52 Stiefel

Elayne setzte sich auf Funkeins Sattel zurecht. Die Stute war eines der Schmuckstücke des Königlichen Stalls. Sie stammte aus einer prächtigen saldaeanischen Zucht, Fell und Mähne war strahlend weiß. Der Sattel war kostbar, das Leder war mit weinroten und goldenen Verzierungen bestickt. Es war die Art Sattel, wie man sie bei einer Parade benutzte.

Birgitte ritt Aufsteigend, einen hohen braunen Wallach und eines der schnellsten Pferde im Stall. Die Behüterin hatte beide Pferde ausgesucht. Sie rechnete damit, fliehen zu müssen.

Birgitte trug eine von Elaynes Fuchskopfkopien, obwohl sie eine andere Form hatte. Es war eine schmale Silberscheibe mit einer Rose auf der Vorderseite. Elayne trug eine weitere, die in ein Tuch eingeschlagen in ihrer Tasche steckte.

Am Morgen hatte sie versucht, eine weitere Kopie anzufertigen, aber sie war geschmolzen und hatte dabei beinahe ihren Toilettentisch in Brand gesetzt. Ohne das Original hatte sie große Probleme. Ihr Traum, jede ihrer persönlichen Gardistinnen damit zu bewaffnen, erschien immer unwahrscheinlicher, es sei denn, sie konnte Mat irgendwie dazu überreden, ihr das Original noch einmal zu überlassen.

Ihre berittene Ehrengarde nahm auf dem Königinnenplatz um sie und Birgitte herum Aufstellung. Sie nahm nur hundert Soldaten mit – fünfundsiebzig Gardisten und einen inneren Ring aus fünfundzwanzig Gardistinnen. Es war eine winzige Streitmacht, aber wäre sie damit durchgekommen, hätte sie auch auf diese Hundert verzichtet. Sie konnte es sich nicht leisten, als Eroberin betrachtet zu werden.

»Das gefällt mir nicht«, sagte Birgitte.

»Dir gefällt in letzter Zeit gar nichts«, erwiderte Elayne. »Ich schwöre, du wirst jeden Tag übellauniger.«

»Weil du jeden Tag leichtsinniger wirst.«

»Ach, nun hör aber auf. Das ist wohl kaum das Leichtsinnigste, das ich je getan habe.«

»Aber auch nur, weil du diese Grenze sehr hoch für dich selbst angesetzt hast.«

»Es wird schon klappen«, sagte Elayne und schaute nach Süden.

»Warum schaust du immer in diese Richtung?«

»Rand«, erwiderte Elayne und verspürte wieder diese Wärme, die in dem Gefühlsbündel in ihrem Hinterkopf pulsierte. » Er macht sich für etwas bereit. Er fühlt sich besorgt an. Und zugleich ganz friedlich.« Beim Licht, dieser Mann konnte verwirrend sein.

Die Versammlung würde am nächsten Tag stattfinden, falls sein ursprünglicher Termin noch galt. Egwene hatte recht; die Siegel zu zerbrechen würde idiotisch sein. Aber Rand würde Vernunft annehmen.

Ahse ritt heran, begleitet von drei Kusinen. Sarasia war eine dicke Frau mit einer großmütterlichen Ausstrahlung; die dunkelhäutige Kema trug das Haar in drei langen Zöpfen, und die steife Nashia mit dem jugendlichen Gesicht trug ein voluminöses Kleid.

Die vier nahmen neben Elayne ihre Positionen ein. Lediglich zwei von ihnen waren stark genug für ein Wegetor – viele Kusinen waren schwächer als die meisten Aes Sedai. Aber das würde ausreichen, falls Elayne Probleme haben sollte, die Quelle zu umarmen.

»Könnt Ihr etwas tun, damit Bogenschützen sie nicht treffen?«, fragte Birgitte Alise. »Irgendein Gewebe?«

Alise legte nachdenklich den Kopf schief. »Ich habe von einem gehört, das möglicherweise hilft«, sagte sie dann, »aber ich habe es noch nie ausprobiert.«

Eine andere Kusine webte vor ihnen ein Tor. Es öffnete sich auf ein Stück Land außerhalb von Cairhien; das Terrain war unwegsam und das Gras braun. Dort wartete ein viel größerer Trupp mit den Kürassen und glockenförmigen Helmen cairhienischen Militärs. Die Offiziere waren leicht an ihrer dunklen Kleidung in den Farben der Häuser, denen sie dienten, zu erkennen.

Der schmalgesichtige Lorstrum saß vor seinem Heer, das dunkelgrün mit roten Schlitzen uniformiert war, auf einem Pferd; Bertome war auf der anderen Seite. Ihre Streitkräfte schienen etwa die gleiche Größe zu haben. Je fünftausend Mann. Die anderen vier Häuser hatten kleinere Heere geschickt.

»Falls sie dich gefangen nehmen wollen«, sagte Birgitte grimmig, »bietest du ihnen die perfekte Gelegenheit.«

»Es gibt keine Möglichkeit, das hier zu tun und in Sicherheit zu sein, es sei denn, ich verstecke mich in meinem Palast und schicke meine Truppen. Das würde in Cairhien bloß eine Rebellion auslösen und in Andor möglicherweise zum Zusammenbruch führen.« Sie sah die Behüterin an. »Birgitte, ich bin jetzt die Königin. Du wirst mich nicht von jeder Gefahr fernhalten können, genauso wenig wie man einen einzelnen Soldaten auf einem Schlachtfeld behüten kann.«

Birgitte nickte. »Bleib in meiner und Guybons Nähe.«

Guybon kam auf seinem großen Apfelschimmel näher. Mit Birgitte auf der einen und Guybon auf der anderen Seite – ihrer beider Pferde waren höher als Elaynes – würde ein Attentäter ziemliche Probleme haben, sie zu erwischen, ohne vorher ihre Freunde zu treffen.

So würde das für den Rest ihres Lebens sein. Sie trieb Funkeln an, und ihr Trupp durchquerte das Wegetor und betrat cairhienischen Boden. Die wartenden Adligen verneigten sich im Sattel, und diesmal waren die Verbeugungen tiefer als bei der Begegnung in Elaynes Thronsaal. Das Schauspiel hatte begonnen.

Die Stadt lag direkt voraus, ihre Mauern waren noch immer von dem Kampf mit den Shaido geschwärzt. Elayne konnte Birgittes Anspannung spüren, als das Wegetor hinter ihnen erlosch. Die Kusinen um Elayne umarmten die Quelle, und Alise webte ein selten benutztes Gewebe und legte es um den inneren Kreis der Reiter. Es ließ einen kleinen, aber schnellen Windhauch im Kreis rotieren.

Birgittes Anspannung war ansteckend, und Elayne ertappte sich dabei, dass sie die Zügel fest umklammerte, als Funkeln weiterging. Die Luft in Cairhien war trockener und wies einen feinen Staubgeruch auf. Der Himmel war bewölkt.

Die cairhienischen Truppen formierten sich um die kleine Gruppe Andoraner in ihren weißen und roten Uniformen. Die meisten Cairhiener waren Fußsoldaten, allerdings gab es auch schwere Kavallerie mit Männern, die ihre Lanzen dem Himmel entgegenstreckten. Alles marschierte in perfekten Reihen und beschützte Elayne. Oder hielt sie gefangen.

Lorstrum lenkte seinen braunen Hengst näher an Elaynes äußeren Ring. Guybon warf ihr einen Blick zu, und sie nickte. Der Hauptmann erlaubte ihm näher zu kommen.

»Die Stadt ist nervös, Euer Majestät«, sagte Lorstrum. Birgitte achtete noch immer sorgfältig darauf, ihr Pferd zwischen seinem und Elaynes zu halten. »Es kursieren da … unglückliche Gerüchte um Eure Thronbesteigung.«

Gerüchte, die du vermutlich in Umlauf gebracht hast, bevor du dich entschieden hast, mich zu unterstützen. »Sicherlich werden sie sich doch nicht gegen Eure Truppen erheben?«

»Ich hoffe nicht.« Er musterte sie unter seiner flachen, waldgrünen Kappe. Sein schwarzer Mantel reichte bis zu seinen Knien, und die Farben seines Hauses in den Schlitzen verliefen bis ganz nach unten. Es war die Art von Kleidung, die er bei einem Ball tragen würde. Das zeigte Selbstbewusstsein. Seine Streitmacht besetzte nicht die Stadt, sondern eskortierte die neue Königin mit einer Ehrenparade. »Es ist unwahrscheinlich, dass es bewaffneten Widerstand geben wird. Aber ich wollte Euch warnen.«

Lorstrum nickte ihr respektvoll zu. Er wusste, dass sie ihn manipulierte, aber er erklärte sich damit einverstanden. Sie würde ihn in den kommenden Jahren gut im Auge behalten müssen.

Cairhien war eine so quadratische Stadt, alles nur gerade Linien und befestigte Türme. Auch wenn ein Teil der Architektur durchaus schön war, war der Ort nicht mit Caemlyn oder Tar Valon zu vergleichen. Sie ritten direkt durch das Nordtor und hatten den Fluss Alguenya zu ihrer Rechten.

Im Inneren der Stadt hatten sich Menschenmengen versammelt. Lorstrum und die anderen hatten ihre Sache gut gemacht. Jubel ertönte, vermutlich von sorgfältig platzierten Höflingen animiert. Als Elayne die Stadt betrat, wurde der Jubel lauter. Das überraschte sie. Sie hatte Feindseligkeit erwartet. Und ja, es gab sie durchaus – der gelegentliche Wurf Müll, der aus den hinteren Teilen der Menge kam. Hier und da entdeckte sie Spott. Aber die meisten schienen erfreut.

Als sie den breiten Weg entlangritt, der von den rechteckigen Gebäuden flankiert wurde, wie man sie in Cairhien so schätzte, wurde ihr klar, dass diese Menschen möglicherweise genau auf so eine Veranstaltung gewartet hatten. Sie hatten davon gesprochen, hatten Geschichten verbreitet. Einige dieser Geschichten waren feindselig gewesen, und die hatte Norry weiterverbreitet. Aber jetzt erschienen sie Elayne eher als Zeichen der Sorge und weniger der Ablehnung. Cairhien war zu lange ohne Monarch gewesen, Unbekannte hatten den König ermordet, der Lord Drache hatte sie anscheinend ihrem Schicksal überlassen.

Ihre Zuversicht wuchs. Cairhien war eine verletzte Stadt. Die verbrannten und zerstörten Überreste von Vortor außerhalb. Aus dem Boden waren Pflastersteine gerissen worden, um sie von den Mauern zu schleudern. Die Stadt hatte sich nie richtig vom Aiel-Krieg erholt, und die nie fertig gestellten Abgedeckten Türme – vom Entwurf her symmetrisch, vom Erscheinungsbild her aber schrecklich verloren aussehend – verkündeten diese Tatsache auf eine pathetische Weise.

Das verdammte Spiel der Häuser war fast schon eine Geißel. Konnte sie daran etwas ändern? Die Menschen um sie herum klangen hoffnungsfroh, als wüssten sie, zu was für einem komplizierten Problem ihre Nation geworden war. Man konnte eher einem Aiel den Speer wegnehmen als einem Cairhiener seine Gerissenheit, aber vielleicht konnte sie ihnen eine größere Loyalität zu Land und Thron beibringen. Solange sie einen Thron hatten, der diese Loyalität auch wert war.

Der Sonnenpalast stand genau in der Mitte der Stadt. Wie der Rest war auch er quadratisch, aber hier vermittelte die Architektur ein Gefühl imposanter Stärke. Trotz des zerstörten Flügels, in dem das Attentat auf Rand stattgefunden hatte, war es ein beeindruckendes Gebäude.

Hier warteten weitere Adlige, standen auf verhüllten Stufen oder vor verzierten Kutschen. Frauen in steifen Gewändern mit breiten Reifen, die Männer in schicken Mänteln mit dunklen Farben, Mützen auf dem Kopf. Viele sahen skeptisch aus, einige auch erstaunt.

Elayne warf Birgitte ein zufriedenes Lächeln zu. »Es funktioniert. Keiner hat damit gerechnet, dass ich von einem cairhienischen Heer zum Palast eskortiert werde.«

Birgitte erwiderte nichts. Sie war noch immer nervös – und würde das vermutlich auch bis zu Elaynes Rückkehr nach Caemlyn bleiben.

Am Fuß der Treppe standen zwei Frauen, die eine hübsch mit Glöckchen im Haar, die andere mit Locken und einem Gesicht, das so gar nicht nach Aes Sedai aussah, obwohl sie es schon seit Jahren war. Das war Sashalle Anderly und die andere Frau – die mit dem alterslosen Gesicht – war Samitsu Tamagowa. Soweit Elaynes Quellen in Erfahrung bringen konnten, kamen die beiden dem noch am nächsten, was die Stadt in Rands Abwesenheit als »Herrscher« hatte. Sie hatte mit beiden korrespondiert und bei Sashalle ein erstaunliches Verständnis der cairhienischen Denkungsart entdeckt. Sie hatte Elayne die Stadt angeboten, dabei aber angedeutet, dass ihr durchaus klar war, dass es zwei sehr verschiedene Dinge waren, sie angeboten zu bekommen und sie sich zu nehmen.

Sashalle trat vor. »Euer Majestät«, sagte sie förmlich, »man soll allgemein bekannt machen, dass der Lord Drache Euch sämtliche Rechte und Ansprüche auf dieses Land gibt. Sämtliche formelle Kontrolle, die er über dieses Land hatte, geht auf Euch über, und die Position des Statthalters über die Nation wird aufgelöst. Mögt Ihr in Weisheit und Frieden herrschen.«

Elayne nickte ihr majestätisch vom Pferd aus zu, innerlich kochte sie aber vor Wut. Sie hatte behauptet, dass sie nichts an Rands Hilfe bei der Eroberung dieses Throns auszusetzen hatte, aber es gefiel ihr nicht im Mindesten, dass man es ihr unter die Nase rieb. Trotzdem, Sashalle schien ihre Position ernst zu nehmen, obwohl sie sie größtenteils selbst erschaffen hatte, wie Elayne entdeckt hatte.

Elayne und ihre Begleiter stiegen ab. Hatte Rand gedacht, dass es so einfach sein würde, ihr den Thron zu geben? Er war lange genug in Cairhien gewesen, um zu wissen, wie sie ihre Intrigen schmiedeten. Eine Aes Sedai, die eine Proklamation machte, hätte da niemals ausgereicht. Aber von mächtigen Adligen unterstützt zu werden, sollte da eigentlich reichen.

Ihre Prozession stieg die Stufen hinauf. Sie traten ein, und jeder, der Elayne unterstützte, brachte eine kleine Ehrenwache aus fünfzig Mann mit. Elayne nahm ihre ganze Truppe mit; das machte alles etwas beengt, aber sie hatte nicht die Absicht, jemanden zurückzulassen.

Die Korridore verliefen gerade, hatten spitz zulaufende Decken und goldene Simse. Auf jeder Tür loderte das Symbol der Aufgehenden Sonne. Es gab zahllose Alkoven, in denen man Reichtümer zur Schau stellte, aber viele davon waren leer. Die Aiel hatten ihr Fünftel aus dem Palast genommen.

Als sie den Eingang zur Großen Halle der Sonne erreichten, stellte sich Elaynes andoranische Garde an den Korridorwänden auf. Elayne holte tief Luft, dann betrat sie zusammen mit zehn Leuten den Thronsaal. An den Seiten erhoben sich blau geäderte Marmorsäulen bis zur Decke, und der Sonnenthron stand im hinteren Teil der Halle auf seinem blauen Marmorpodest.

Der Stuhl bestand aus vergoldetem Holz, war aber überraschend schlicht gehalten. Vielleicht war das der Grund gewesen, aus dem Laman sich entschieden hatte, sich einen neuen Thron zu konstruieren, mit Avendoraldera als Baumaterial. Elayne ging zum Podest, dann drehte sie sich um, während der cairhienische Adel eintrat, ihre Anhänger zuerst, dann der Rest, angeordnet nach den komplizierten Anforderungen von Daes Dae’mar. Diese Ränge konnten sich jeden Tag ändern, wenn nicht sogar stündlich.

Birgitte musterte jeden, der eintrat, aber die Cairhiener waren ein Muster an Anstand. Keiner von ihnen zeigte auch nur annähernd etwas, das an Elloriens Unverschämtheit in Andor herankam. Sie war eine Patriotin, auch wenn sie frustrierenderweise weiterhin alles ablehnte, was Elayne tat. In Cairhien machte man so etwas einfach nicht.

Sobald Ruhe eingetreten war, holte Elayne tief Luft. Sie hatte sich überlegt, eine Rede zu halten, aber ihre Mutter hatte ihr beigebracht, dass entschiedene Taten manchmal besser waren als die beste Rede. Elayne machte Anstalten, sich auf den Thron zu setzen.

Birgitte ergriff ihren Arm.

Elayne sah sie fragend an, aber die Behüterin musterte den Thron. »Warte einen Moment«, sagte sie und bückte sich.

Die Adligen fingen an zu murmeln, und Lorstrum trat zu Elayne. »Euer Majestät?«

»Birgitte, ist das wirklich nötig?«, sagte Elayne errötend.

Birgitte ignorierte sie und drückte gegen das Polster auf der Sitzfläche des Throns. Beim Licht! War die Behüterin entschlossen, sie in jeder nur denkbaren Situation in Verlegenheit zu bringen? Sicherlich …

»Aha!«, sagte Birgitte und riss etwas aus dem Polster.

Elayne zuckte zusammen und trat einen Schritt näher heran, begleitet von Lorstrum und Bertome. Birgitte hielt eine kleine Nadel mit schwarz verfärbter Spitze in die Höhe. »Im Polster versteckt.«

Elayne erbleichte.

»Das war der einzige Ort, von dem sie wussten, dass du dort sein würdest, Elayne«, sagte Birgitte leise. Sie ging auf die Knie und suchte nach weiteren Fallen.

Lostrum war knallrot geworden. »Ich werde denjenigen finden, der das gemacht hat, Euer Majestät«, sagte er mit leiser Stimme. Einer gefährlichen Stimme. »Sie werden meinen Zorn kennenlernen.«

»Nicht, wenn sie zuerst meinen kennenlernen«, sagte Bertome und musterte die Nadel.

»Offensichtlich ein Attentatsversuch für den Lord Drachen, Euer Majestät«, sagte Lorstrum lauter, für die Zuschauer bestimmt. »Niemand würde den Versuch wagen, Euch zu töten, unsere geliebte Schwester aus Andor.«

»Das ist gut zu wissen«, sagte Elayne. Ihr Gesichtsausdruck verkündete jedem im Raum, dass sie bei dieser Täuschung mitmachen würde, mit der er das Gesicht wahren wollte. Als ihr treuester Gefolgsmann fiel die Schande eines Attentatversuchs auf ihn zurück.

Sich dazu bereiterklären, ihn das Gesicht wahren zu lassen, würde ihn viel kosten. Er senkte zum Einverständnis kurz den Blick. Beim Licht, wie sie dieses Spiel doch hasste. Aber sie würde es spielen. Und sie würde es gut spielen.

»Ist er sicher?«, fragte sie Birgitte.

Die Behüterin runzelte die Stirn. »Das kann man nur auf eine Weise herausfinden«, erwiderte sie und warf sich mit unangebrachter Gewalt auf den Thron.

Nicht wenige der versammelten Adligen keuchten auf, und Lorstrum wurde noch blasser.

»Nicht gerade bequem«, sagte Birgitte, wälzte sich auf die eine Seite, um sich dann gegen die Lehne zu drücken. »Ich hätte eigentlich erwartet, dass der Thron eines Monarchen besser gepolstert ist, bei deinem empfindlichen Hintern.«

»Birgitte!«, zischte Elayne und fühlte, wie ihr Gesicht wieder rot wurde. »Du kannst doch nicht auf dem Sonnenthron sitzen!«

»Ich bin deine Leibwächterin«, erwiderte Birgitte. »Ich kann dein Essen probieren, wenn ich das will. Ich kann neben dir durch Türen gehen, und ich kann verdammt noch mal auf deinem Stuhl sitzen, wenn ich der Ansicht bin, dich damit zu beschützen.« Sie grinste. »Außerdem wollte ich immer schon wissen, wie sich so ein Thron anfühlt«, fügte sie mit leiser Stimme hinzu. Sie stand auf, noch immer misstrauisch, aber auch zufrieden.

Elayne drehte sich um und wandte sich dem Adel von Cairhien zu. »Ihr habt lange genug darauf gewartet«, sagte sie. »Einige von Euch sind damit nicht zufrieden, aber vergesst nicht, dass die Hälfte meines Blutes cairhienisch ist. Diese Allianz wird unseren beiden Nationen zu Größe verhelfen. Ich verlange nicht Euer Vertrauen, aber ich verlange Euren Gehorsam.« Sie zögerte, dann fügte sie hinzu: »Vergesst nicht, das ist der Wille des Wiedergeborenen Drachen.«

Sie sah, dass sie verstanden. Rand hatte diese Stadt erobert, wenn auch nur, um sie von den Shaido zu befreien. Sie waren klug beraten, ihn nicht dazu zu reizen, zurückzukommen und sie erneut zu erobern. Eine Königin benutzte die Werkzeuge, die sie zur Hand hatte. Andor hatte sie allein erobert; bei Cairhien würde sie sich von Rand helfen lassen.

Sie setzte sich. Eine so einfache Sache, aber die Implikationen würden in der Tat weitreichende Folgen haben. »Sammelt Eure Streitkräfte und Hauswachen«, befahl sie den versammelten Adligen. »Ihr werdet zusammen mit den Streitkräften von Andor durch Wegetore an einen Ort namens Feld von Merrilor marschieren. Wir treffen dort den Wiedergeborenen Drachen.«

Die Adligen erschienen überrascht. Sie kam herein, übernahm den Thron, dann befahl sie noch am selben Tag ihre Heere aus der Stadt? Sie lächelte. Besser, schnell und entschieden zu handeln; das würde einen Präzedenzfall schaffen, ihr zu gehorchen. Und es würde sie auf die Letzte Schlacht vorbereiten.

»Außerdem will ich«, verkündete sie, als sie zu flüstern anfingen, »dass ihr jeden Mann in diesem Reich, der ein Schwert halten kann, einberuft und in der Armee der Königin aufnehmt. Wir werden nicht viel Zeit für eine Ausbildung haben, aber in der Letzten Schlacht wird jeder Mann gebraucht – und jede Frau, die kämpfen will, soll sich ebenfalls melden. Benachrichtigt auch die Glockengießer Eurer Stadt. Ich will sie innerhalb der nächsten Stunde sehen.«

»Aber das Krönungsfest, Euer Majestät…«, sagte Bertome.

»Wir werden feiern, wenn die Letzte Schlacht gewonnen ist und Caierhiens Kinder in Sicherheit sind«, sagte Elayne. Sie musste sie falls möglich von ihren Intrigen ablenken und sie beschäftigt halten. »Bewegt Euch! Tut so, als stünde die Letzte Schlacht vor Eurer Schwelle und würde morgen eintreffen!«

Denn das konnte durchaus sein.


Mat lehnte sich gegen einen abgestorbenen Baum und musterte sein Lager. Lächelnd atmete er ein und aus und genoss das wunderbare Gefühl zu wissen, dass er nicht länger verfolgt wurde. Er hatte ganz vergessen, wie gut sich das anfühlte. Dieses Gefühl war besser, als auf jedem Knie eine hübsche Schankmagd sitzen zu haben. Nun, auf jeden Fall besser als eine Schankmagd.

Ein Militärlager am Abend war einer der bequemsten Orte auf der ganzen Welt, selbst wenn das halbe Lager leer war, weil die Männer nach Cairhien aufgebrochen waren. Die Sonne war untergegangen, und einige der Zurückgebliebenen hatten sich schlafen gelegt. Aber für diejenigen, die am nächsten Tag für die Nachmittagsschicht eingeteilt waren, gab es noch keinen Grund, jetzt schon zu schlafen.

Ein Dutzend Lagerfeuer brannten; Männer saßen dort und erzählten sich Geschichten von ihren Taten, von zurückgelassenen Frauen oder Gerüchten aus der Ferne. Flammenzungen flackerten, während Männer lachten, auf Scheiten oder Steinen saßen, gelegentlich mit Zweigen im Feuer herumstocherten und winzige Funken in die Luft schickten, während ihre Freunde »Kommt ihr Maiden« oder »Gefallene Witwen zur Mittagsstund« sagen.

Die Männer der Bande kamen aus einem Dutzend verschiedener Nationen, aber dieses Lager war ihre wahre Heimat. Mat schlenderte umher, den Hut auf dem Kopf, den Ashandarei auf der Schulter. Er hatte ein neues Tuch für seinen Hals. Die Leute wussten von_ seiner Narbe, aber es bestand kein Grund, damit zu protzen wie einer von Lucas verdammten Wagen.

Dieses Mal hatte er ein rotes Halstuch gewählt. In Erinnerung an Tylin und den anderen, die dem Gholam zum Opfer gefallen waren. Einen kurzen Augenblick lang war er versucht gewesen, ein rosafarbenes zu nehmen. Einen sehr kurzen Augenblick.

Mat lächelte. Auch wenn von mehreren Lagerfeuern Lieder kamen, war doch keins davon laut, und es herrschte eine gesunde Stille im Lager. Kein Schweigen. Schweigen war nie gut. Er hasste Schweigen. Ließ ihn sich fragen, wer sich so sehr bemühte, sich von hinten an ihn anzuschleichen. Nein, das war Stille. Männer schnarchten leise, Feuer knisterten, andere Männer sangen, Unkraut raschelte, wenn die Wächter ihre Runden drehten. Die friedlichen Geräusche von Männern, die ihr Leben genossen.

Mat kam wieder zu seinem Tisch, der vor seinem dunklen Zelt stand. Er setzte sich und betrachtete die Papiere, die er dort aufgestapelt hatte. Im Zelt war es zu stickig gewesen. Außerdem hatte er Olver nicht wecken wollen.

Mats Zelt wand sich im Wind. Es sah schon seltsam aus, wie der prächtige Eichentisch mitten im Hühnerkraut stand, Mats Stuhl daneben, eine Kanne mit warmem Apfelwein auf dem Boden. Die Papiere waren mit Steinen beschwert, die er vom Boden aufgehoben hatte, und wurden von der flackernden Lampe beleuchtet.

Er hätte keine Papierstapel haben dürfen. Er hätte an einem der Feuer sitzen sollen und »Tanz mit dem Schattenjak« singen sollen. Er konnte die Worte des Liedes leise von einem Feuer in der Nähe hören.

Papiere. Nun, er hatte sich mit Elayne als Dienstherrin einverstanden erklärt, und solche Dinge brachten eben Papiere mit sich. Papiere über die Aufstellung der Drachenmannschaften. Papiere über Vorräte, Disziplinberichte und allen möglichen Unsinn. Und ein paar Papiere, die er ihrer Königlichen Majestät hatte abschwatzen können, Spionageberichte, die er sich hatte ansehen wollen. Berichte über die Seanchaner.

Viele der Neuigkeiten waren ihm nicht neu; dank Verins Wegetor war Mat viel schneller nach Caemlyn gereist als die meisten Gerüchte. Aber Elayne hatte ihre eigenen Wegetore, und ein paar Neuigkeiten aus Tear und Illian war noch frisch. Man sprach von der neuen seanchanischen Kaiserin. Also hatte sich Tuon tatsächlich selbst gekrönt oder was auch immer die Seanchaner machten, wenn sie einen neuen Anführer ernannten.

Das ließ ihn lächeln. Beim Licht, sie hatten keine Ahnung, was sie erwartete! Sie glaubten es vielleicht zu wissen. Aber sie würde alle überraschen, so sicher wie der Himmel blau war. Oder … nun, in letzter Zeit war er eben grau gewesen.

Außerdem war die Rede von einer Allianz des Meervolks mit den Seanchanern. Mat verwarf das. Die Seanchaner hatten genug Schiffe vom Meervolk erobert, damit dieser Eindruck entstehen konnte, aber das war nicht die Wahrheit. Es gab noch ein paar Seiten mit Neuigkeiten über Rand, aber die meisten waren ungenau oder nicht vertrauenswürdig.

Verdammte Farben. Rand saß mit ein paar Leuten in einem Zelt und unterhielt sich mit ihnen. Vielleicht war er ja tatsächlich in Arad Doman, aber er konnte nicht dort sein und in den Grenzlanden kämpfen, oder doch? Ein Gerücht besagt, dass Rand Königin Tylin getötet hatte. Welcher verdammte Idiot kam nur auf so etwas?

Er drehte die Berichte über Rand schnell um. Er hasste es, diese verfluchten Farben immer wieder verdrängen zu müssen. Wenigstens trug Rand dieses Mal Kleidung.

Die letzte Seite war merkwürdig. Wölfe, die in gewaltigen Rudeln liefen, sich auf Lichtungen versammelten und im Chor heulten? Ein rot leuchtender Himmel am Abend? Vieh, das sich auf den Feldern nach Norden hin aufstellte und stumm zusah? Die Fußabdrücke von Schattengezüchtheeren in der Mitte von Feldern? Diese Dinge rochen nach bloßem Hörensagen, von einer Bauersfrau zur nächsten weitergereicht, bis sie schließlich die Ohren von Elaynes Spionen erreichten.

Mat betrachtete das Blatt, dann wurde er sich bewusst, dass er ohne nachzudenken Verins Umschlag aus der Tasche gezogen hatte. Der noch immer versiegelte Brief sah dreckig und abgenutzt aus, aber er hatte ihn nicht geöffnet. Es kam ihm wie das Schwerste vor, das er je getan hatte, dieser Versuchung zu widerstehen.

»Also das ist ein wirklich seltsamer Anblick«, sagte eine Frauenstimme. Mat schaute auf und sah Setalle auf sich zuspazieren. Sie trug ein braunes Kleid, das über ihrem üppigen Busen verschnürt war. Nicht, dass Mat dort hingesehen hätte.

»Euch gefällt mein Arbeitszimmer?«, fragte Mat. Er legte den Brief zur Seite, dann stapelte er den letzten Agentenbericht auf einen Stapel, der direkt neben einer Reihe von Skizzen lag, die er für eine neue Armbrust angefertigt hatte und auf denen basierte, die Talmanes mitgebracht hatte. Die Papiere drohten wegzufliegen. Da er keinen Stein für diesen Stapel hatte, zog er einen Stiefel aus und stellte ihn darauf.

»Euer Arbeitszimmer?«, fragte Setalle und klang amüsiert.

»Sicher«, sagte Mat und kratzte sich unter dem Socken. »Ihr müsst einen Termin mit meinem Sekretär machen, wenn Ihr hereinkommen wollt.«

»Warum Sekretär?«

»Der Stumpf da drüben«, sagte Mat. »Nicht der kleine, der große mit dem Moos obendrauf.« Sie hob eine Braue.

»Er ist richtig gut«, sagte Mat. »Lässt nur selten jemanden herein, den ich nicht sehen will.«

»Ihr seid ein interessantes Geschöpf, Matrim Cauthon«, sagte Setalle und setzte sich auf den größeren Stumpf. Ihr Kleid war nach der Mode in Ebou Dar geschnitten, die eine Rockseite war oben festgemacht, um Unterröcke zu enthüllen, die bunt genug waren, um einem Kesselflicker Furcht einzujagen.

»Wollt Ihr etwas Bestimmtes?«, erkundigte sich Mat. »Oder seid Ihr bloß vorbeigekommen, um Euch auf den Kopf meines Sekretärs zu setzen?«

»Wie ich hörte, habt Ihr heute wieder den Palast besucht. Stimmt es, dass Ihr die Königin persönlich kennt?«

Mat zuckte mit den Schultern. »Elayne ist ein nettes Mädchen. Hübsch, das auf jeden Fall.«

»Ihr könnt mich nicht mehr schockieren, Matrim Cauthon«, bemerkte Setalle. »Mir ist klar geworden, dass viele der Dinge, die Ihr sagt, das oft bezwecken sollen.«

Tatsächlich? »Ich sage, was ich denke, Frau Anan. Warum spielt es für Euch eine Rolle, ob ich die Königin kenne?«

»Bloß ein weiteres Stück des Puzzles, das Ihr darstellt«, sagte Setalle. »Heute bekam ich einen Brief von Joline.«

»Was wollte sie von Euch?«

»Sie wollte nichts. Sie wollte bloß mitteilen, dass sie sicher in Tar Valon angekommen sind.«

»Dann müsst Ihr ihn falsch gelesen haben.«

Setalle sah ihn unwirsch an. »Joline Sedai respektiert Euch, Meister Cauthon. Sie sprach oft voller Wertschätzung von Euch und der Weise, wie Ihr nicht nur sie, sondern auch die anderen beiden gerettet habt. Sie hat sich in dem Brief nach Euch erkundigt.«

Mat blinzelte. »Wirklich? Sie hat solche Dinge über mich gesagt?«

Setalle nickte.

»Da soll man mich doch zu Asche verbrennen«, meinte er. »Das macht mir ja fast ein schlechtes Gewissen, dass ich ihren Mund blau gefärbt habe. Aber wenn man bedenkt, wie sie mich behandelt hat, wäre man nie darauf gekommen, dass sie auf diese Weise empfindet.«

»So etwas einem Mann zu sagen bestärkt ihn nur in seiner Voreingenommenheit. Man sollte eigentlich annehmen, dass die Weise, wie sie Euch behandelt hat, dazu gereicht hätte.«

»Sie ist eine Aes Sedai«, murmelte Mat. »Sie behandelt jeden, als wäre er Dreck, den sie sich von den Stiefeln kratzen muss.«

Setalle starrte ihn böse an. Sie hatte eine imposante Art an sich, zu gleichen Teilen Großmutter, Hofdame und kompromisslose Wirtin.

»Es tut mir leid«, sagte er. »Manche Aes Sedai sind nicht so schlimm wie andere. Ich wollte Euch nicht beleidigen.«

»Ich nehme das mal als Kompliment«, sagte Setalle. »Auch wenn ich keine Aes Sedai bin.«

Mat zuckte mit den Schultern und entdeckte einen hübschen kleinen Stein zu seinen Füßen. Damit ersetzte er seinen Stiefel auf dem Papierstapel. Der Regen der vergangenen Tage war vorbei und hatte die Luft mit einer kühlen Frische versehen. »Ich weiß, Ihr sagtet, es tat nicht weh«, sagte Mat. »Aber … wie fühlt es sich an? Das, was Ihr verloren habt?«

Sie schürzte die Lippen. »Was ist für Euch die köstlichste Speise, Meister Cauthon? Das, wofür Ihr alles andere stehen lassen würdet?«

»Mutters Süßkuchen«, sagte Mat, ohne nachdenken zu müssen.

»Nun, so ist das«, sagte Setalle. »Das Wissen, dass Ihr diesen Kuchen jeden Tag genießen konntet, er Euch jetzt aber verwehrt bleibt. Eure Freunde können so viele Kuchen essen, wie sie Lust haben. Ihr beneidet sie, und es tut Euch weh, aber zugleich seid Ihr auch froh. Wenigstens kann jemand das genießen, was Ihr nicht mehr könnt.«

Mat nickte langsam.

»Warum hasst Ihr die Aes Sedai eigentlich so, Meister Cauthon?«, fragte Setalle.

»Ich hasse sie nicht«, antwortete Mat. »Soll man mich zu Asche verbrennen, aber das tue ich wirklich nicht. Aber manchmal kann ein Mann anscheinend keine zwei Dinge tun, ohne dass Frauen von ihm verlangen, eines davon auf eine anclere Weise zu erledigen und das andere komplett zu ignorieren. «

»Keiner zwingt Euch, ihren Rat zu befolgen, und ich wage zu behaupten, dass Ihr oft zugeben müsst, dass es ein guter Rat ist.«

Mat zuckte mit den Schultern. »Manchmal tut ein Mann einfach gern das, was er tun will, ohne dass ihm jemand sagt, was daran falsch ist und was mit ihm nicht stimmt. Das ist alles.«

»Und es hat nichts mit Eurer seltsamen … Meinung über Adlige zu tun? Schließlich benehmen sich die meisten Aes Sedai, als wären sie Adlige.«

»Ich habe nichts gegen Adlige«, sagte Mat und zog seinen Mantel zurecht. »Ich betrachte mich nur nicht als einen von ihnen.«

»Warum nicht?«

Mat schwieg eine Weile. Warum nicht? Schließlich musterte er seine Füße und zog den Stiefel wieder an. »Es sind die Stiefel.«

»Die Stiefel?« Setalle sah verwirrt aus. »Die Stiefel«, sagte Mat mit einem Nicken und schnürte ihn zu. »Es geht nur um die Stiefel.« »Aber…«

»Wisst Ihr, die meisten Männer brauchen sich keine Gedanken darüber zu machen, welche Stiefel sie anziehen«, sagte Mat und zog die Schnürriemen fest. »Sie sind arm. Solltet Ihr also einen von ihnen fragen: ›Welche Stiefel ziehst du heute an, Mop‹, fällt ihm die Antwort leicht. ›Nun, Mat. Ich habe nur das eine Paar, also werde ich wohl das tragen.‹« Er zögerte. »Ich meine, das würden sie natürlich nicht zu Euch sagen, Setalle, da Ihr nicht ich seid und so weiter. Sie würden Euch nicht Mat nennen, wenn Ihr versteht.«

»Ich verstehe.« Sie klang amüsiert.

»Aber egal, für Leute mit einem besseren Einkommen ist die Frage, welche Stiefel sie tragen wollen, schon etwas komplizierter. Ihr müsst wissen, durchschnittliche Männer, Männer wie ich …« Er musterte sie. »Und ich bin ein ganz durchschnittlicher Mann, das dürft Ihr nicht vergessen.« »Natürlich seid Ihr das.«

»In der Tat, verdammt noch mal«, sagte Mat, machte den letzten Knoten und richtete sich auf. »Ein durchschnittlicher Mann besitzt vielleicht drei Paar Stiefel. Das drittbeste Paar Stiefel, das sind die Stiefel, die man trägt, wenn man unerfreuliche Arbeit zu erledigen hat. Sie drücken vielleicht nach ein paar Schritten, vielleicht haben sie auch ein paar Löcher, aber sie sind gut genug, dass man einen vernünftigen Halt hat. Es ist einem egal, wenn man sie auf dem Feld oder in der Scheune schmutzig macht.«

»Ich verstehe«, sagte Setalle.

»Dann ist da das zweitbeste Paar Stiefel«, sagte Mat. »Das sind die Stiefel für den Alltag. Die trägt man, wenn man vom Nachbarn zum Essen eingeladen wurde. Oder in meinem Fall trägt man sie, wenn man in die Schlacht zieht. Es sind hübsche Stiefel, sie bieten einem guten Halt, und es stört einen nicht, wenn man darin gesehen wird.«

» Und Eure besten Stiefel?«, fragte Setalle. » Die tragt Ihr zu gesellschaftlichen Anlässen, wie einem Ball oder einem Festmahl mit den örtlichen Würdenträgern?«

»Ein Ball? Würdenträger’? Verdammte Asche, Frau. Ich dachte, Ihr wärt Wirtin.«

Setalle errötete leicht.

»Wir gehen auf keine Bälle«, sagte Mat. »Aber müssten wir es, würden wir wohl unser zweitbestes Paar Stiefel auftragen. Wenn sie gut genug sind, um die alte Frau Hembrew nebenan zu besuchen, dann sind sie verdammt noch mal auch gut genug, um jeder Frau auf die Zehen zu treten, die dumm genug ist, um mit uns tanzen zu wollen.«

»Und wozu sind dann die besten Stiefel gut?«

»Zum Laufen«, sagte Mat. »Jeder Bauer kennt den Wert guter Stiefel, wenn man ein ordentliches Stück zu gehen hat.«

Setalle schaute nachdenklich drein. »Also gut. Und was hat das damit zu tun, ein Adliger zu sein?«

»Alles«, sagte Mat. »Versteht Ihr denn nicht? Ein durchschnittlicher Bursche weiß ganz genau, wie er mit seinen Stiefeln umgehen muss. Mit drei Paar Stiefeln kommt jeder Mann zurecht. Das Leben ist einfach, wenn man drei Paar Stiefel hat. Aber Adlige … Talmanes behauptet, er besäße zuhause vierzig verschiedene Paar Stiefel. Vierzig Paar, könnt Ihr Euch das vorstellen?«

Sie lächelte amüsiert.

»Vierzig Paar«, wiederholte Mat und schüttelte den Kopf. »Vierzig verdammte Paar. Und es sind auch nicht alles die gleichen Stiefel. Da gibt es ein Paar für jedes Gewand, und ein Dutzend Paar in verschiedenen Stilen, die zur Hälfte der Gewänder passen. Man hat Stiefel für Könige, Stiefel für Hohe Herren und Stiefel für normale Leute. Man hat Stiefel für den Winter und Stiefel für den Sommer, Stiefel für regnerische Tage und Stiefel für trockene Tage. Man hat verdammte Schuhe, die man bloß trägt, wenn man ins Badezimmer will. Lopin hat sich immer darüber beklagt, dass ich kein Paar hatte, um nachts auf den Abort zu gehen!«

»Ich verstehe … Ihr benützt also Stiefel als Metapher für die Bürde der Verantwortung und Entscheidungen, die der Aristokratie auferlegt werden, wenn sie die Führung bei komplizierten politischen und sozialen Fragen übernehmen.«

»Metapher für…« Mat runzelte die Stirn. »Verdammte Asche, Frau. Das ist keine Metapher für gar nichts! Es sind nur Stiefel.«

Setalle schüttelte den Kopf. »Ihr seid ein unkonventionell weiser Mann, Matrim Cauthon.«

»Ich versuche mein Bestes«, meinte er und griff nach der Kanne mit dem Apfelwein. »Unkonventionell zu sein, meine ich.« Er schenkte sich einen Becher ein und hob ihn in ihre Richtung. Sie akzeptierte anmutig und trank, dann stand sie auf. »Ich überlasse Euch jetzt Eurem Vergnügen, Meister Cauthon. Aber solltet Ihr Fortschritte wegen dieses Wegetors für mich machen …«

»Elayne sagte, sie hätte bald eines für Euch. In ein oder zwei Tagen. Sobald ich diese Sache hinter mir habe, die ich mit Thom und Noal erledigen muss, kümmere ich mich darum.«

Sie nickte verständnisvoll. Sollte er nicht von dieser »Sache« zurückkehren, würde sie sich um Olver kümmern. Sie wandte sich zum Gehen. Mat wartete, bis sie weg war, dann nahm er einen großen Schluck aus der Kanne. Das hatte er schon den ganzen Abend über getan, aber vermutlich wollte sie das lieber nicht wissen. Es gehörte zu den Dingen, über die Frauen besser nicht nachdachten.

Er wandte sich wieder den Berichten zu, aber bald schweiften seine Gedanken zu dem Turm von Ghenjei ab und den verdammten Schlangen und Füchsen. Birgittes Bemerkungen waren aufschlussreich gewesen, wenn auch nicht besonders ermutigend. Zwei Monate? Zwei verdammte Monate, die man in diesen Gängen umherirrte? Das war eine mächtige, dampfende Schüssel voller Sorge, serviert wie der Nachmittagsfraß. Darüber hinaus hatte sie Feuer, Musik und Eisen mitgenommen. So originell war die Idee, die Regeln zu brechen, also auch nicht.

Er war nicht überrascht. Vermutlich hatte an dem Tag, an dem das Licht den ersten Menschen erschuf und dieser Mensch die erste Regel erschuf, ein anderer darüber nachgedacht, sie zu brechen. Leute wie Elayne stellten Regeln auf, die ihnen zusagten. Leute wie Mat fanden Möglichkeiten, diese albernen Regeln zu umgehen.

Unglücklicherweise hatte Birgitte – eine der legendären Helden des Horns – die Aelfinn und Eelfinn nicht besiegen können. Das war beunruhigend.

Nun, er hatte, was sie nicht gehabt hatte. Sein Glück. Nachdenklich lehnte er sich zurück. Einer seiner Soldaten ging vorbei. Clintock salutierte; die Rotwaffen sahen jede halbe Stunde nach ihm. Sie waren noch immer nicht über die Schande hinweg, den Gholam ins Lager schleichen zu lassen.

Er nahm wieder Verins Brief, strich mit den Fingern darüber. Die Eselsohren, die Schmutzflecken auf dem einst weißen Papier. Er klopfte ihn gegen das Holz.

Dann warf er ihn auf den Tisch. Nein. Nein, er würde ihn nicht öffnen, selbst wenn er zurückkehrte. Damit war das erledigt. Er würde niemals erfahren, was dort stand, und es war ihm verdammt noch mal auch egal.

Er stand auf und machte sich auf die Suche nach Thom und Noal. Morgen brachen sie zum Turm von Ghenjei auf.

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