereitete das Min größere Sorgen, als sie zugeben wollte.

Sie verließen das kleine Gehölz und schlugen die Richtung nach Far Madding ein, einer eindrucksvollen Stadt auf einer Insel in der Mitte eines Sees. Um den See breitete sich ein großes Heer mit Hunderten Bannern aus.

»Weißt du, das war immer schon eine wichtige Stadt«, sagte Rand zu Min und blickte wieder in die Ferne. »Die Wächter sind neueren Datums, aber die Stadt gab es schon vor langer Zeit. Aren Deshar, Aren Mador, Far Madding. Aren Deshar war immer ein Dorn in unserer Seite. Die Enklave der Incastar – die, die den Fortschritt fürchteten, die Angst vor den Wundern hatten. Wie sich herausstellte, hatten sie das Recht, Angst zu haben. Wie sehr ich mir wünsche, ich hätte auf Gilgame …«

»Rand?«, sagte Min leise.

Das holte ihn aus seinen Erinnerungen. »Ja?«

» Stimmt das wirklich, was du da gesagt hast? Bist du vier Jahrhunderte alt?«

»Ich glaube, es sind fast viereinhalb. Muss man meine Jahre in diesem Zeitalter zu den anderen hinzufügen?« Er sah sie an. »Du machst dir Sorgen, richtig? Dass ich nicht länger ich bin, der Mann, den du kanntest, der dumme Schafhirte?«

»Du trägst so viel davon in deinem Verstand, so viel Vergangenheit.«

»Nur Erinnerungen«, wehrte Rand ab.

»Aber du bist auch er. Du sprichst, als wärst du derjenige gewesen, der die Bohrung versiegeln wollte. Als hättest du die Verlorenen persönlich gekannt.«

Eine Weile ritt Rand schweigend. »Ich vermute, dass ich tatsächlich er bin. Aber Min, du verstehst da etwas nicht. Ich bin vielleicht jetzt er, aber er war auch immer ich. Ich war immer er. Ich werde mich nicht verändern, nur weil ich mich erinnere – ich war derselbe. Ich bin ich. Und ich bin immer ich gewesen.«

»Lews Therin war verrückt.«

»Am Ende«, sagte Rand. »Und ja, er hat Fehler gemacht. Ich mache Fehler. Ich wurde arrogant, verzweifelt. Aber dieses Mal gibt es einen Unterschied. Einen großen.«

»Welchen Unterschied?«

Er lächelte. »Dieses Mal wurde ich besser erzogen.« Min musste ebenfalls lächeln.

»Du kennst mich, Min. Nun, ich versichere dir, dass ich mich jetzt mehr wie mich selbst fühle als seit Monaten. Ich fühle mich mehr wie mich selbst, als ich das je als Lews Therin tat, falls das überhaupt einen Sinn ergibt. Das liegt an Tarn, an den Menschen in meiner Umgebung. Du, Perrin, Nynaeve, Mat, Aviendha, Elayne, Moiraine. Er hat sich große Mühe gegeben, mich zu brechen. Ich glaube, wäre ich derselbe gewesen, der ich vor so langer Zeit war, hätte er Erfolg gehabt.«

Sie ritten über die Wiese, die Far Madding umgab. Wie überall war das Grün verblichen und hatte nur Gelb und Braun zurückgelassen. Es wurde immer schlimmer.

Glaube fest daran, dass es nur schlummert, sagte sich Min. Das Land ist nicht tot. Es wartet den Winter über. Ein Winter aus Stürmen und Krieg.

Narishma, der hinter ihnen ritt, stieß ein leises Zischen aus. Min schaute zurück. Die Miene des Asha’man war versteinert. Anscheinend hatten sie die Blase des Wächters betreten. Rand ließ sich nicht anmerken, dass er das bemerkt hatte. Er schien auch keine Probleme mehr mit Übelkeit zu haben, wenn er die Macht lenkte, was sie sehr erleichterte. Oder überspielte er es nur?

Min konzentrierte sich auf die vor ihnen liegende Aufgabe. Die Heere der Grenzländer hatten nie erklärt, warum sie sich Tradition und Logik verweigert hatten, indem sie nach Süden marschiert waren, um Rand zu finden. Sie wurden verzweifelt gebraucht. Rands Intervention in Maradon hatte gerettet, was von der Stadt noch übrig war, aber wenn das Gleiche überall an der Grenze zur Großen Fäule geschah …

Zwanzig Soldaten mit nach oben gerichteten Lanzen, von denen schmale blutrote Banner hingen, fingen Rands Gruppe ab, lange bevor sie die Heere erreichten. Rand zügelte das Pferd und ließ sie herankommen.

»Rand al’Thor«, verkündete einer der Männer. »Wir sind die Repräsentanten der Einheit der Grenze. Wir stellen die Eskorte.«

Rand nickte, und die Prozession ritt weiter, dieses Mal von Wächtern begleitet.

»Sie nannten dich nicht Lord Drache«, flüsterte Min Rand zu. Er nickte nachdenklich. Vielleicht glaubten die Grenzländer ja nicht, dass er der Wiedergeborene Drache war.

»Verhaltet Euch nicht arrogant, Rand al’Thor«, sagte Cadsuane und lenkte ihr Pferd an seine Seite. »Aber weicht nicht zurück. Die meisten Grenzländer reagieren auf Stärke, wenn sie sie sehen.«

Aha. Cadsuane hatte Rand mit seinem Namen angesprochen, statt ihn »mein Junge« zu nennen. Es erschien wie ein Sieg, und es ließ Min lächeln.

»Ich halte dieses Wegetor bereit«, fuhr Cadsuane bedeutend leiser fort. »Aber es wird sehr klein sein. Die Quelle wird mir nur genug für eins geben, durch das wir durchkriechen müssen. Eigentlich sollten wir es nicht brauchen. Diese Menschen werden für Euch kämpfen. Sie werden für Euch kämpfen wollen. Nur unfähiges närrisches Verhalten könnte sie davon abhalten.«

»Da steckt mehr dahinter, Cadsuane Sedai«, erwiderte Rand mit gedämpfter Stimme. »Etwas trieb sie nach Süden. Das ist eine Herausforderung, und ich weiß nicht so recht, wie ich ihr begegnen soll. Aber ich weiß Euren Rat zu schätzen.«

Cadsuane nickte. Schließlich fiel Min eine Gruppe von Leuten auf, die vor dem Heer Aufstellung genommen hatten. Hinter ihnen standen Tausende von Soldaten in Reihen. Saldaeaner mit ihren vom Sattel krummen Beinen. Schienarer mit Haarknoten. Arafeler, die zwei Schwerter auf den Rücken geschnallt trugen. Kandori mit ihren Gabelbärten.

Die Gruppe, die sich vorn aufgebaut hatte, hatte auf Pferde verzichtet. Alle trugen gute Kleidung. Zwei Frauen und zwei Männer, die alle offensichtlich Aes Sedai an ihrer Seite hatten und zusätzlich noch einen oder zwei Diener.

»Die Frau ganz vorn ist Königin Ethenielle«, flüsterte Cadsuane. »Sie ist streng, aber gerecht. Sie ist dafür bekannt, sich in die Angelegenheiten der südlichen Nationen einzumischen, und ich vermute, dass die anderen ihr heute die Führung überlassen. Der ansehnliche Mann neben ihr ist Paitar Nachiman, der König von Arafel.«

»Ansehnlich?«, fragte Min und musterte den kahl werdenden älteren Arafeler. »Er?«

»Das kommt auf die Perspektive an, Kind«, erwiderte Cadsuane. »Einst war er weithin bekannt für sein Gesicht, und er ist noch immer bekannt für sein Schwert. Neben ihm steht König Easar Togita von Schienar.«

»Wie traurig«, sagte Rand leise. »Wen hat er verloren?«

Min runzelte die Stirn. Easar erschien ihr nicht besonders traurig. Vielleicht etwas ernst.

»Er ist ein Grenzländer«, antwortete Cadsuane. »Er hat sein Leben lang gegen die Trollocs gekämpft. Ich vermute, er hat viele geliebte Menschen verloren. Seine Frau ist vor ein paar Jahren verstorben. Angeblich hat er die Seele eines Dichters, aber er ist ein genügsamer Mann. Es würde viel bedeuten, wenn Ihr seinen Respekt erringen könntet.«

»Dann ist die Letzte also Tenobia.« Rand rieb sich das Kinn. »Ich wünschte noch immer, wir hätten Bashere dabei.« Bashere hatte die Ansicht vertreten, dass sein Gesicht möglicherweise Tenobias Zorn erregen würde, und Rand hatte aus diesem Grund auf die Vernunft gehört.

»Tenobia ist wie ein Feuerbrand«, sagte Cadsuane. »Jung, impertinent und leichtsinnig. Lasst Euch von ihr nicht in ein Streitgespräch verwickeln.«

Rand nickte. »Min?«

»Tenobia hat einen Speer über dem Kopf schweben«, sagte Min. »Er ist blutig, funkelt aber im Licht. Ethenielle wird bald heiraten – das erkenne ich an den weißen Tauben. Sie will heute etwas Gefährliches tun, also sei vorsichtig. Über den anderen beiden schweben Schwerter, Schilde und Pfeile. Beide werden bald kämpfen.«

»In der Letzten Schlacht?«

»Das kann ich nicht sagen«, gestand sie ein. »Es könnte auch heute sein. Hier.«

Die Eskorte führte sie zu den vier Monarchen. Rand glitt vom Sattel und klopfte Tai’daishar auf den Hals, als das Pferd schnaubte. Min wollte genau wie Narishma absteigen, aber Rand hielt sie mit erhobener Hand davon ab.

»Verfluchter Narr«, murmelte Cadsuane leise genug neben Min, dass sie sonst keiner hören konnte. »Ich soll mich für ihn bereithalten, ihn wegzuschaffen, dann lässt er uns zurück?«

»Vermutlich meinte er, dass Ihr mich wegschafft«, sagte Min leise. »Wie ich ihn kenne, macht er sich wegen mir größere Sorgen als um sich selbst.« Sie hielt inne. »Verfluchter Narr.«

Cadsuane warf ihr einen Blick zu, dann lächelte sie schmal, bevor sie die Aufmerksamkeit wieder auf Rand richtete. Er trat vor die vier Monarchen, blieb stehen und hob die Arme an den Seiten, als wollte er fragen: »Und was wollt ihr nun von mir?«

Ethenielle übernahm die Führung, genau wie Cadsuane vermutet hatte. Sie war eine recht füllige Frau, die ihr dunkles Haar aus dem Gesicht gekämmt und hinten zu einem Knoten zusammengebunden hatte. Sie trat auf Rand zu, neben sich einen Mann mit einem in der Scheide steckenden Schwert auf dem Arm, dessen Griff zu ihr gerichtet war.

In die Töchter kam Bewegung. Sie nahmen neben Rand Aufstellung. Wie gewöhnlich gingen sie davon aus, dass der Befehl zurückzubleiben nicht für sie galt.

Ethenielle hob die Hand und schlug Rand ins Gesicht.

Narishma stieß einen Fluch aus. Die Töchter schoben die Schleier hoch und zogen die Speere. Min trieb ihr Pferd an und durchbrach die Linie der Wächter.

»Halt!«, sagte Rand und hob die Hand. Er warf den Töchtern einen Blick zu.

Min hielt ihre Stute an und klopfte ihr auf den Hals. Das Tier war nervös, wie zu erwarten gewesen war. Zögernd gaben die Töchter nach, allerdings nutzte Cadsuane die Gelegenheit, ihr Pferd an Mins Seite zu lenken.

Rand wandte sich wieder Ethenielle zu und rieb sich die Wange. »Ich hoffe, das war eine traditionelle Kandori-Begrü-ßung, Euer Majestät.«

Sie hob eine Braue, dann machte sie eine scharfe Geste, und König Easar von Schienar trat auf Rand zu. Der Mann schlug ihm den Handrücken über den Mund, und zwar hart genug, dass Rand taumelte.

Rand richtete sich wieder auf und winkte die Töchter erneut zurück. Ein schmaler Blutfaden rann ihm über das Kinn. Der Schieanarer musterte ihn einen Augenblick lang, dann nickte er und trat zurück.

Als Nächste kam Tenobia. Sie schlug Rand mit der linken Hand, ein starker Hieb, der laut klatschte. Min fühlte einen Stich des Schmerzes von Rand. Tenobia schüttelte danach die Hand.

König Paitar kam als Letzter. Der alternde Arafeler, der nur noch ein paar Haarbüschel aufzuweisen hatte, trat nachdenklich mit auf dem Rücken verschränkten Händen heran. Er baute sich vor Rand auf, hob die Hand und tauchte die Finger in das Blut auf seiner Wange. Dann versetzte er ihm mit dem Handrücken einen Hieb, der ihn zu Boden schickte und Blut aus seinem Mund spritzen ließ.

Min konnte nicht länger still dasitzen. »Rand!«, rief sie, sprang aus dem Sattel und eilte an seine Seite. Sie stützte ihn, während sie die Monarchen böse anstarrte. »Wie könnt Ihr es wagen! Er kam in Frieden zu Euch.«

»In Frieden?«, sagte Paitar. »Nein, junge Frau, er betrat diese Welt nicht in Frieden. Er hat das Land mit Schrecken, Chaos und Zerstörung verschlungen.«

»Genau wie die Prophezeiungen vorhersagten«, rief Cadsuane und kam herbei, während Min Rand auf die Füße half. »Ihr legt ihm die Last eines ganzen Zeitalters zu Füßen. Ihr könnt nicht einen Mann damit beauftragen, Euer Haus umzubauen, und ihm dann Vorwürfe machen, wenn er eine Wand einreißen muss, um seine Arbeit zu machen.«

»Das setzt voraus, dass er der Wiedergeborene Drache ist«, sagte Tenobia und verschränkte die Arme. »Wir …«

Sie brach ab, als Rand Callandor vorsichtig mit einem schleifenden Geräusch aus der Scheide zog. Er hielt es hoch. »Bestreitet Ihr das hier, Königin Tenobia, Schild des Nordens und Schwert der Fäulnisgrenze, Hohe Herrin von Haus Kazadi? Wollt Ihr diese Waffe ansehen und mich einen falschen Drachen nennen?«

Das brachte sie zum Schweigen. Easar nickte. Hinter ihnen sahen die Truppenreihen mit ihren hoch gehaltenen Lanzen, Piken und Schilden stumm zu. Als wollten sie salutieren. Oder gleich angreifen. Min schaute auf und konnte undeutlich Menschen auf den Mauern von Far Madding ausmachen, die zuschauten.

»Wir wollen weitermachen«, sagte Easar. »Ethenielle?«

»Gut«, sagte die Frau. »Eines muss ich Euch sagen, Rand al’Thor. Selbst wenn Ihr Euch als der Wiedergeborene Drache erweist, müsst Ihr Euch für vieles verantworten.«

»Ihr könnt Euren Preis aus meiner Haut schneiden, Ethenielle«, erwiderte Rand leise und schob Callandor zurück in seine Scheide. »Aber erst nachdem der Dunkle König seinen Tag mit mir hatte.«

»Rand al’Thor«, sagte Paitar. »Ich habe eine Frage für Euch. Wie Ihr sie beantwortet, wird den Ausgang dieses Tages bestimmen. «

»Was für eine Frage?«, verlangte Cadsuane zu wissen.

»Cadsuane, bitte«, sagte Rand und hob die Hand. »Lord Paitar, ich lese es doch in Euren Augen. Ihr wisst, dass ich der Wiedergeborene Drache bin. Ist diese Frage nötig?«

»Sie ist entscheidend, Lord al’Thor«, entgegnete Paitar. »Sie trieb uns her, obwohl meine Verbündeten das nicht von Anfang an wussten. Ich war immer der Ansicht, dass Ihr der Wiedergeborene Drache seid. Das machte meine Suche, die mich zu diesem Ort führte, von noch entscheidenderer Bedeutung. «

Min runzelte die Stirn. Der alternde Soldat griff nach dem Schwertgriff, als wollte er es ziehen. Die Aufmerksamkeit der Töchter steigerte sich noch. Entsetzt erkannte Min, dass Paitar noch immer nahe bei Rand stand. Viel zu nahe.

Er könnte dieses Schwert in einem Lidschlag gezogen und nach Rands Hals geschwungen haben, erkannte sie. Paitar hat sich dort hingestellt, um zuschlagen zu können.

Rand wich dem Blick des Monarchen nicht aus. »Dann stellt Eure Frage.«

»Wie starb Tellindal Tirraso?«

»Wer?«, fragte Min und sah Cadsuane an. Die Aes Sedai schüttelte verwirrt den Kopf.

»Woher kennt Ihr diesen Namen?«, wollte Rand wissen.

»Beantwortet die Frage«, sagte Easar angespannt, die Hand auf dem Schwertgriff. Um sie herum bereiteten sich ganze Reihen mit Soldaten vor.

»Sie war Schreiberin«, sagte Rand. »Im Zeitalter der Legenden. Als Demandred zu mir kam, nachdem er die Achtzig und Einen gegründet hatte … sie fiel im Kampf, ein Blitz aus dem Himmel… ihr Blut klebte an meinen Händen … Woher kennt Ihr diesen Namen!«

Ethenielle sah Easar an, dann Tenobia, schließlich auch Paitar. Er nickte, schloss die Augen und stieß einen Seufzer aus, der erleichtert klang. Er nahm die Hand vom Schwert.

»Rand al’Thor«, sagte Ethenielle, »Wiedergeborener Drache. Wärt Ihr so freundlich und würdet Euch setzen und mit uns reden? Wir werden Eure Fragen beantworten.«


»Warum habe ich noch nie etwas von dieser angeblichen Prophezeiung gehört?«, fragte Cadsuane.

»Ihre Natur bedurfte der Geheimhaltung«, sagte König Paitar. Sie alle saßen in einem großen Zelt inmitten des Heers der Grenzländer auf Kissen. Auf diese Weise umzingelt zu sein ließ Cadsuanes Schultern jucken, aber der närrische Junge – er würde immer ein närrischer Junge bleiben, ganz egal, wie alt er war – schien völlig mit sich im Reinen zu sein.

Vor dem Zelt, das nicht groß genug für alle war, warteten dreizehn Aes Sedai. Dreizehn. Das hatte al’Thor nicht einmal blinzeln lassen. Welcher Mann, der die Macht lenken konnte, würde zwischen dreizehn Aes Sedai sitzen, ohne dabei zu schwitzen?

Er hat sich verändert, sagte sich Cadsuane. Das musst du einfach akzeptieren. Nicht, dass er sie nicht länger brauchte. Männer wie er wurden zu selbstbewusst. Ein paar kleine Erfolge, und er würde über die eigenen Füße stolpern und in irgendeiner Gefahr landen.

Aber … nun, sie war stolz auf ihn. Aber nur widerstrebend. Ein bisschen.

»Sie stammt von einer Aes Sedai aus meiner eigenen Linie«, fuhr Paitar fort. Der Mann mit dem kantigen Gesicht hielt eine kleine Tasse mit Tee. »Mein Vorfahr Reo Myershi war der Einzige, der sie hörte. Er befahl, die Worte für diesen Tag zu bewahren und von einem Monarchen an den nächsten weiterzugeben.«

»Sagt sie mir«, sagte Rand. »Bitte.«

»Ich sehe ihn vor euch!«, zitierte Paitar. »Ihn, der viele Leben lebt, der den Tod bringt, der Berge erhebt. Er wird zerbrechen, was er zerbrechen muss, aber zuerst steht er dort vor unserem König. Ihr werdet ihn blutig schlagen! Schätzt seine Zurückhaltung ein. Er spricht! Wie starb die Gefallene? Tellindal Tirraso, ermordet durch seine Hand, die Dunkelheit, die am Tag nach dem Licht kam. Ihr müsst fragen, und ihr müsst euer Schicksal kennen. Kann er die Frage nicht beantworten …«

Er verstummte.

»Was?«, fragte Min.

»Kann er die Frage nicht beantworten«, sagte Paitar, »dann seid ihr verloren. Ihr werdet sein Ende schnell herbeiführen, damit die letzten Tage ihren Sturm haben können. Damit das Licht nicht von ihm verschlungen werden kann, der es bewahren sollte. Ich sehe ihn. Und ich weine.«

»Also seid ihr gekommen, um ihn zu ermorden«, sagte Cadsuane.

»Um ihn zu prüfen«, erwiderte Tenobia. »Zumindest hatten wir uns dazu entschieden, nachdem uns Paitar über die Prophezeiung unterrichtete.«

»Ihr wisst gar nicht, wie nahe ihr dem Untergang kamt«, sagte Rand leise. »Wäre ich nur vor kurzer Zeit zu Euch gekommen, hätte ich diese Schläge mit Baalsfeuer beantwortet.«

»Im Wächter?« Tenobia schnaubte verächtlich.

»Der Wächter blockiert die Eine Macht«, flüsterte Rand. »Aber nur die Eine Macht.«

Was meint er denn damit?, dachte Cadsuane stirnrunzelnd.

»Wir kannten das Risiko gut«, sagte Ethenielle stolz. »Ich verlangte das Recht, Euch als Erste zu schlagen. Unsere Heere hatten den Befehl anzugreifen, sollten wir fallen.«

»Meine Familie hat die Worte der Prophezeiung Hunderte Male analysiert«, sagte Paitar. »Die Bedeutung erscheint klar. Es war unsere Aufgabe, den Wiedergeborenen Drachen der Prüfung zu unterziehen. Um festzustellen, ob man ihm vertrauen kann, dass er in die Letzte Schlacht zieht.«

»Noch vor einem Monat«, sagte Rand, »hätte ich nicht die nötigen Erinnerungen gehabt, um Euch antworten zu können. Das war ein Narrenspiel. Hättet Ihr mich getötet, wäre alles verloren gewesen.«

»Ein Wagnis«, sagte Paitar gleichmütig. »Vielleicht wäre ein anderer an Eurer Stelle aufgestiegen.«

»Nein«, erwiderte Rand. »Diese Prophezeiung war wie die anderen. Die Ankündigung, was möglicherweise geschehen wird, und kein Rat.«

»Ich sehe das anders, Rand al’Thor«, sagte Paitar. »Und die anderen sind da meiner Meinung.«

»Man sollte festhalten«, sagte Ethenielle, »dass ich nicht wegen dieser Prophezeiung nach Süden gekommen bin. Mein Ziel bestand in dem Versuch, der Welt etwas Vernunft zu bringen. Und dann …« Sie schnitt eine Grimasse.

»Was?«, fragte Cadsuane und probierte endlich ihren Tee. Er schmeckte gut, wie er es in letzter Zeit gewöhnlich in al’Thors Nähe tat.

»Die Stürme«, sagte Tenobia. »Der Schnee hielt uns auf. Und dann erwies es sich als viel schwieriger, Euch zu finden, als wir erwartet hatten. Diese Wegetore. Könnt Ihr sie unseren Aes Sedai beibringen?«

»Im Gegenzug für ein Versprechen lasse ich Eure Aes Sedai unterrichten«, sagte Rand. »Ihr werdet mir einen Eid schwören. Ich brauche euch.«

»Wir sind Herrscher«, fauchte Tenobia. »Ich werde mich Euch nicht so schnell beugen, wie das mein Onkel tat. Übrigens werden wir uns darüber noch unterhalten müssen.«

»Unser Eid gehört den Ländern, die wir beschützen«, sagte Easar.

»Wie Ihr wollt«, sagte Rand und stand auf. »Einst stellte ich Euch allen ein Ultimatum. Ich habe das schlecht formuliert, und das bedaure ich, aber ich bleibe Euer einziger Weg zur Letzten Schlacht. Ohne mich bleibt Ihr hier, Hunderte von Meilen von den Ländern entfernt, die Ihr zu beschützen geschworen habt.« Er nickte jedem zu, dann half er Min auf die Füße. »Morgen treffe ich mich mit den Monarchen der Welt. Danach gehe ich zum Shayol Ghul und breche die noch verbliebenen Siegel am Kerker des Dunklen Königs. Guten Tag.«

Cadsuane stand nicht auf. Sie blieb sitzen und trank ihren Tee. Die vier erschienen erstaunt. Nun, der Junge hatte definitiv einen Sinn für Dramatik entwickelt.

»Wartet!«, stotterte schließlich Paitar und sprang auf. »Ihr wollt was tun?«

Rand drehte sich um. »Ich werde die Siegel zerschmettern, Lord Paitar. Ich gehe, um ›zu zerbrechen, was er zerbrechen muss‹, wie es Eure eigene Prophezeiung vorhergesagt hat. Ihr könnt mich nicht daran hindern, nicht wenn diese Worte beweisen, was ich tun werde. Vor kurzem sprang ich ein, um Maradon vor dem Untergang zu bewahren. Es stand kurz davor, Tenobia. Seine Mauern sind zerstört, Eure Truppen blutig geschlagen. Mithilfe anderer konnte ich es retten. So gerade eben. Andere Länder brauchen Euch. Und so bleiben Euch zwei Möglichkeiten. Leistet mir den Eid, oder sitzt hier herum und lasst jeden anderen an Eurer Stelle kämpfen.«

Cadsuane trank ihren Tee. Das ging doch etwas zu weit.

»Ich lasse Euch allein, damit Ihr mein Angebot besprechen könnt«, sagte Rand. »Ich kann eine Stunde erübrigen – aber bevor Ihr mit Eurer Beratung anfangt, könntet Ihr bitte jemanden für mich holen lassen? Da ist ein Mann in Eurer Armee namens Hurin. Ich würde mich gern bei ihm entschuldigen.«

Sie sahen noch immer fassungslos aus. Cadsuane stand auf, um mit den Schwestern zu sprechen, die draußen warteten; ein paar von ihnen kannte sie, und die anderen musste sie einschätzen. Sie machte sich keine Sorgen wegen der Entscheidung der Grenzländer. Al’Thor hatte sie. Eine weitere Armee unter seinem Banner. Ich hätte nicht gedacht, dass er das bei ihnen schafft.

Noch ein Tag, und alles würde beginnen. Und sie hoffte beim Licht, dass sie wirklich bereit waren.

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