Elayne drehte das seltsame Medaillon in den Fingern und strich über den Fuchskopf auf der Vorderseite. Wie bei vielen Ter’angrealen konnte man nicht genau sagen, aus was für einem Metall es ursprünglich erschaffen worden war. Ihr Talent ließ sie Silber vermuten. Aber das Medaillon bestand nicht mehr aus Silber. Es war etwas anderes, etwas Neues.
Die Liedherrin der Theatertruppe des Glücklichen Mannes machte mit ihrem Lied weiter. Es war wunderschön, rein und hoch. Elayne saß auf einem gepolsterten Stuhl auf der rechten Seite des Saals, wo man für die Darsteller ein Podest aufgebaut hatte. Hinter ihr standen zwei von Birgittes Gardesoldatinnen.
Der Raum war dunkel und wurde lediglich von einer Reihe kleiner flackernder Lampen erhellt, die in Alkoven in den Wänden hinter blauem Glas standen. Das Blaulicht wurde von den brennenden gelben Laternen überstrahlt, die vor der Plattform aufgebaut waren.
Elaynes Gedanken schweiften ab. Sie hatte die Ballade »Der Tod der Prinzessin Walishen« oft gehört und verstand eigentlich nicht, warum man Worte und verschiedene Darsteller hinzufügen sollte, statt das ganze Ding von einem Barden vortragen zu lassen. Aber es war Elloriens Lieblingsballade, und die begeisterten Kommentare aus Cairhien über diese Schauspieler – die die dortigen Adligen erst kürzlich entdeckt hatten – waren bei vielen Adligen Andors das Gesprächsthema.
Darum dieser Abend. Ellorien war ihrer Einladung gefolgt;
vermutlich war sie interessiert. Warum war die Königin so kühn gewesen, sie einzuladen? Bald würde sie sich den Vorteil von Elloriens Anwesenheit zunutze machen. Aber noch nicht. Sollte die Frau zuerst die Aufführung genießen. Sie würde einen politischen Überfall erwarten. Sie würde darauf warten, dass sie sich neben sie setzte oder einen Diener mit einem Angebot schickte.
Elayne tat nichts dergleichen, sondern saß einfach da und betrachtete das Fuchskopf-Ter’angreaL Obwohl nur ein massives Stück Metall, stellte es dennoch ein kompliziertes Kunstwerk dar. Sie konnte die Gewebe fühlen, die man für seine Konstruktion benutzt hatte. Seine Feinheiten gingen weit über die Gradlinigkeit der in sich verdrehten Traumringe hinaus.
Irgendetwas machte sie falsch bei dem Versuch, das Medaillon zu reproduzieren. Einen der gescheiterten Versuche trug sie in der Gürteltasche. Sie hatte sich Kopien anfertigen lassen, die so genau waren, wie es den Silberschmieden möglich gewesen war, auch wenn sie vermutete, dass die Form selbst keine Rolle spielte. Aus irgendeinem Grund schien es um die Menge des verarbeiteten Silbers zu gehen, aber nicht um die Form, zu der man es verarbeitete.
Sie war nahe dran. Die Kopie in ihrer Tasche funktionierte nicht perfekt. Zwar glitten einfache Gewebe am Träger ab, aber die wirklich mächtigen konnten aus irgendeinem Grund nicht abgelenkt werden. Viel problematischer jedoch war, dass die Berührung der Kopie das Machtlenken unterband.
Mit dem Original in der Hand konnte man die Macht mühelos benutzen. Tatsächlich war sie begeistert gewesen, als sie entdeckt hatte, dass das Medaillon ihre Gewebe nicht im Mindesten beeinflusste. Die Schwangerschaft störte – das ärgerte sie noch immer -, aber es war möglich, mit dem Fuchskopf in der Hand die Macht zu lenken.
Aber nicht mit der Kopie. Sie hatte sie nicht richtig hinbekommen. Und leider hatte sie nur wenig Zeit. Mat würde sein Medaillon bald wieder brauchen.
Sie holte die Nachbildung heraus und stellte sie neben sich auf den Sitz, dann umarmte sie die Quelle und webte Geist. Einige der Kusinen, die ein paar Sitze weiter ebenfalls die Vorstellung genossen, schauten zu ihr hin, als sie das tat. Die meisten waren zu sehr von der Musik abgelenkt.
Elayne berührte das Medaillon. Augenblicklich lösten sich ihre Gewebe auf, die Quelle entglitt ihr. Als hätte man eine Abschirmung um sie gelegt.
Sie seufzte, als das Lied seinen Höhepunkt erreichte. Die Kopie war so nahe dran, und gleichzeitig so frustrierend. Sie würde doch niemals etwas tragen, das sie daran hinderte, die Quelle zu umarmen, nicht einmal, wenn man den Schutz bedachte, den dieser Gegenstand bot.
Trotzdem war ihre Mühe nicht völlig nutzlos gewesen. Möglicherweise würde sie Birgitte eine Kopie geben, vielleicht auch ein paar Hauptmännern der Garde. Es wäre nicht ratsam, zu viele dieser Kopien zu erschaffen. Nicht, wenn man sie so effektiv gegen Aes Sedai einsetzen konnte.
Vielleicht konnte sie Mat ja eine Kopie geben. Er würde es nicht merken, da er die Macht nicht lenken konnte …
Nein, dachte sie und verbannte die Verlockung, bevor sie zu groß wurde. Sie hatte versprochen, Mat das Medaillon zurückzugeben, und sie würde sich daran halten. Und keine Kopie, die nicht so gut funktionierte. Sie schob beide Medaillons in die Tasche ihres Kleides. Da sie jetzt wusste, dass sie Mat dazu bringen konnte, sich von seinem Medaillon zu trennen, konnte sie ihn ja vielleicht mit sanftem Druck dazu überreden, ihr mehr Zeit zu geben. Obwohl die Anwesenheit des Gholam ihr Sorgen machte. Was sollte man nur mit der Kreatur machen? Vielleicht war es ja doch keine so schlechte Idee, alle ihre Leibwächter mit Kopien des Medaillons auszustatten.
Das Lied endete, die letzte schrille Note verblasste wie eine Kerze, der der Docht ausging. Das Ende des Stücks folgte kurz darauf, Männer mit weißen Masken sprangen aus der Dunkelheit hervor. Ein grelles Licht flammte auf – man hatte etwas in eine der Laternen geworfen -, und als es wieder verblich, lag Walishen tot auf der Bühne, und der Rock ihres roten Kleides breitete sich um sie aus wie vergossenes Blut.
Das Publikum erhob sich und applaudierte. Es waren größtenteils Kusinen, allerdings waren auch einige Gefolgsleute der anderen Hohen Häuser darunter, die man eingeladen hatte. Ausschließlich Elaynes Gefolgsleute. Dyelin war natürlich da, und der junge Conail Northan und die genauso junge, aber doppelt so stolze Catalyn Haevin.
Dann war da noch die Adelige Sylvase Caeren. Was sollte man von ihr halten? Elayne schüttelte den Kopf und unterstützte den Beifall mit einem gesitteten Klatschen. Die Schauspieler würden sich allein auf sie konzentrieren. Zeigte sie keine Begeisterung, würden sie den ganzen Abend missmutiger Stimmung sein.
Nachdem das erledigt war, begab sich Elayne in einen nahe gelegenen Salon, der mit Polsterstühlen für eine entspannte Unterhaltung ausgestattet war. An der Seite war ein Büffet aufgebaut, das mit einem Diener in einer gestärkten rotweißen Uniformen bemannt war. Er hielt die Hände auf dem Rücken und wartete respektvoll auf die eintreffenden Gäste. Ellorien war natürlich nicht da – die grundsätzlichen Anstandsregeln besagten, dass ein Gast seinem Gastgeber den Vortritt ließ. Auch wenn Ellorien und Elayne nicht das beste Verhältnis zueinander hatten, war es undenkbar, schlechte Manieren an den Tag zu legen.
Ellorien trat kurz nach Elayne ein. Die mollige Frau plauderte mit einer der Kusinen und ignorierte bewusst die anderen Adligen in ihrer Nähe. Ihre Unterhaltung klang gezwungen. Vermutlich hätte sie am liebsten die ganze Schar gemieden, aber Elayne wusste, dass die Frau deutlich zeigen wollte, dass sie ihre Meinung über das Haus Trakand nicht geändert hatte.
Elayne lächelte, trat aber nicht auf sie zu, sondern wandte sich der eintretenden Sylvase zu. Man hätte das Mädchen mit den blauen Augen und der durchschnittlichen Größe durchaus als hübsch bezeichnen können, wäre da nicht diese immerwährende ausdruckslose Miene gewesen. Nicht emotionslos im Sinne einer Aes Sedai. Sondern völlig ausdruckslos. Manchmal hatte es den Anschein, als wäre Sylvase eine hübsch herausgeputzte Ankleidepuppe. Allerdings hatte sie gelegentlich verborgene Tiefen gezeigt, eine gut verborgene Gerissenheit.
»Danke für die Einladung, Euer Majestät«, sagte Sylvase in einem leicht unheimlichen monotonen Tonfall. »Das war sehr aufschlussreich.«
»Aufschlussreich?«, fragte Elayne. »Eigentlich hatte ich gehofft, es wäre vergnüglich.«
Sylvase erwiderte nichts. Sie warf Ellorien einen Blick zu, und dabei zeigte sie endlich so etwas wie ein Gefühl. Eine eisige Abneigung der Art, die einem eine Gänsehaut verursachte. »Warum habt Ihr sie eingeladen, Euer Majestät?«
»Haus Caeren lag ebenfalls schon mit Haus Trakand im Streit«, sagte Elayne. »Diejenigen, deren Loyalität oft am schwierigsten zu gewinnen ist, sind oft am wertvollsten, wenn man es denn geschafft hat.«
»Sie wird Euch nicht unterstützen, Euer Majestät«, sagte Sylvase mit noch immer zu ruhiger Stimme. »Nicht nach dem, was Eure Mutter tat.«
»Als meine Mutter vor Jahren den Thron bestieg«, sagte Elayne und betrachtete Ellorien, »gab es andere Häuser, die sie angeblich niemals für sich gewinnen würde. Und doch hat sie es geschafft.«
»Und? Ihr habt bereits ausreichend Unterstützung, Euer Majestät. Ihr habt Euren Sieg davongetragen.«
»Einen davon.«
Den Rest ließ sie ungesagt. Es gab eine Ehrenschuld für Haus Traemane. Es ging nicht allein um Elloriens Anerkennung des Löwenthrons. Es ging darum, die Entfremdung ungeschehen zu machen, die Elaynes Mutter unter dem Einfluss von Gaebril verursacht hatte. Es ging darum, den Ruf ihres Hauses wiederherzustellen, die Verfehlungen wiedergutzumachen, die sich wiedergutmachen ließen.
Aber das würde Sylvase nicht verstehen. Elayne hatte viel über die Kindheit des armen Mädchens erfahren; sie würde nicht viel von der Ehre eines Hohen Herrn halten. Anscheinend glaubte Sylvase allein an zwei Dinge: Macht und Vergeltung. Solange sie Elayne unterstützte und gelenkt werden konnte, würde sie keine Belastung sein. Aber sie würde für Haus Trakand auch niemals so eine Stütze wie Dyelin sein.
»Ist Euch mein Sekretär denn auch behilflich, Euer Majestät?«, fragte Sylvase.
»Ich denke schon«, antwortete Elayne. Bis jetzt hatte er keine nützlichen Ergebnisse vorzeigen können, allerdings hatte ihm Elayne auch nicht die Erlaubnis gegeben, seine Befragungen zu drastisch durchzuführen. Es war eine schwierige Situation. Sie hatte diese Gruppe der Schwarzen Ajah schon so gut wie einer Ewigkeit gejagt. Jetzt hatte sie sie… und was machte sie mit ihnen?
Birgitte hatte die Gefangenen augenscheinlich am Leben gelassen, damit man sie der Befragung unterziehen konnte, um sie dann in der Weißen Burg vor Gericht zu stellen. Aber das bedeutete, dass sie keinen Grund zum Reden hatten; sie wussten genau, dass am Ende die Hinrichtung auf sie wartete. Also musste Elayne entweder bereit sein, mit ihnen zu verhandeln, oder sie musste den Verhörspezialisten erlauben, zu extremen Maßnahmen zu greifen.
Eine Königin musste hart genug sein, um solche Dinge zuzulassen. Zumindest hatten ihre Lehrer und Berater ihr das so erklärt. Die Schuld dieser Frauen stand außer Frage, und sie hatten bereits genug angerichtet, um den Tod ein Dutzend Mal zu verdienen. Aber Elayne war sich nicht darüber im Klaren, wie weit zu gehen sie bereit war, um ihnen ihre Geheimnisse zu entreißen.
Davon abgesehen, was würde das überhaupt bringen? Ispan war von irgendeiner Art Zwang oder Eid gebunden gewesen; für ihre Gefangenen würde vermutlich das Gleiche gelten. Würden sie überhaupt etwas Nützliches enthüllen können? Hätte doch nur eine Möglichkeit bestanden, sie …
Sie zögerte und überhörte Sylvases nächste Bemerkung, weil ihr ein Gedanke gekommen war. Birgitte würde es natürlich nicht gefallen. Aber Birgitte gefiel ohnehin nichts. Elayne hatte gespürt, dass sie den Palast verlassen hatte und vermutlich die Wachtposten draußen kontrollierte.
»Entschuldigt mich bitte, Sylvase«, sagte Elayne. »Mir ist gerade etwas eingefallen, das ich unbedingt erledigen muss.«
»Natürlich, Euer Majestät«, sagte das Mädchen mit einer ausdruckslosen, beinahe unmenschlichen Stimme.
Elayne ließ sie stehen und begrüßte schnell die anderen, um sich sofort wieder zu verabschieden. Conail sah gelangweilt aus. Er war gekommen, weil es von ihm erwartet wurde. Dyelin war wie üblich freundlich und vorsichtig. Elayne mied Ellorien. Sie grüßte jeden in dem Raum, der von Bedeutung war. Dann ging sie auf den Ausgang zu.
»Elayne Trakand«, rief Ellorien.
Elayne blieb stehen und erlaubte sich ein Lächeln. Dann drehte sie sich um und tilgte alles außer berechnender Neugier aus ihrer Miene. »Ja, Lady Ellorien?«
»Habt Ihr mich bloß eingeladen, um mich dann zu ignorieren?«, wollte die Frau von der anderen Zimmerseite aus wissen. Die anderen Unterhaltungen verstummten.
»Aber nicht doch«, sagte Elayne. »Ich hatte nur den Eindruck, dass Ihr es zu schätzen wüsstet, wenn ich mich Euch nicht aufdränge. Dieser Abend sollte keinen politischen Zwecken dienen.«
Ellorien runzelte die Stirn. »Worum ging es dann?«
»Eine gute Ballade zu genießen, Lady Ellorien. Und Euch vielleicht an die Tage zu erinnern, in denen Ihr Euch in der Gesellschaft von Haus Trakand amüsiert habt.« Sie lächelte und nickte knapp, dann ging sie.
Soll sie darüber nachdenken, dachte Elayne zufrieden. Ellorien hatte zweifellos gehört, dass Gaebril einer der Verlorenen gewesen war. Die Frau würde das vermutlich nicht glauben, aber vielleicht erinnerte sie sich ja an die Jahre des Respekts, den sie und Morgase einander erwiesen hatten. Sollten wenige Monate Grund genug sein, um Jahre der Freundschaft zu vergessen?
Unten an der Treppe zum Wohnzimmer fand Elayne Kaila Bent, die den Rang eines Hauptmanns von Birgittes Gardistinnen bekleidete. Die Frau mit dem feuerroten Haar plauderte freundlich mit zwei Gardesoldaten, die offensichtlich eifrig bemüht waren, ihre Gunst zu erringen. Alle nahmen augenblicklich Haltung an, als sie Elayne bemerkten.
»Wo ist Birgitte hingegangen?«, fragte Elayne.
»Sie untersucht einen Zwischenfall am Tor, Euer Majestät«, sagte Kaila. »Man hat mir mitgeteilt, dass es falscher Alarm war. Der Söldnerhauptmann, den Ihr empfangen habt, hat versucht, sich auf das Palastgelände zu schleichen. Hauptmann Birgitte verhört ihn.«
Elayne hob eine Braue. »Ihr meint Matrim Cauthon?«
Die Frau nickte.
»Sie ›verhört‹ ihn?«
»Das habe ich so gehört, Euer Majestät«, erwiderte Kaila.
»Also mit anderen Worten, die beiden sind einen Trinken gegangen«, sagte Elayne seufzend. Beim Licht, das war ein schlechter Zeitpunkt dafür.
Oder war es nicht doch ein guter Zeitpunkt? Birgitte konnte sich nicht über ihren Plan für die Schwarzen Ajah beschweren, wenn sie mit Mat unterwegs war. Elayne lächelte. »Hauptmann Bent, Ihr begleitet mich.« Sie ließen die Theaterräume hinter sich zurück und näherten sich dem Inneren des Palasts. Die Frau ging hinter ihr her und bedeutete einer im Korridor stationierten Abteilung Gardistinnen, ihnen zu folgen.
Mit einem zufriedenen Lächeln fing Elayne an, Befehle zu geben. Eine der Gardesoldatinnen rannte los, um sie auszurichten, obwohl die seltsamen Befehle sie verwirrt zu haben schienen. Elayne ging weiter zu ihren Gemächern, dann setzte sie sich und dachte nach. Sie würde schnell handeln müssen. Birgitte war schlechter Laune; das verriet der Bund.
Kurz darauf kam ein Diener mit einem voluminösen schwarzen Umhang. Elayne sprang auf, legte ihn an und umarmte die Quelle. Sie brauchte drei Versuche! Verdammte Asche, aber manchmal war ihre Schwangerschaft frustrierend.
Sie hüllte sich mit Geweben aus Feuer und Luft ein und machte sich mit dem Spiegel des Nebels größer und eindrucksvoller. Sie holte ihr Schmuckkästchen hervor und fischte die kleine elfenbeinerne Schnitzerei einer sitzenden, von ihrem Haar verhüllten Frau heraus. Mit dem Angreal zog sie so viel von der Einen Macht in sich hinein, wie sie wagte. Für einen Beobachter, der die Macht beherrschte, würde sie in der Tat imponierend aussehen.
Sie warf einen Blick auf die Gardistinnen. Sie waren offensichtlich verwirrt und hatten unbewusst die Hände auf den Schwertgriff gelegt. »Euer Majestät?«, fragte Kaila.
»Wie sehe ich aus?«, wollte Elayne wissen und zupfte an den Geweben herum, um ihre Stimme noch tiefer klingen zu lassen.
Kaila riss die Augen noch weiter auf. »Wie eine zum Leben erwachte Donnerwolke, Euer Majestät.«
»Also eindrucksvoll?«, fragte Elayne. Der gefährliche, beinahe unmenschliche Klang ihrer Stimme ließ sie tatsächlich leicht zusammenzucken. Perfekt!
»Das würde ich behaupten«, sagte die schlanke Gardistin und runzelte die Stirn. »Allerdings verderben die Schuhe das Bild.«
Elayne schaute nach unten und fluchte, als sie die pinkfarbene Seide erblickte. Sie webte wieder und ließ Füße und Schuhe verschwinden. Das Gewebe würde den Eindruck erwecken, als schwebte sie in pulsierende Dunkelheit gehüllt in der Luft. Der aufgebauschte Umhang flatterte hinter ihr. Ihr Gesicht war völlig in Dunkelheit getaucht. Als Zugabe erschuf sie zwei leuchtende rote Punkte auf Augenhöhe. Wie zwei brennende Holzscheite, die ein tiefrotes Licht ausstrahlten.
»Das Licht stehe uns bei«, flüsterte eine der Frauen.
Elayne nickte, und ihr Herz schlug vor Aufregung schneller. Sie machte sich keine Sorgen. Sie war sicher. Mins Sicht hatte das versprochen. Noch einmal ging sie ihren Plan durch. Er war solide. Aber man konnte ihn nur auf eine Weise in die Tat umsetzen.
Sie drehte die Gewebe um und verknotete sie. Dann wandte sie sich den Gardistinnen zu. »Macht das Licht aus und verhaltet euch ruhig«, sagte sie zu ihnen. »Ich bin bald wieder da.«
»Aber …«, sagte Kaila.
»Das ist ein Befehl, Gardistin«, sagte sie energisch. »Ihr solltet ihn lieber befolgen.«
Die Frau zögerte. Vermutlich wusste sie ganz genau, dass Birgitte das niemals zugelassen hätte. Aber glücklicherweise war Kaila nicht Birgitte. Zögernd gab sie den Befehl, und im Raum wurden die Lichter gelöscht.
Elayne griff in die Tasche und holte das echte Fuchskopf-Medaillon hervor, verbarg es in der Hand. Dann holte sie tief Luft und erschuf ein Wegetor. Im dunklen Raum gleißte der Strich aus Licht und tauchte sie in einen bleichen Schimmer, der an Mondlicht erinnerte. Er öffnete sich in einen Raum mit vergleichbarer Dunkelheit.
Elayne trat hindurch und fand sich im Palastkerker wieder, in einer der Zellen. Auf der anderen Seite kniete eine Frau neben der stabilen Tür, die durch ein Gitterfenster das einzige Licht in den feuchten Raum einließ. Rechts gab es eine kleine Pritsche, links stand ein Eimer, der als Nachttopf diente. Der kleine Raum stank nach Moder und menschlichen Exkrementen, und ganz in der Nähe konnte Elayne das Scharren von Ratten hören. Für die Frau vor ihr schien die Unterbringung immer noch viel zu üppig zu sein.
Sie hatte Chesmal absichtlich ausgesucht. Die Frau schien eine gewisse Autorität unter den Schwarzen zu haben, und sie war mächtig genug, dass sich die meisten anderen vor ihr verneigten. Aber sie war bei ihrer letzten Begegnung auch eher leidenschaftlich als logisch erschienen. Das würde wichtig sein.
Die hochgewachsene, hübsche Frau fuhr herum, als ihre Besucherin die Zelle betrat. Elayne hielt den Atem an. Glücklicherweise funktionierte die Täuschung. Chesmal warf sich auf den strohbedeckten Boden.
»Erhabener«, zischte die Frau. »Ich hatte …«
»Schweig!«, rief Elayne mit donnernder Stimme.
Chesmal zuckte zusammen und blickte zur Seite, als wartete sie darauf, dass die Wächter draußen einen Blick in die Zelle warfen. Dort würden Kusinen sein, die Chesmals Abschirmung aufrechterhielten; Elayne fühlte sie. Trotz des Lärms kam keiner. Die Kusinen befolgten Elaynes Befehle, so seltsam sie auch sein mochten.
»Du bist weniger wert als eine Ratte«, sagte Elayne mit ihrer vorgetäuschten Stimme. »Man hat dich hergeschickt, um den Ruhm des Großen Herrn zu mehren, und was hast du getan? Zugelassen, dass dich diese Narren gefangen nehmen, diese Kinder?«
Chesmal wimmerte und machte sich noch kleiner. »Ich bin Dreck, Erhabener. Ich bin nichts! Wir haben Euch enttäuscht. Bitte, vernichtet mich nicht!«
»Und warum nicht?«, bellte Elayne. »Deine Gruppe hat immer wieder nur versagt! Was hast du erreicht, das mich vielleicht davon überzeugt, dir dein Leben zu lassen?«
»Wir haben viele dieser Narren getötet, die gegen den Großen Herrn arbeiten!«, wimmerte Chesmal.
Elayne zuckte zusammen, stählte sich, erschuf aus Luft eine Peitsche und prügelte auf den Rücken der Frau ein. Chesmal hatte noch ganz anderes verdient. »Du hattest nichts mit ihrem Tod zu tun! Hältst du mich für dumm? Glaubst du, ich wüsste nicht Bescheid!«
»Nein, Erhabener«, jammerte Chesmal und krümmte sich noch mehr zusammen. »Bitte!«
»Dann gib mir einen Grund, dich am Leben zu lassen!«
»Ich habe Informationen, Erhabener«, sagte Chesmal schnell. »Einer von denen, die wir suchen sollten, die beiden Männer, die um jeden Preis getötet werden müssen … einer von ihnen ist hier, in Caemlyn!«
Wovon spricht sie? Elayne zögerte. »Weiter.«
»Er reitet zusammen mit einem Söldnerhaufen«, sagte Chesmal und schien erleichtert zu sein, über erwünschte Informationen zu verfügen. »Er ist der Mann mit den scharfen Augen, der den Hut trägt und den von Raben gezeichneten Speer hat!«
Mat? Die Schattenfreunde jagten Maf? Sicher, er war Rands Freund und ta’veren. Aber was hatte er getan, um den Zorn der Verlorenen auf sich zu lenken? Viel beunruhigender war, dass Chesmal über Mats Anwesenheit in der Stadt Bescheid wusste. Er war erst nach der Gefangennahme der Schwarzen Schwestern eingetroffen! Das bedeutete …
Das bedeutete, dass Chesmal und die anderen Kontakt mit weiteren Schattenfreunden hatten. Aber mit wem? »Und wie hast du das entdecken können? Warum wurde das nicht bereits berichtet?«
»Ich habe es erst heute gehört, Erhabener«, sagte Chesmal und klang schon viel selbstbewusster. »Wir planen ein Attentat. «
»Und wie willst du das machen, solange du eingesperrt bist?«, verlangte Elayne zu wissen.
Chesmal schaute kurz auf. Ihre Miene zeigte Verwirrung. Sie sagte nichts.
Ich habe ihr verraten, dass ich nicht so viel weiß, wie ich eigentlich wissen müsste. Hinter ihrer Schattenmaske biss Elayne die Zähne zusammen.
»Erhabener«, sagte Chesmal. »Ich habe meine Befehle sorgfältig erfüllt. Wie befohlen sind wir fast in der Position, um mit der Invasion zu beginnen. Bald wird Andor im Blut unserer Feinde schwimmen und der Große Herr in Feuer und Asche herrschen. Wir vollenden es.«
Worum ging es hier? Eine Invasion von Andor? Unmöglich! Wie sollte das passieren? Wie konnte es passieren? Aber konnte sie es wagen, diese Frage zu stellen? Chesmal schien bereits den Verdacht zu haben, dass etwas nicht stimmte.
»Ihr seid nicht der Auserwählte, der mich zuvor besuchte, oder, Erhabener?«
»Jemand wie du darf uns nicht infrage stellen«, knurrte Elayne und unterstrich die Bemerkung mit einem weiteren Peitschenschlag Luft auf den Rücken der Frau. »Ich muss wissen, wie viel man dir verraten hat. Damit ich die Lücken in deinem Wissen beurteilen kann. Wenn du nicht weißt, dass … Nun, das werden wir ja sehen. Erkläre mir zuerst, was du über die Invasion weißt.«
»Ich weiß, dass die Stunde nahe ist«, sagte Chesmal. »Hätten wir mehr Zeit gehabt, hätten wir vielleicht besser planen können. Könntet Ihr mich aus diesem Kerker befreien, dann könnte ich …«
Sie verstummte und blickte zur Seite.
Der Zeitpunkt. Elayne wollte weitere Informationen verlangen, zögerte dann aber. Was? Sie konnte die Kusinen draußen nicht länger fühlen. Waren sie gegangen? Und was war mit Chesmals Abschirmung?
Die Tür rüttelte, das Schloss drehte sich, dann flog sie auf und enthüllte eine Gruppe von Leuten auf der anderen Seite. Und es waren nicht die Wächter, mit denen Elayne gerechnet hatte. An der Spitze der Gruppe stand ein Mann mit kurz geschnittenem schwarzen Haar, das an den Seiten dünner wurde, und einem gewaltigen Schnurrbart. Er trug braune Hosen und ein schwarzes Hemd; sein langer Mantel hatte Ähnlichkeit mit einer vorn geöffneten Robe.
Sylvases Sekretär! Hinter ihm befanden sich zwei Frauen, Temaile und Eldrith. Beide von der Schwarzen Ajah. Beide hielten die Quelle umarmt. Beim Licht!
Elayne unterdrückte ihre Überraschung, erwiderte ihren Blick und wich keinen Schritt zurück. Wenn sie eine Schwarze Schwester davon überzeugen konnte, eine Verlorene zu sein, dann konnte sie vielleicht auch drei von ihnen davon überzeugen. Temaile riss die Augen auf und warf sich auf die Knie, genau wie der Sekretär. Aber Eldrith zögerte. Elayne vermochte nicht mit Sicherheit zu sagen, ob es an ihrer Haltung, ihrer Verkleidung oder ihrer Reaktion auf die drei Neuankömmlinge lag. Vielleicht war es auch etwas ganz anderes. Auf jeden Fall ließ sich Eldrith nicht einschüchtern. Die Frau mit dem Mondgesicht fing an, die Macht zu lenken.
Elayne fluchte im Stillen und erschuf selbst Gewebe. Sie rammte eine Abschirmung gegen Eldrith, noch während sie fühlte, wie eine auf sie zuraste. Glücklicherweise hielt sie Mats lex’angreal. Das Gewebe löste sich auf, und das Medaillon in Elaynes Hand wurde eiskalt. Ihr Gewebe glitt mühelos zwischen Eldrith und die Quelle und schnitt sie davon ab. Das Glühen der Macht um sie herum erlosch.
»Was tust du da, du Närrin!«, kreischte Chesmal. »Du willst einen der Auserwählten überwältigen? Du wirst uns alle noch umbringen!«
»Das ist kein Auserwählter«, brüllte Eldrith zurück. Zu spät dachte Elayne daran, einen Knebel aus Luft zu weben. »Man hat dich reingelegt! Das ist…«
Elayne stopfte ihr den Knebel in den Mund, aber es war bereits zu spät. Temaile, die immer viel zu vornehm ausgesehen hatte, um eine Schwarze Schwester zu sein, umarmte die Quelle und sah auf. Chesmals Ausdruck verwandelte sich von Entsetzen in nackte Wut.
Mit rasender Schnelligkeit verknüpfte Elayne Eldriths Abschirmung und webte die nächste. Ein Gewebe Luft traf sie. Das Fuchskopf-Medaillon wurde kalt, und Elayne segnete Mat für seine genau zum richtigen Zeitpunkt erfolgte Leihgabe und platzierte eine Abschirmung zwischen Chesmal und der Quelle.
Temaile starrte Elayne ungläubig an, als ihre Gewebe versagten. Aber Sylvases Sekretär war nicht so langsam. Unerwartet warf er sich nach vorn und stieß Elayne wuchtig gegen die Mauer.
Ein greller Schmerz durchzuckte ihre Schulter; sie fühlte etwas brechen. Ihr Schulterblatt? Die Kinder!, schoss ihr durch den Kopf. Es war ein instinktives Aufblitzen aus Entsetzen und würgender Angst, das sämtliche Gedanken an Min und Sichten verdrängte. In ihrer Überraschung ließ sie das Wegetor zu ihrem Zimmer oben im Palast los. Es erlosch flackernd.
»Sie hat irgendein Ter’angreal«, rief Temaile. »Die Gewebe gleiten von ihr ab.«
Elayne stieß sich von der Wand ab und prallte gegen den Sekretär, setzte zu einem Gewebe Luft an, das ihn zurückstoßen sollte. Aber dabei krallte er nach ihrer Hand, da er dort vermutlich etwas Silbernes hatte aufblitzen sehen. Der Sekretär schloss die langen Finger in dem Augenblick um das Medaillon, in dem ihn Elaynes Luftstoß traf.
Der Mann wurde zurückkatapultiert, hielt das Medaillon aber fest. Elayne knurrte wütend. Temaile grinste bösartig, Gewebe aus Luft bildeten sich um sie. Sie schleuderte sie, aber Elayne begegnete ihnen mit ihren eigenen Geweben.
Die beiden Gewebe stießen zusammen und wühlten die Luft in dem kleinen Raum auf. Stroh flog in alle Richtungen. Der plötzliche Druckanstieg ließ Elaynes Ohren protestieren. Der dunkelhaarige Sekretär floh auf allen vieren vor der Schlacht, das Ter’angreal in der Faust. Elayne griff mit einem Gewebe danach – aber es löste sich auf.
Wütend schrie sie auf; in ihrer Schulter pochte der Schmerz, wo sie gegen die Wand geprallt war. In dem kleinen Raum war durch die vielen Leute kaum Platz, und Temaile stand in der Tür und hinderte den Sekretär unbeabsichtigt an der Flucht. Vielleicht war es auch Absicht; vermutlich wollte sie das Medaillon haben. Die anderen beiden Schwarzen Schwestern waren noch immer abgeschirmt und kauerten sich zusammen, während um sie herum der Wind tobte.
Elayne sog so viel Macht durch ihr Angreal, wie sie wagte, dann stemmte sie Gewebe gegen das von Temaile. Einen Augenblick lang rangen sie miteinander, dann gelang Elaynes Gewebe der Durchbruch, traf Temaile und schleuderte sie aus der Zelle gegen die Korridorwand. Elayne ließ eine Abschirmung folgen, allerdings sah es so aus, als hätte Temaile durch den Luftstoß das Bewusstsein verloren.
Der Sekretär schoss auf die Tür zu. Ein Stich der Panik durchzuckte Elayne. Sie tat das Einzige, das ihr einfiel. Mit einem Gewebe Luft warf sie Chesmal gegen den Mann.
Beide gingen zu Boden. Ein metallisches Klirren hallte durch die Zelle, als das Fuchskopf-Medaillon über den Boden durch die Tür rollte.
Elayne atmete tief ein; Schmerzen schossen durch ihre Brust, und ihr Arm erschlaffte. Sie konnte ihn nicht mehr richtig heben. Wütend hielt sie ihn mit der anderen Hand fest und klammerte sich an die Quelle. Die Süße Saidars war ein Trost. Sie webte Luft und fesselte Chesmal, den Sekretär und Eldrith, die versucht hatte, verstohlen auf sie zuzukriechen.
Sich zur Ruhe zwingend, drängte sich Elayne an ihnen vorbei aus der kleinen Zelle, um nach Temaile im Korridor zu sehen. Die Frau atmete noch, war aber in der Tat bewusstlos. Elayne fesselte zur Sicherheit auch sie, dann hob sie vorsichtig das Medaillon auf. Die Bewegung ließ sie zusammenzucken. Ja, sie hatte sich mit Sicherheit einen Knochen gebrochen.
Der dunkle Korridor war leer; seine vier Zellentüren wurden von einer einzigen Stehlampe erhellt. Wo waren die Gardisten und die Kusinen? Zögernd löste sie die Gewebe ihrer Tarnung auf – sie wollte nicht, dass eintreffende Soldaten sie für eine Schattenfreundin hielten. Jemand musste doch den Lärm gehört haben! Im Hinterkopf spürte sie Birgittes Sorge; ihre Behüterin hatte zweifellos ihre Verletzung gespürt und war bereits auf dem Weg.
Beinahe hätte Elayne die Schmerzen in ihrer Schulter dem Vortrag vorgezogen, den sie sich von Birgitte würde anhören müssen. Als sie daran dachte, zuckte sie wieder zusammen, dann drehte sie sich um und sah nach ihren Gefangenen. Sie musste noch die anderen Zellen überprüfen.
Natürlich würden ihre Kinder wohlauf sein. Die Schmerzen hatten sie überreagieren lassen; eigentlich hatte sie gar keine Angst verspürt. Trotzdem war es besser …
»Hallo, meine Königin«, flüsterte ihr ein Mann ins Ohr, bevor ein zweiter Schmerz durch ihre Seite fuhr. Sie keuchte auf und stolperte vorwärts. Eine Hand riss ihr das Medaillon aus den Fingern.
Elayne fuhr herum, und der Raum schien zu verschwimmen. Etwas Warmes floss ihr die Seite hinunter. Sie blutete! Sie war so verblüfft, dass ihr die Quelle entglitt.
Doilin Mellar stand im Korridor, in der Rechten ein blutiges Messer, in der Linken das Medaillon. Ein breites Lächeln, fast schon ein anzügliches Grinsen, ließ ihn das schmale Gesicht verziehen. Obwohl er nur Lumpen trug, sah er so selbstsicher aus wie ein König auf dem Thron.
Elayne zischte und griff nach der Quelle. Nichts geschah. Hinter ihr ertönte ein Kichern. Sie hatte vergessen, Chesmals Abschirmung zu verknüpfen! Sobald sie die Quelle losgelassen hatte, mussten sich die Gewebe aufgelöst haben. Elayne sah genau hin und entdeckte die Gewebe, die sie von der Quelle abschnitten.
Chesmals hübsches Gesicht war gerötet; sie lächelte Elayne an. Beim Licht! Zu Elaynes Füßen bildete sich eine Blutlache. Es wurde immer mehr.
Sie stolperte gegen die Korridorwand, Mellar auf der einen, Chesmal auf der anderen Seite.
Sie konnte unmöglich sterben. Min hatte gesagt… Wir könnten es falsch interpretieren, stiegen Birgittes Worte in ihrer Erinnerung auf. Alles Mögliche könnte trotzdem schiefgehen.
»Heilt sie«, sagte Mellar.
»Was?«, fragte Chesmal. Hinter ihr klopfte Eldrith sich in der Zellentür den Staub ab. Sie war zu Boden gestürzt, als sich Elaynes Luftgewebe aufgelöst hatten, aber die Abschirmung hatte noch immer Bestand. Die hatte Elayne ja auch verknüpft.
Denk nach, sagte sich Elayne, während ihr Blut zwischen den Fingern zu Boden tropfte. Es muss einen Ausweg geben. Das muss es! Beim Licht! Birgitte, beeil dich!
»Ihr sollt sie Heilen«, wiederholte Mellar. »Die Messerwunde sollte nur dafür sorgen, dass sie Euch loslässt.«
»Ihr seid ein Narr«, erwiderte Chesmal. »Wären die Gewebe verknüpft gewesen, hätte eine Verletzung uns nicht befreit!«
»Dann wäre sie eben gestorben.« Mellar zuckte mit den Schultern. Er musterte Elayne; in seinen hübschen Augen funkelte die Lust. »Und das wäre eine Schande gewesen. Denn sie wurde mir versprochen, Aes Sedai. Ich werde sie bestimmt nicht in diesem Kerker sterben lassen. Sie stirbt erst dann, wenn ich Zeit hatte, sie … zu genießen.« Er sah die Schwarze Schwester an. »Davon abgesehen, glaubt Ihr, dass die, denen wir dienen, erfreut sein würden, wenn sie wüssten, dass Ihr die Königin von Andor sterben ließet, ohne vorher ihre Geheimnisse zu ergründen?«
Chesmal sah unzufrieden aus, erkannte aber anscheinend die Weisheit in seinen Worten. Hinter ihnen schlüpfte der Sekretär aus der Zelle, schaute sich nach beiden Seiten um und eilte dann los, in Richtung Treppe. Chesmal trat zu Elayne. Glücklicherweise wurde ihr schwindlig. Sie lehnte den Rücken gegen die Wand, ohne die Schmerzen ihrer gebrochenen Schulter weiter wahrzunehmen, dann rutschte sie nach unten, bis sie auf dem Boden saß.
»Dummes Mädchen«, sagte Chesmal. »Ich habe deine List natürlich durchschaut. Ich habe dich hereingelegt, denn ich wusste, dass Hilfe unterwegs war.«
Die Worte klangen hohl; sie log nur wegen der anderen. Das Heilen. Elayne brauchte … das … Heilen. Ihr Verstand wurde immer benebelter, es wurde dunkel um sie. Sie legte die Hand an die Seite, verspürte schreckliche Angst um sich selbst, Angst um ihre Kinder.
Ihre Hand rutschte ab. Sie fühlte etwas durch den Stoff ihrer Tasche. Die Kopie des Fuchskopf-Medaillons.
Chesmal legte Elayne die Hände auf den Kopf und erschuf Heilgewebe. Elaynes Adern füllten sich mit Eiswasser, eine Welle der Macht überwältigte ihren Körper. Sie schnappte nach Luft, und die Schmerzen in ihrer Seite und ihrer Schulter verschwanden.
»So, erledigt«, sagte Chesmal. »Und jetzt schnell, wir müssen …«
Elayne riss das andere Medaillon heraus. Reflexartig griff Chesmal danach. Und konnte die Macht nicht länger lenken. Ihre Gewebe verschwanden, Elaynes Abschirmung eingeschlossen.
Fluchend ließ Chesmal das Medaillon fallen. Es rollte über den Boden, während sie eine neue Abschirmung webte.
Elayne hielt sich nicht mit einer Abschirmung auf. Dieses Mal webte sie Feuer. Einfach, direkt, gefährlich. Die Kleidung der Schwarzen Schwester flammte auf, bevor sie mit Weben fertig war, und Chesmal schrie auf.
Elayne zwang sich auf die Füße. Der Korridor drehte sich um sie – das Heilen hatte ihr viel abverlangt -, aber bevor das Karussell endete, webte sie einen weiteren Strang Feuer und schleuderte ihn auf Mellar. Er hatte das Leben ihrer Kinder in Gefahr gebracht! Er hatte auf sie eingestochen! Er …
Das Gewebe löste sich in dem Augenblick auf, in dem es ihn berührte. Er lächelte Elayne an und stoppte etwas mit dem Fuß. Das zweite Medaillon. »Was denn, noch eins?«, sagte er und hob es auf. »Wenn ich dich schüttle, fällt dann ein drittes heraus?«
Elayne fauchte. Chesmal brannte noch immer lichterloh und kreischte wie eine Wilde. Sie stürzte zu Boden und trat um sich, und der Korridor füllte sich mit dem beißenden Gestank von verbranntem Fleisch. Beim Licht! Elayne hatte sie nicht töten wollen. Aber nun galt es keine Zeit zu verlieren. Sie webte Luft und riss Eldrith wieder in die Höhe, bevor die Frau entkommen konnte. Stemmte sie zwischen sich und Mellar, nur für alle Fälle. Er sah aufmerksam zu und kam langsam näher, in der einen Hand die beiden Medaillons, in der anderen den Dolch. Er war noch immer mit Elaynes Blut befleckt.
»Wir sind noch nicht fertig miteinander, meine Königin«, sagte er leise. »Den anderen versprach man Macht. Aber meine Belohnung warst schon immer du. Ich bekomme immer, was man mir schuldet.« Er behielt Elayne sorgfältig im Auge, rechnete mit einer Finte.
Wäre ihr doch nur eine eingefallen. Sie konnte kaum aufrecht stehen. Die Quelle festzuhalten fiel schwer. Sie wich zurück, hielt Eldrith zwischen sich und Mellar. Sein Blick glitt zu der stämmigen Frau; Luft fesselte ihre Arme an die Seiten und ließ sie einen Zoll über dem Boden schweben. Mit einer ruckartigen Bewegung machte er einen Satz und schnitt Eldrith die Kehle durch.
Elayne zuckte zusammen und wich hektisch weiter zurück.
»Tut mir leid«, sagte Mellar, und Elayne brauchte einen Augenblick, bis sie begriff, dass er Eldrith meinte. »Aber Befehle sind Befehle.« Und er bückte sich und rammte den Dolch in Temailes bewusstlosen Körper.
Er durfte nicht mit den Medaillons entkommen! Mit einer verzweifelten Kraftanstrengung zog Elayne die Eine Macht in sich hinein und webte Erde. Und als sich Mellar aufrichtete, zerrte sie an der Decke über ihm. Steine zerbrachen und regneten in die Tiefe, ließen ihn aufschreien und den Kopf schützen, als er zurücksprang. Etwas klirrte durch die Luft. Metall auf Stein.
Der Korridor erbebte, eine Staubwolke wogte. Der Steinregen trieb Mellar fort, verhinderte aber auch, dass sie ihn verfolgte. Er verschwand rechts die Treppe hoch. Völlig erschöpft sank Elayne auf die Knie. Aber dann sah sie etwas zwischen dem Geröll der herabgestürzten Deckensteine glitzern. Etwas Silbernes. Eines der Medaillons.
Mit angehaltener Luft schnappte sie es sich. Und glücklicherweise entzog sich die Quelle nicht ihrem Griff. Mellar war anscheinend mit der Kopie entkommen, aber sie hatte noch immer das Original.
Seufzend gestattete sie sich, sich hinzusetzen und gegen die kalte Steinwand zu lehnen. Am liebsten hätte sie das Bewusstsein verloren, aber sie zwang sich dazu, das Medaillon in die Tasche zu stecken und wach zu bleiben, bis Birgitte in der Tür erschien. Die Behüterin keuchte heftig vom Laufen, ihr roter Mantel und der blonde Zopf waren nass vom Regen.
Hinter ihr betrat Mat den Gang, ein Halstuch vor dem Gesicht, das nasse braune Haar an den Kopf geklebt. Sein Blick huschte von Seite zu Seite, den Stab in seinen Händen kampfbereit.
Birgitte kniete an Elaynes Seite nieder. »Bist du verletzt?«, fragte sie drängend.
Elayne schüttelte erschöpft den Kopf. »Ich hatte alles im Griff.« Gewissermaßen. »Hast du zufällig der Welt einen Gefallen getan und Mellar unterwegs getötet?«
»Mellar?«, fragte Birgitte alarmiert. »Nein. Elayne, dein Kleid ist blutverschmiert!«
»Mir geht es gut«, sagte sie. »Wirklich, man hat mich Geheilt. «
Also war Mellar entkommen. »Schnell. Durchsucht die Korridore. Die Gardisten und die Kusinen, die den Kerker bewachten …«
»Wir haben sie gefunden«, berichtete Birgitte. »Unten hinter die Treppe gezwängt. Tot. Elayne, was ist hier passiert?« Neben ihr stieß Mat Temailes Leiche an und musterte den Dolch in ihrer Brust.
Elayne drückte beide Hände auf den Bauch. Ihre Kinder würden doch wohlauf sein, oder? »Ich tat etwas sehr Unüberlegtes, Birgitte, und ich weiß, dass du mich deswegen anschreien wirst. Aber würdest du mich bitte vorher in meine Gemächer bringen? Ich glaube, Melfane sollte einen Blick auf mich werfen. Nur für alle Fälle.«
Eine Stunde nach dem gescheiterten Attentatsversuch auf Egwene stand Gawyn allein in dem kleinen Zimmer, das zu den Gemächern der Amyrlin gehörte. Man hatte ihn von den Fesseln der Gewebe befreit und ihm dann befohlen, dort zu warten.
Schließlich rauschte Egwene in den Raum. »Setz dich«, sagte sie.
Er zögerte, aber ihr wilder Blick hätte eine Kerze entzünden können. Er setzte sich auf den Hocker. Der kleine Raum enthielt ein paar Truhen für Kleider und mehrere Kleiderschränke. Die Tür führte in das größere Wohnzimmer, wo ihn die Gewebe gefangen hatten; von diesem Zimmer führte eine weitere Tür in Egwenes Schlafzimmer.
Egwene schloss die Tür und trennte sie von den vielen Wächtern, Behütern und Aes Sedai, die die anderen Zimmer bevölkerten. Ihre Unterhaltungen drangen als leises Summen durch das Holz. Egwene trug noch immer Rot und Gold, sie hatte goldene Fäden in ihr dunkles Haar geflochten. Ihre Wangen waren vor Zorn gerötet. Das ließ sie noch schöner als gewöhnlich aussehen.
» Egwene, ich …«
»Ist dir klar, was du getan hast?«
»Ich habe nachgesehen, ob es der Frau, die ich liebe, gut geht, nachdem ich einen Attentäter vor ihrer Tür fand.«
Sie verschränkte die Arme unter den Brüsten. Er konnte die Hitze ihrer Wut förmlich spüren. »Dein Gebrüll hat die halbe Weiße Burg geweckt. Man sah dich gefangen. Vermutlich weiß der Attentäter jetzt über meine Gewebe Bescheid.«
»Beim Licht, Egwene! Du tust gerade so, als hätte ich das absichtlich getan. Ich wollte dich bloß beschützen.«
»Ich habe nicht um deinen Schutz gebeten! Aber um deinen Gehorsam! Gawyn, begreifst du nicht, welche Gelegenheit wir hier versäumt haben? Hättest du Mesaana nicht verscheucht, wäre sie mir in die Falle gegangen!«
»Das war keine der Verlorenen«, sagte Gawyn. »Es war ein Mann.«
»Du hast gesagt, du konntest weder das Gesicht noch die Gestalt erkennen, weil alles verschwommen war.«
»Nun … ja. Aber er kämpfte mit dem Schwert.«
»Und eine Frau kann kein Schwert benutzen? Die Größe der Person, mit der du es zu tun hattest, weist auf eine Frau hin.«
»Vielleicht, aber eine Verlorene? Beim Licht, Egwene, wäre es Mesaana gewesen, hätte sie mich mit der Macht zu Asche verbrannt!«
»Noch ein Grund, warum du mir hättest gehorchen sollen«, sagte Egwene. »Vielleicht hast du recht – möglicherweise war es einer von Mesaanas Handlangern. Ein Schattenfreund oder ein Grauer Mann. Wäre das der Fall, wären sie jetzt meine Gefangenen, und ich könnte etwas über Mesaanas Pläne erfahren. Und Gawyn, was wäre denn gewesen, wenn du auf Mesaana gestoßen wärst? Was hättest du ausrichten können?«
Er schaute zu Boden.
»Ich habe dir gesagt, dass ich Vorkehrungen getroffen habe«, fuhr sie fort. »Und trotzdem hast du meinen Befehl missachtet! Und wegen dir weiß die Mörderin jetzt, dass ich sie erwartete. Beim nächsten Mal wird sie vorsichtiger sein. Was glaubst du, wie viele Leben hast du uns gerade gekostet?«
Gawyn hielt die Hände im Schoß und versuchte die Fäuste zu verbergen, die er ballte. Er hätte Scham empfinden sollen, aber da war nur Wut. Ein Zorn, den er nicht erklären konnte – Zorn auf sich selbst, aber hauptsächlich Zorn auf Egwene, die seinen Fehler dazu nutzte, ihn mit Vorwürfen zu überhäufen.
»Anscheinend willst du gar keinen Behüter haben«, sagte er. »Denn ich sage dir eines, Egwene, wenn du es nicht erträgst, dass man auf dich aufpasst, dann wird kein Mann der richtige sein.«
»Vielleicht hast du recht«, sagte sie kurz angebunden. Mit raschelnden Röcken öffnete sie die Tür, ging hinaus und zog sie hinter sich zu. Sie knallte sie nicht zu, jedenfalls nicht richtig -
Gawyn stand auf und hätte der Tür am liebsten einen Tritt versetzt. Beim Licht, was war das doch für ein Fiasko geworden!
Er konnte durch die Tür hören, wie Egwene die Schaulustigen zurück in ihre Betten scheuchte und der Burgwache befahl, in dieser Nacht besonders aufmerksam zu sein. Das sollte aber bloß dem Anschein genügen. Sie wusste, dass der Attentäter es nicht so schnell wieder versuchen würde.
Gawyn schlüpfte aus dem Zimmer und ging. Sie sah ihn, sagte aber kein Wort und wandte sich stattdessen Silviana zu, um leise mit ihr zu sprechen. Die Rote warf Gawyn einen Blick zu, der einen Stein hätte zusammenzucken lassen.
Er kam an mehreren Wächtern vorbei, die durchaus respektvoll erschienen. Soweit es sie betraf, hatte er einen Angriff auf das Leben der Amyrlin vereitelt. Gawyn dankte ihrem Salut mit einem Nicken. In der Nähe stand Chubain und untersuchte das Messer, das Gawyn beinahe in die Brust bekommen hätte.
Chubain hielt ihm die Waffe hin. »Habt Ihr jemals so etwas gesehen?«
Er nahm das schmale Messer entgegen. Zum Wurf ausbalanciert, erinnerte die dünne Stahlklinge an eine längere Kerzenflamme. In die Mitte hatte man drei blutrote Steinchen eingesetzt.
»Was für ein Stein ist das?« Gawyn hielt die Klinge ins Licht.
»Den habe ich noch nie zuvor gesehen.«
Gawyn drehte das Messer ein paar Mal. Es gab keine Inschriften oder Verzierungen. »Das hätte mich um ein Haar das Leben gekostet.«
»Wenn Ihr wollt, könnt Ihr es mitnehmen«, sagte Chubain. »Vielleicht könnt Ihr es ja unter Brynes Männern herumzeigen; vielleicht hat einer von ihnen schon einmal so ein Messer gesehen. Wir haben ja noch das zweite, das wir im Korridor fanden.«
»Auch das war für mein Herz bestimmt.« Gawyn schob sich das Messer unter den Gürtel. »Danke. Ich habe auch ein Geschenk für Euch.«
Chubain sah ihn fragend an.
»Ihr habt Euch doch über die Männer beklagt, die Ihr verloren habt. Nun, ich habe da eine Gruppe von Soldaten, die ich wärmstens empfehlen kann.«
»Aus Brynes Heer?«, fragte Chubain und verzog den Mund. Wie viele Angehörige der Burgwache betrachtete er Brynes Heer als eine rivalisierende Streitmacht.
»Nein. Männer, die der Burg loyal gesinnt sind. Einige von denen, die die Ausbildung zum Behüter gemacht haben und zusammen mit mir auf Elaidas Seite kämpften. Jetzt fühlen sie sich am falschen Ort und wären lieber Soldaten statt Behüter. Ich würde es zu schätzen wissen, könntet Ihr ihnen ein Heim bieten. Es sind verlässliche Männer und ausgezeichnete Krieger.«
Chubain nickte. » Schickt sie zu mir.«
»Sie werden sich Euch morgen vorstellen«, sagte Gawyn. »Ich bitte nur um eines. Versucht nicht, die Gruppe voneinander zu trennen. Sie haben viel zusammen durchgemacht. Ihre Freundschaft gibt ihnen Kraft.«
»Das dürfte nicht schwer sein. Diese verfluchten Seanchaner haben die Zehnte Burgkompanie fast aufgerieben. Ich stelle ein paar Veteranen für Eure Jungs ab und bilde aus ihnen eine neue Kompanie.«
»Danke«, sagte Gawyn. Er wies mit dem Kopf auf Egwenes Gemächer. »Passt für mich auf sie auf, Chubain. Ich glaube, sie ist entschlossen, den Tod zu suchen.«
»Es ist meine Pflicht, die Amyrlin zu beschützen und ihr beizustehen. Aber wo werdet Ihr sein?«
»Sie hat mir deutlich zu verstehen gegeben, dass sie keinen Behüter will«, erklärte Gawyn und dachte an die Dinge, die Bryne früher am Abend gesagt hatte. Was wollte er, abgesehen von Egwene? Vielleicht war die Zeit gekommen, das herauszufinden. »Ich glaube, ich hätte meiner Schwester schon vor langer Zeit einen Besuch abstatten müssen.«
Chubain nickte, und Gawyn ging. Er holte seine Habseligkeiten aus der Unterkunft – es war kaum mehr als Kleidung zum Wechseln und ein Winterumhang -, begab sich zu den Ställen und sattelte Herausforderer.
Dann führte er sein Pferd zum Reisegelände. Dort tat rund um die Uhr eine Schwester Dienst; das hatte Egwene angeordnet. Die Aes Sedai – eine zierliche Grüne mit müdem Blick namens Nimri – stellte ihm keine Fragen. Sie erschuf ein Wegetor zu einem Hügel, der keine Reitstunde von Caemlyn entfernt lag.
Und so ließ er Tar Valon und Egwene al’Vere hinter sich zurück.
»Was ist das?«, verlangte Lan zu wissen.
Der gealterte Nazar schaute von seinen Satteltaschen auf. Der lederne Hadori hielt sein weißes Haar zurück. Neben ihrem Lager in der Mitte eines Waldes aus Hochlandkiefern plätscherte ein kleiner Bach. Diese Kiefern hätten nicht so viele braune Nadeln haben dürfen.
Nazar hatte etwas in die Tasche gestopft, und Län hatte zufällig etwas Goldenes funkeln gesehen. »Das hier?«, fragte Nazar. Er zog das Tuch hervor: eine strahlend weiße Flagge, in deren Mitte ein goldener Kranich aufgestickt war. Es war eine gelungene Arbeit, mit wunderbaren Stichen ausgeführt. Um ein Haar hätte Lan sie Nazar aus den Fingern und in zwei Hälften gerissen.
»Ich sehe Euren Gesichtsausdruck, Lan Mandragoran«, sagte Nazar. »Nun, bezieht das bloß nicht auf Euch. Ein Mann hat das Recht, die Flagge seines Königreichs mit sich zu tragen.«
»Nazar, Ihr seid ein Bäcker.«
»In erster Linie bin ich ein Grenzländer, mein Sohn«, erwiderte der Mann und verstaute das Banner. »Das ist mein Erbe.«
»Bah!«, schnaubte Lan und wandte sich ab. Die anderen brachen das Lager ab. Widerstrebend hatte er den drei Neuankömmlingen erlaubt, sich ihnen anzuschließen – sie waren so stur wie Wildschweine, und am Ende hatte er seinen Schwur erfüllen müssen. Er hatte versprochen, Gefolgsleute zu akzeptieren. Genau genommen hatten diese Männer nicht darum gebeten, an seiner Seite reiten zu dürfen. Sie taten es einfach. Das war genug. Und wenn sie schon in dieselbe Richtung reisten, dann machte es keinen Sinn, zwei Lager aufzuschlagen.
Lan trocknete sich das Gesicht weiter ab. Er hatte sich gewaschen, und Bulen machte gerade Brot zum Frühstück.
Dieser Kiefernhain befand sich im Osten Kandors; sie näherten sich der Grenze nach Arafel. Vielleicht konnte er ja …
Er erstarrte. In ihrem Lager standen neue Zelte. Eine Gruppe aus acht Männern plauderte mit Andere. Drei von ihnen waren ganz schön füllig um die Hüften – ihrer feinen Kleidung nach zu urteilen waren es keine Krieger, obwohl sie Malkieri zu sein schienen. Die anderen fünf waren alle Schienarer mit Haarknoten, Armschutz und Reiterbogen in Behältern auf ihrem Rücken, direkt neben den langen zweihändigen Schwertern.
»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Lan.
»Weilin, Managan und Gorenellin«, sagte Andere und zeigte auf die Malkieri. »Die anderen sind Qi, Joao, Merekel, Ianor, Kuehn …«
»Ich fragte nicht, wer«, sagte Lan mit kalter Stimme, »ich fragte, was. Was habt Ihr getan?«
Andere zuckte mit den Schultern. »Wir begegneten ihnen, bevor wir auf Euch stießen. Wir sagten ihnen, sie sollen an der Südstraße auf uns warten. Rakim holte sie vergangene Nacht, während Ihr schlieft.«
» Rakim sollte Wache halten!«
»Das habe ich für ihn getan«, sagte Andere. »Ich dachte mir, dass wir diese Burschen dabei haben wollen.«
Die drei dicken Kaufleute musterten Lan, dann gingen sie auf die Knie. Einer weinte ungehemmt. »Tai’shar Malkier.«
Die fünf Schienarer salutierten Lan. »Dai Shan«, sagte einer von ihnen.
»Wir haben für die Sache des Goldenen Kranichs mitgebracht, was wir konnten«, fügte einer der Kaufleute hinzu. »Alles, was wir in der kurzen Zeit zusammenbekommen haben. «
»Es ist nicht viel«, sagte der Dritte. »Aber wir geben Euch auch unserer Schwerter. Wir sehen vielleicht aus, als wären wir verweichlicht, aber wir können kämpfen. Wir werden kämpfen.«
»Ich brauche nichts davon«, sagte Lan verärgert. »Ich …«
»Bevor Ihr zu viel sagt, alter Freund, solltet Ihr Euch das hier vielleicht ansehen«, sagte Andere und legte Lan die Hand auf die Schulter. Er deutete mit dem Kopf zur Seite.
Lan runzelte die Stirn und hörte ein Klappern. Er trat an einer Baumgruppe vorbei und warf einen Blick auf den Pfad, der zum Lager führte. Zwei Dutzend Wagen näherten sich, jeder davon schwer mit Ausrüstungsgegenständen beladen – Waffen, Getreidesäcke, Zelte. Lan blinzelte. Ein gutes Dutzend Schlachtrösser waren in einer Reihe hintereinander angebunden, und die Wagen wurde von starken Ochsen gezogen. Daneben gingen Treiber und Diener.
»Als sie sagten, dass sie alles verkauft haben, was nur möglich war, um Ausrüstung zu kaufen«, sagte Andere, »da haben sie das auch so gemeint.«
»Aber damit können wir uns unmöglich unbemerkt fortbewegen!«, sagte Lan.
Andere zuckte mit den Schultern.
Lan holte tief Luft. Nun gut. Er würde sich damit abfinden müssen. »Unbemerkt zu reisen scheint sowieso unmöglich zu sein. Von jetzt an geben wir uns als Karawane aus, die Vorräte nach Schienar bringt.«
»Aber…«
»Ihr werdet es mir schwören«, sagte er und wandte sich den Männern zu. »Ein jeder von euch wird mir schwören, keinem zu enthüllen, wer ich bin, oder anderen eine Nachricht zu schicken, die möglicherweise auf der Suche nach mir sind. Ihr werdet es mir schwören!«
Nazar schien Einwände zu haben, aber Lan brachte ihn mit einem strengen Blick zum Schweigen. Einer nach dem anderen schworen sie.
Aus fünf waren Dutzende geworden, aber damit würde es aufhören.