Rand und Min verkündeten ihre Ankunft nicht, als sie nach Bandar Eban kamen. Durch das Wegetor betraten sie eine kleine Gasse, beschützt von zwei Töchtern – Lerian und Heidia – und Naeff, dem hochgewachsenen Asha’man mit dem markanten Kinn.
Die Töchter eilten zur Gassenmündung und spähten misstrauisch in die Stadt. Rand legte Heidia die Hand auf die Schulter und beruhigte die schlanke Frau, die es nervös zu machen schien, dass er von so wenigen Getreuen begleitet wurde. Er trug den braunen Mantelumhang.
Am Himmel riss die Wolkendecke auf; die Wolken über der Stadt schmolzen bei Rands Ankunft einfach hinweg. Min schaute nach oben und spürte die Wärme auf dem Gesicht. In der Gasse stank es schrecklich nach Abfall und menschlichen Exkrementen, aber eine warme Brise kam auf und vertrieb den Gestank.
»Mein Lord Drache«, sagte Naeff. »Das gefällt mir nicht. Ihr solltet mehr Schutz haben. Lasst uns zurückkehren und …«
» Das geht schon in Ordnung, Naeff«, sagte Rand. Er wandte sich Min zu und streckte die Hand aus.
Sie ergriff sie und trat an seine Seite. Naeff und die Töchter hatten den Befehl, ein Stück hinter ihnen zu bleiben; sie würden Aufmerksamkeit erregen.
Als Min und Rand auf einen der vielen Holzbürgersteige der Hauptstadt der Domani traten, schlug sie die Hand vor den Mund. Seit Rands Abreise war doch nicht viel Zeit vergangen. Wie hatte sich die Stadt so schnell verändern können?
Die Straße war voller kränklich aussehender, schmutziger Menschen, die sich in Decken gehüllt an Häuserwänden drängten. Man konnte sich auf den Bürgersteigen nicht bewegen; Min und Rand mussten in den Schlamm steigen, um weitergehen zu können. Menschen husteten und stöhnten, und Min wurde klar, dass der Gestank nicht auf die Gasse beschränkt war. Die ganze Stadt schien zu stinken. Einst hatten von vielen dieser Gebäude Banner gehangen, aber man hatte sie abgenommen und für Decken oder Brennstoff zerrissen.
Die meisten Häuser wiesen kaputte Fenster auf, Flüchtlinge drängten sich in Eingängen und auf den Böden. Als Min und Rand weitergingen, wandten ihnen viele Menschen den Kopf zu. Manche schienen ins Delirium gefallen zu sein. Andere sahen hungrig aus. Und gefährlich. Viele waren Domani, aber es schien auch viele hellhäutige Menschen zu geben. Möglicherweise Flüchtlinge von der Ebene von Almoth oder aus Saldaea. Min lockerte das Messer in ihrem Ärmel, als sie eine Gruppe junger, finster aussehender Gestalten passierten, die in einer Gassenmündung herumlungerten. Vielleicht hatte Naeff doch recht. Hier konnte man sich nicht sicher fühlen.
»Auf diese Weise ging ich durch Ebou Dar«, sagte Rand leise. Plötzlich war sie sich seiner Qualen bewusst. Das erdrückende Gefühl von Schuld, viel zerstörerischer als die Wunden in seiner Seite. »Das war einer der Gründe, die zu meiner Veränderung führten. Die Menschen in Ebou Dar waren glücklich und satt. Sie sahen nicht so aus wie die Leute hier. Die Seanchaner herrschen besser als ich.«
»Rand, du bist dafür nicht verantwortlich«, sagte Min. »Du warst nicht hier, um …«
Sein Schmerz verstärkte sich, und sie begriff, dass sie genau das Falsche gesagt hatte. »Ja«, erwiderte er leise, »ich war nicht hier. Ich ließ diese Stadt im Stich, als ich sah, dass sie nicht das gewünschte Werkzeug war. Ich vergaß, Min. Ich vergaß, worum es hier eigentlich ging. Tarn hatte so recht. Ein Mann muss wissen, aus welchem Grund er kämpft.«
Rand hatte seinen Vater zusammen mit einem Asha’man zu den Zwei Flüssen geschickt, damit man sich dort auf die Letzte Schlacht vorbereitete.
Rand stolperte und sah plötzlich sehr müde aus. Er setzte sich auf eine Kiste, die dort herumstand. Ein kupferfarbener Straßenjunge betrachtete ihn aufmerksam aus einem Hauseingang. Gegenüber bog eine Straße von dieser Hauptdurchgangsstraße ab. Sie wurde nicht von Leuten verstopft; kräftig aussehende Männer mit Keulen standen an der Einmündung.
»Sie zerfallen zu Banden«, sagte Rand leise und mit gesenkten Schultern. »Die Reichen bezahlen die Starken, damit die sie beschützen und jeden verjagen, der auf ihren Reichtum aus ist. Aber bei dem Reichtum handelt es sich nicht länger um Gold oder Schmuck. Jetzt sind es Lebensmittel.«
Sie ließ sich neben ihm auf ein Knie nieder. »Rand. Du kannst nicht…«
»Ich weiß, ich muss weitergehen, aber es schmerzt, die Dinge zu wissen, die ich tat. Indem ich mich zu Stahl machte, wies ich all diese Gefühle von mir. Indem ich zuließ, wieder Mitleid zu empfinden, wieder zu lachen, musste ich mich auch meinem Versagen öffnen.«
»Rand, ich sehe Sonnenlicht um dich herum.«
Er schaute zu ihr hoch, dann weiter zum Himmel.
»Nicht dieses Sonnenlicht«, flüsterte Min. »Eine Sicht. Ich sehe dunkle Wolken, die von der Wärme des Sonnenlichts verdrängt werden. Ich sehe dich, mit einem strahlend weißen Schwert in der Hand, das du gegen eine schwarze Klinge führst, die von einer gesichtslosen Dunkelheit gehalten wird. Ich sehe Bäume, die wieder grün sind und Früchte tragen. Ich sehe ein Feld mit gesunden und vollen Ähren.« Sie zögerte. »Ich sehe die Zwei Flüsse, Rand. Ich sehe dort ein Gasthaus mit dem Zeichen des Drachenzahns auf der Tür. Aber es ist nicht länger ein Symbol der Dunkelheit oder des Hasses. Es ist ein Zeichen des Sieges und der Hoffnung.«
Er blickte sie an.
Min sah etwas in ihrem Augenwinkel. Sie wandte sich den auf der Straße sitzenden Menschen zu und keuchte auf. Jeder einzelne von ihnen wies ein Bild über dem Kopf auf. Es war erstaunlich, so viele Sichten gleichzeitig zu sehen, die über den Köpfen von Kranken, Schwachen und Verlassenen aufblitzten.
»Ich sehe eine silberne Axt über dem Kopf dieses Mannes«, sagte sie und zeigte auf einen bärtigen Bettler, der mit auf die Brust gesunkenem Kinn an einer Hauswand saß. »In der Letzten Schlacht wird er ein Anführer sein. Diese Frau da, die sich im Schatten herumdrückt, wird in der Weißen Burg ausgebildet und zur Aes Sedai werden. Ich sehe die Flamme von Tar Valon neben ihr, und ich weiß, was das bedeutet. Der Mann da drüben, der wie ein Straßenräuber aussieht? Er wird ihr Leben retten. Ich weiß, dass er nicht danach aussieht, aber er wird kämpfen. Das werden sie alle. Ich kann es sehen!«
Sie schaute Rand an und nahm seine Hand. »Du wirst stark sein, Rand. Du wirst das vollbringen. Du wirst sie anführen. Ich weiß es.«
»Das hast du gesehen?«, fragte er. »In einer Sicht?« Sie schüttelte den Kopf. »Das war nicht nötig. Ich glaube an dich.«
»Um ein Haar hätte ich dich getötet«, flüsterte er. »Als du mich ansahst, sahst du einen Mörder. Du fühltest meine Hand an deiner Kehle.«
»Was? Natürlich nicht! Rand, sieh mir in die Augen. Du kannst mich durch den Bund spüren. Fühlst du da auch nur den Hauch von Furcht?«
Er erwiderte ihren Blick mit Augen, die so tief und unergründlich waren. Sie wich nicht zurück. Sie konnte dem Blick dieses Schafhirten standhalten.
Er setzte sich aufrechter hin. »Oh, Min. Was würde ich ohne dich tun?«
Sie schnaubte. »Könige und Aielhäuptlinge folgen dir. Aes Sedai, Asha’man und Ta’veren. Du kämst schon zurecht, da bin ich mir sicher.«
»Nein«, sagte Rand. »Du bist wichtiger als sie alle zusammen. Du erinnerst mich daran, wer ich bin. Davon abgesehen denkst du viel klarer als die meisten meiner sogenannten Ratgeber. Wenn du wolltest, könntest du Königin sein.«
»Ich will bloß dich, du Trottel.«
»Danke.« Er zögerte. »Obwohl ich auf die meisten dieser Beleidigungen verzichten könnte.«
»Das Leben ist schon hart, nicht wahr?«
Er lächelte. Dann stand er auf und holte tief Luft. Die Schuldgefühle waren noch immer da, aber jetzt kam er damit zurecht, so wie er mit den ewigen Schmerzen zurechtkam. In der Nähe wurden die Flüchtlinge aufmerksam. Rand wandte sich der bärtigen Elendsgestalt zu, auf die Min gezeigt hatte; die Füße des Mannes steckten im Schlamm.
»Ihr seid das«, sagte der Mann zu Rand. »Der Wiedergeborene Drache.«
»Ja«, erwiderte Rand. »Ihr wart Soldat?«
»Ich …« Der Mann schien ins Leere zu blicken. »In einem anderen Leben. Ich gehörte zur Königsgarde, bevor er entführt wurde, bevor wir von Lady Chadmar übernommen und dann aufgelöst wurden.« Die Erschöpfung schien aus seinen Augen zu bluten, als er an die Vergangenheit dachte.
»Ausgezeichnet«, sagte Rand. »Wir müssen diese Stadt wieder zum Leben erwecken, Hauptmann.«
»Hauptmann?«, sagte der Mann. »Aber ich…« Er legte den Kopf schief. Dann stand er auf und klopfte den Staub aus seiner Kleidung. Trotz des verfilzten Barts und den Lumpen an seinem Leib ging von ihm der Hauch einer militärischen Ausstrahlung aus. »Nun, ich schätze, da habt Ihr recht. Aber ich glaube nicht, dass das leicht wird. Die Leute verhungern.«
»Ich kümmere mich darum«, sagte Rand. »Ich brauche Euch. Ihr müsst Eure Soldaten um Euch scharen.«
»Ich sehe hier nicht viele der Jungs … Nein, wartet. Da sind Votabek und Redbord.« Er winkte die beiden Schlägertypen herbei, die Min zuvor aufgefallen waren. Sie zögerten, aber dann kamen sie herüber.
»Durnham?«, fragte einer von ihnen. »Was soll das?«
»Es ist Zeit, dass die Gesetzlosigkeit in dieser Stadt ihr Ende findet«, sagte Durnham. »Wir werden die Dinge organisieren, wieder aufräumen. Der Lord Drache ist zurückgekehrt.«
Einer von ihnen spuckte aus. Er war ein stämmiger Mann mit schwarzen Locken, Domanihaut und einem dünnen Schnurrbart. »Soll er doch zu Asche verbrennen. Er ließ uns im Stich. Ich …« Er unterbrach sich, als er Rand betrachtete.
»Es tut mir leid«, sagte Rand und erwiderte den Blick des Mannes. »Ich habe euch tatsächlich im Stich gelassen. Das werde ich nicht noch einmal tun.«
Der Mann warf seinem Gefährten einen Blick zu, der mit den Schultern zuckte. »Lain wird uns nie bezahlen. Wir können genauso gut sehen, was wir hier schaffen.«
»Naeff«, rief Rand und winkte den Asha’man herbei. Er und die Töchter verließen die Stelle, von der aus sie zugesehen hatten. »Macht ein Wegetor in den Stein. Ich brauche Waffen, Rüstungen und Uniformen.«
»Sofort«, sagte Naeff. »Wir lassen alles von Soldaten bringen …«
»Nein«, erwiderte Rand. »Die Ausrüstung soll in dieses Gebäude durchgereicht werden. Ich mache darin Platz für ein Wegetor. Aber es soll kein Soldat durchkommen.« Er ließ den Blick über die Straße schweifen. »Bandar Eban hat genug durch Außenseiter gelitten. Heute wird es nicht die Hand eines Eroberers spüren.«
Min trat zurück und sah erstaunt zu. Die drei Soldaten eilten in das Haus und scheuchten die Straßenkinder hinaus. Als Rand sie erblickte, bat er sie, seine Botenjungen zu sein. Sie reagierten darauf. Jeder reagierte auf Rand, wenn sie sich die Zeit nahmen, ihn anzusehen.
Vielleicht hätte es ein anderer für eine Abart des Zwangs gehalten, aber Min sah, wie sich ihre Mienen veränderten, wie die Rückkehr der Hoffnung ihre Augen funkeln ließ. Sie sahen etwas in Rand, dem sie vertrauen konnten. Oder zumindest etwas, von dem sie hofften, dass sie ihm vertrauen konnten.
Die drei Soldaten schickten ein paar der Botenjungen- und mädchen los, um andere Soldaten zu holen. Naeff erschuf sein Wegetor. Kurze Zeit später verließen die Soldaten mit silbernen Harnischen und schlichter sauberer grüner Kleidung das Haus. Die Männer hatten sich Haare und Barte gekämmt und sich irgendwo die Gesichter gewaschen. Genauso schnell hörten sie auf, wie Bettler auszusehen, und wurden zu Soldaten. Vielleicht rochen sie ein bisschen streng, trotzdem waren sie Soldaten.
Die Frau, die Min aufgefallen war – von der sie überzeugt war, dass sie das Machtlenken lernen konnte -, kam herüber, um mit Rand zu sprechen. Nach einer Weile nickte sie und hatte bald darauf Frauen und Männer gefunden, um mit Eimern Wasser aus einem Brunnen zu schöpfen. Min beobachtete es stirnrunzelnd, bis sie anfingen, Neuankömmlingen Gesichter und Hände zu säubern.
Menschen fingen an, sich um sie herum zu versammeln. Ein paar waren neugierig, andere feindselig, andere wiederum ließen sich einfach nur mitreißen. Die Frau und ihre Gruppe machten sich daran, ihnen Aufgaben zuzuweisen. Einige sollten die Verletzten und Kranken versammeln, andere Uniformen und Schwerter nehmen. Eine andere Frau fing an, die Straßenkinder zu befragen, um herauszufinden, wo ihre Eltern waren, falls sie noch welche hatten.
Min setzte sich auf die Kiste, auf der Rand gesessen hatte. Innerhalb einer Stunde hatte er eine Abteilung aus fünfhundert Soldaten, die von Hauptmann Durnham und seinen zwei Leutnants angeführt wurden. Viele der Fünfhundert starrten immer wieder auf ihre saubere Kleidung und die silbernen Harnische, als könnten sie es nicht glauben.
Rand sprach mit vielen von ihnen, entschuldigte sich persönlich. Er unterhielt sich gerade mit einer Frau, als die Menge dahinter unruhig wurde. Rand drehte sich um und sah einen gealterten Mann näher kommen; seine Haut war mit schrecklichen Geschwüren bedeckt. Die Menge ging auf Abstand.
»Naeff«, rief Rand.
»Mein Lord?«
»Holt die Aes Sedai«, befahl Rand. »Hier sind Menschen, die Geheilt werden müssen.« Die Frau, die Leute dazu gebracht hatte, die Wassereimer zu füllen, führte den alten Mann zur Seite.
»Mein Lord«, sagte Hauptmann Durnham und blieb vor ihm stehen. Min blinzelte. Irgendwo hatte der Mann ein Rasiermesser gefunden und sich den Bart abrasiert, um ein starkes Kinn zu enthüllen. Er hatte einen Domani-Schnurrbart stehen gelassen. Vier Männer folgten ihm als Leibwache.
»Wir brauchen mehr Platz, mein Lord«, sagte er. »Das Haus, das Ihr ausgewählt habt, quillt über, und es kommen immer mehr und füllen die Straße.«
»Was schlagt Ihr vor?«, fragte Rand.
»Die Docks«, erwiderte Durnham. »Sie werden von einem der Kaufleute gehalten. Ich wette, dass wir ein paar so gut wie leere Lagerhäuser finden können. Dort wurden Lebensmittel gelagert, aber … nun, es ist nichts mehr da.«
»Und der Kaufmann, der sie besetzt hält?«, fragte Rand.
»Mein Lord«, sagte Hauptmann Durnham, »nichts, womit Ihr nicht zurechtkommen würdet.«
Rand lächelte, dann bedeutete er Durnham vorauszugehen. Er hielt Min die Hand hin.
»Rand«, sagte sie und schloss sich ihm an, »sie brauchen Nahrung.«
»Ja«, stimmte er ihr zu. Er schaute nach Süden, zu den nahe gelegenen Docks. »Wir finden sie dort.«
»Wird sie nicht bereits verbraucht sein?«
Rand erwiderte nichts. Sie gesellten sich zu der neu gebildeten Stadtwache und gingen an der Spitze einer Streitmacht in Grün und Silber. Hinter ihnen kam eine wachsende Menge hoffnungsvoller Flüchtlinge.
Die gewaltigen Docks von Bandar Eban gehörten zu den eindrucksvollsten der Welt. Sie bildeten einen Halbmond. Min war überrascht, dort so viele Schiffe zu sehen, die meisten davon Schiffe vom Meervolk.
Richtig, dachte Min. Rand hatte sie Lebensmittel zur Stadt schaffen lassen. Aber sie waren verdorben. Als Rand die Stadt verlassen hatte, hatte er erfahren, dass sämtliche Vorräte auf den Schiffen der Berührung des Dunklen Königs zum Opfer gefallen waren.
Jemand hatte die Straße blockiert. Andere Zufahrtswege zu den Docks sahen gleichermaßen versperrt aus. Uniformierte Soldaten spähten nervös hinter der Barrikade hervor, als Rands Streitmacht heranmarschiert kam.
»Bleibt sofort stehen!«, rief eine Stimme. »Wir haben keine …«
Rand hob die Hand und schwenkte sie. Die aus Möbeln und Planken gebildete Barrikade knirschte, dann rutschte sie ächzend zur Seite. Männer dahinter schrien auf, brachten sich in Sicherheit.
Rand ließ die Trümmer am Straßenrand liegen. Er setzte sich wieder in Bewegung, und Min konnte den Frieden in ihm spüren. Eine zerlumpt aussehende Gruppe aus Männern mit Keulen stand mit weit aufgerissenen Augen auf der Straße. Rand suchte sich einen von ihnen aus. »Wer versperrt meinem Volk den Weg zu diesem Dock und will Lebensmittel für sich selbst horten? Ich will… mit dieser Person sprechen.«
»Mein Lord Drache?«, fragte eine überraschte Stimme.
Min warf einen Blick zur Seite. Ein hochgewachsener schlanker Mann in einem roten Domanimantel eilte von den Docks auf sie zu. Einst war sein Hemd kostbar und mit Rüschen versehen gewesen, aber jetzt war es zerknittert und zerlumpt. Er sah erschöpft aus.
Wie hieß er noch mal?, dachte Min. Iralin. Das ist es. Der Dockmeister.
»Iralin?«, fragte Rand. »Was geht hier vor? Was habt Ihr getan?«
»Was ich getan habe?«, rief der Mann. »Ich habe versucht, alle davon abzuhalten, diese Schiffe zu stürmen, um sich verdorbene Lebensmittel zu holen! Jeder, der davon isst, wird krank und stirbt. Die Leute hören nicht auf uns. Mehrere Gruppen wollten die Docks stürmen, also entschied ich, sie keinen Selbstmord begehen zu lassen, indem sie davon essen.«
Die Stimme des Mannes war nie zuvor so wütend gewesen. In Mins Erinnerung war er friedlich gewesen.
»Lady Chadmar floh eine Stunde nach Eurem Aufbruch«, fuhr Iralin fort. »Die anderen Mitglieder des Kaufmannsrates flüchteten im Laufe dieses Tages. Diese verdammten Meervolk-Leute wollen nicht ablegen, bevor sie ihre Ladung gelöscht haben – oder ich sie bezahle, damit sie etwas anderes tun. Also habe ich darauf gewartet, dass die Stadt verhungert, diese Nahrung isst und stirbt, oder in einem weiteren Aufruhr aus Feuer und Tod untergeht. Das habe ich hier getan! Was habt Ihr getan, Lord Drache?«
Rand schloss die Augen und seufzte. Er entschuldigte sich nicht bei Iralin wie bei den anderen; vielleicht war ihm klar, dass das nichts bedeutet hätte.
Min funkelte Iralin finster an. »Er trägt viele Lasten auf seinen Schultern, Kaufmann. Er kann nicht auf jeden einzelnen …«
»Schon gut, Min«, sagte Rand, legte ihr die Hand auf den Arm und öffnete die Augen. »Das ist nicht mehr, als ich verdient habe, Iralin. Bevor ich die Stadt verließ, sagtet Ihr mir, dass die Lebensmittel auf diesen Schiffen verdorben sind. Habt Ihr jedes Fass und jeden Sack überprüft?«
»Ich habe genug davon überprüft«, erwiderte Iralin noch immer feindselig. »Wenn man hundert Säcke öffnet und in jedem das Gleiche findet, dann ist einem das Muster klar. Meine Frau hat versucht, eine sichere Methode zu finden, das verdorbene Korn vom unversehrten zu trennen. Falls es überhaupt unversehrtes gibt.«
Rand ging auf die Schiffe zu. Iralin folgte ihm. Er sah verwirrt aus, vielleicht weil Rand ihn nicht angebrüllt hatte. Min folgte ihnen. Rand trat an ein tiefliegendes und vertäutes Schiff des Meervolks. Eine Gruppe Seeleute lungerte dort herum.
»Ich möchte eure Segelherrin sprechen«, rief Rand.
»Das bin ich«, erwiderte eine der Frauen. Ihr glattes schwarzes Haar war mit grauen Strähnen durchzogen, und ihre rechte Hand wies Tätowierungen auf. »Milis din Shalada Drei Sterne.«
»Ich habe eine Abmachung getroffen, damit man hier Lebensmittel ausliefert«, rief Rand nach oben.
»Der da will nicht, dass man sie ausliefert«, erwiderte Milis und deutete auf Iralin. »Er lässt uns die Ladung nicht löschen, sagt, dass er seine Bogenschützen schießen lässt, wenn wir es tun.«
»Ich hätte die Leute nicht zurückhalten können«, erklärte Iralin. »Ich musste in der Stadt das Gerücht verbreiten lassen, dass das Meervolk die Nahrungsmittel nicht herausrückt.«
»Seht Ihr, was wir für Euch erdulden?«, fragte Milis. »Ich fange an, die Abmachung mit Euch infrage zu stellen, Rand al’Thor.«
»Bestreitet Ihr, dass ich der Coramoor bin?«, fragte Rand und erwiderte ihren Blick. Sie schien Mühe zu haben, ihn zu senken.
»Nein«, sagte sie. »Nein, das wohl nicht. Ich nehme an, Ihr wollt die Weiße Gischt betreten?«
»Wenn es gestattet ist.«
»Dann herauf mit Euch.«
Sobald der Landungssteg gesenkt worden war, stieg Rand ihn hinauf, gefolgt von Min, Naeff und den beiden Töchtern. Einen Augenblick später schloss sich ihm auch Iralin an, gefolgt von dem Hauptmann und einigen Soldaten.
Milis führte sie zur Decksmitte, wo eine Luke und eine Leiter in den Frachtraum führte. Rand stieg als Erster hinunter und bewegte sich unbeholfen, da er nur eine Hand zur Verfügung hatte. Min folgte ihm.
Unten drang Licht durch Spalten zwischen den Decksplanken und erhellte zahllose Kornsäcke. Die Luft roch staubig und dick.
»Wir wären froh, diese Ladung loszuwerden«, sagte Milis, die als Nächste hinunterstieg. »Sie tötet die Ratten.«
»Ich hätte gedacht, das würde Euch freuen«, sagte Min.
»Ein Schiff ohne Ratten ist wie ein Ozean ohne Stürme«, erwiderte Milis. »Wir beschweren uns über beides, aber meine Mannschaft murmelt jedes Mal unheilvoll, wenn sie die nächste tote Ratte findet.«
In der Nähe lagen ein paar geöffnete Säcke, die ihren dunklen Inhalt auf den Boden verteilt hatten. Iralin hatte davon gesprochen, das gute Getreide vom schlechten zu trennen, aber Min konnte darin keinen Sinn erkennen. Hier gab es nur verschrumpeltes, verfärbtes Korn.
Rand starrte die geöffneten Säcke an, als Iralin den Frachtraum betrat. Hinter ihm kamen Hauptmann Durnham mit seinen Männern.
»Nichts bleibt essbar«, sagte Iralin. »Es ist nicht nur dieses Getreide. Leute haben ihre Wintervorräte von ihren Höfen mitgebracht. Alles ist verdorben. Wir werden sterben, so einfach ist das. Wir werden die verdammte Letzte Schlacht nicht mehr erleben. Wir …«
»Friede, Iralin«, sagte Rand leise. »Es ist nicht so schlimm, wie Ihr glaubt.« Er riss die Schnur vom obersten Sack. Goldgelbe Gerste ergoss sich über den Boden des Frachtraums, und es war nicht ein dunkler Fleck zu sehen. Die Gerste sah aus, als wäre sie eben erst geerntet worden.
Milis keuchte. »Was habt Ihr damit gemacht?«
»Nichts«, erwiderte Rand. »Ihr habt nur die falschen Säcke geöffnet. Der Rest ist völlig in Ordnung.«
»Nur die …«, sagte Iralin. »Wir haben zufällig die genaue Zahl der schlechten Säcke geöffnet, ohne dabei auf die guten zu stoßen? Das ist lächerlich.«
»Das ist nicht lächerlich«, sagte Rand und legte Iralin die Hand auf die Schulter. »Einfach nur unwahrscheinlich. Das hier habt Ihr gut gemacht, Iralin. Es tut mir leid, dass ich Euch in einer solchen Zwangslage zurückließ. Ich berufe Euch in den Kaufmannsrat.« Iralin keuchte auf.
Hauptmann Durnham öffnete einen anderen Sack. »Der hier ist gut.«
»Der hier auch«, sagte einer seiner Männer.
»Hier sind Kartoffeln«, sagte ein anderer Soldat, der vor einem Fass stand. »Sehen gut aus. Eigentlich sogar besser als die meisten. Gar nicht vertrocknet, wie man eigentlich von Winterresten erwarten sollte.«
»Verbreitet die Nachricht«, sagte Rand zu den Soldaten. » Holt Eure Männer zusammen, um in einem der Lagerhäuser eine Verteilungsstelle zu eröffnen. Ich will, dass dieses Korn gut bewacht wird; Iralin hatte recht mit der Befürchtung, die Leute könnten die Docks stürmen. Gebt kein ungekochtes Korn heraus – das führt nur dazu, dass gehortet und gehandelt wird. Wir brauchen Kessel und Kochfeuer. Bringt den Rest in Lagerhäuser. Beeilt Euch.«
»Ja, Herr!«, sagte Hauptmann Durnham.
»Die Leute, die ich versammelt habe, werden helfen«, sagte Rand. »Sie werden das Getreide nicht stehlen; wir können ihnen vertrauen. Lasst sie die Schiffe entladen und das verdorbene Getreide verbrennen. Es müsste Tausende Säcke geben, die noch in Ordnung sind.«
Er sah Min an. »Komm. Ich muss die Aes Sedai fürs Heilen organisieren.« Sein Blick fiel auf den verblüfften Iralin. »Lord Iralin, Ihr seid für den Augenblick der Statthalter der Stadt, und Durnham ist Euer Kommandant. Ihr werdet bald genug Truppen haben, um die Ordnung wiederherzustellen.«
»Statthalter der Stadt…«, wiederholte Iralin. »Könnt Ihr das tun?«
Rand lächelte. »Jemand muss es ja. Beeilt Euch mit Eurer Arbeit; es gibt viel zu tun. Ich kann nur lange genug hierbleiben, dass Ihr für eine gewisse Stabilität sorgt. Einen Tag vielleicht.«
Rand kletterte die Leiter hoch.
»Einen Tag?«, sagte Iralin, der noch immer neben Min in der Mitte des Frachtraums stand. »Um für Stabilität zu sorgen? Das schaffen wir unmöglich. Oder?«
»Ich glaube, er wird Euch überraschen, Lord Iralin«, sagte Min, griff nach den Sprossen und fing an zu klettern. »Ich bin es jeden Tag.«