36 Eine Einladung

Egwene erschien in einem strahlend weißen Gewand in Tel’aran’rhiod; die Nähte waren mit Goldfäden besetzt und die Stickereien mit winzigen eingenähten Stücken auf Hochglanz polierten, aber ungeschnittenen Obsidian versehen. Es war ein schrecklich unpraktisches Kleid, aber hier spielte das keine Rolle.

Sie befand sich in ihrem Gemach, genau wo sie hatte erscheinen wollen. Sie versetzte sich in den Korridor vor den Quartieren der Gelben Ajah. Dort wartete Nynaeve mit verschränkten Armen. Sie trug ein vernünftiges braunes Kleid.

»Ich will, dass du ganz besonders vorsichtig bist«, sagte Egwene. »Du bist hier die Einzige, die jemals einem der Verlorenen gegenüberstand, außerdem kennst du dich in Tel’aran’rhiod besser aus als die anderen. Wenn Mesaana eintrifft, musst du den Angriff führen.«

»Ich glaube, ich schaffe das«, erwiderte Nynaeve und verzog den Mund. Ja, sie konnte das schaffen. Nynaeve von einem Angriff abzuhalten, das wäre eine schwierige Aufgabe gewesen.

Egwene nickte, und Nynaeve verschwand. Sie verbarg sich in der Nähe des Saals der Burg und hielt nach Mesaana oder Schwarzen Schwestern Ausschau, die das angeblich dort stattfindende Treffen ausspionieren wollten. Egwene versetzte sich an einen anderen Ort der Stadt, wo das wahre Treffen zwischen ihr, den Weisen Frauen und den Windsucherinnen wartete.

Tar Valon hatte mehrere Säle für Musikveranstaltungen oder Versammlungen. Das als Musikantenweg bekannte Gebäude eignete sich perfekt für ihre Zwecke. Die Holztäfelung war mit Schnitzereien von Zwerglorbeer geschmückt, und es hatte den Anschein, als wären die Wände mit einem ganzen Wald gesäumt. Die aus dazu passendem Holz bestehenden Stühle waren von Ogiern gesungen worden, und jeder einzelne von ihnen stellte ein Kunstwerk dar. Sie standen in einem Kreis um ein Podium in der Mitte herum. Die Kuppeldecke war mit Marmor eingelegt, der wie Sterne am Himmel aussah. Die Verzierungen waren bemerkenswert; wunderschön, aber keineswegs überladen.

Die Weisen Frauen waren bereits eingetroffen – Amys, Bair und Melaine, deren dicker Bauch das Stadium ihrer fortgeschrittenen Schwangerschaft zeigte. Dieses Amphitheater verfügte über eine erhöhte Plattform an der Seite, auf der die Weisen Frauen bequem auf dem Boden sitzen konnten, ohne dass die Sitzenden auf den Stühlen auf sie herabsehen würden.

‘ Leane, Yukiri und Seaine saßen den Weisen Frauen gegenüber; jede von ihnen trug eine von Elayne angefertigte Kopie ihres Traum-Ter’angreals, und sie sahen schattenhaft und durchsichtig aus. Eigentlich hätte Elayne auch da sein sollen, aber sie hatte vorsichtshalber schon mitgeteilt, dass sie möglicherweise Probleme damit haben würde, ausreichend Macht für den Zugang nach Tel’aran’rhiod lenken zu können.

Aes Sedai und Weise Frauen musterten einander mit einer beinahe schon greifbaren Feindseligkeit. Die Aes Sedai betrachteten die Weisen Frauen als erbärmlich ausgebildete Wilde, während die Weisen Frauen die Aes Sedai für lächerlich arrogant hielten.

Als Egwene eintraf, schien eine Gruppe Frauen mit dunkler Haut und schwarzen Haaren in der Mitte des Raumes aus dem Nichts zu erscheinen. Die Windsucherinnen schauten sich misstrauisch um. Siuan hatte während ihrer Zeit bei ihnen als Lehrerin erfahren, dass das Meervolk Legenden über Tel’aran’rhiod und seine Gefahren kannte. Das hatte die Windsucherinnen aber keineswegs davon abgehalten, in dem Moment, in dem sie entdeckt hatten, dass es die Welt der Träume tatsächlich gab, alles darüber in Erfahrung zu bringen, was möglich war.

Angeführt wurden die Windsucherinnen von einer großen schlanken Frau mit schmalen Augen und langem Hals, die zahllose Medaillons an der schmalen Kette zwischen Nase und linkem Ohr trug. Das würde Shielyn sein, von der Nynaeve erzählt hatte. Bei den anderen drei Windsucherinnen befand sich eine ehrwürdige Frau mit weißen Strähnen in ihrem schwarzen Haar. Nach den ausgetauschten Briefen und Nynaeves Informationen zu urteilen, würde das Renaile sein. Egwene hatte den Eindruck gewonnen, dass sie eine der Anführerinnen sein würde, aber sie schien sich den anderen gegenüber unterwürfig zu verhalten. Hatte sie ihre Stellung als Windsucherin der Herrin der Schiffe verloren?

»Willkommen«, begrüßte Egwene sie. »Bitte nehmt Platz.«

»Wir stehen«, sagte Shielyn. Ihre Stimme klang angespannt.

»Wer ist das, Egwene al’Vere?«, fragte Amys. »Kinder sollten Tel’aran’rhiod nicht besuchen. Das ist kein verlassener Sandmaulwurfsbau, den man erforschen kann.«

»Kinder?«, fragte Shielyn.

»Ihr seid hier Kinder, Feuchtländerin.«

»Amys, bitte«, mischte sich Egwene ein. »Ich habe ihnen Ter’angreale geliehen, damit sie herkommen können. Es war nötig.«

»Wir hätten uns außerhalb der Welt der Träume treffen können«, sagte Bair. »Mitten auf einem Schlachtfeld wäre es sicherer gewesen.«

Tatsächlich kannten sich die Windsucherinnen nur rudimentär mit Tel’aran’rhiod aus. Ihre helle Kleidung veränderte ständig die Farbe – tatsächlich verschwand Renailes Bluse gerade, als sie hinschaute. Unwillkürlich errötete Egwene, obwohl Elayne erwähnt hatte, dass die Männer und Frauen des Meervolkes auf den Wellen oberhalb der Taille keine Faser Stoff trugen. Einen Moment später war die Bluse wieder da. Auch ihr Schmuck schien in ständiger Bewegung zu sein.

»Es gibt Gründe, warum ich tat, was ich tat, Amys«, sagte Egwene und setzte sich. »Shielyn din Sabura Nachtwasser und ihre Schwestern sind über die Gefahren dieses Ortes unterrichtet worden und haben die Verantwortung für ihre Sicherheit akzeptiert.«

»Als würde man einem Kind eine Fackel und ein Fass Öl geben«, murmelte Melaine, »und dann behaupten, man hätte ihm die Verantwortung für seine eigene Sicherheit übertragen.«

»Müssen wir uns diesen Zank anhören, Mutter?«, fragte Yukiri.

Egwene nahm einen beruhigenden Atemzug. »Bitte, Ihr seid die Anführer Eurer Leute, Frauen mit dem Ruf großer Weisheit und Klugheit. Können wir nicht wenigstens höflich miteinander umgehen?« Egwene wandte sich dem Meervolk zu. »Windsucherin Shielyn, Ihr habt meine Einladung angenommen. Sicherlich wollt Ihr meine Gastfreundschaft doch nicht ablehnen, indem Ihr die ganze Zeit steht?«

Die Frau zögerte. Sie schien sehr stolz zu sein; die kürzliche Zusammenarbeit zwischen Aes Sedai und Meervolk hatte sie mutig gemacht. Egwene unterdrückte ihre aufkeimende Wut; die Einzelheiten der Abmachung wegen der Schale der Winde gefielen ihr nicht im Mindesten. Nynaeve und Elayne hätten es besser wissen sollen. Sie …

Nein. Elayne und Nynaeve hatten ihr Bestes getan und unter einer ungewöhnlichen Belastung gestanden. Davon abgesehen war jede Verhandlung mit dem Meervolk angeblich nur einen Schritt weniger gefährlich als ein Handel mit dem Dunklen König.

Schließlich nickte Shielyn knapp, auch wenn ihre Bluse während ihres Nachdenkens mehrmals die Farbe gewechselt hatte und schließlich blutrot blieb, während ihr Schmuck ständig erschien und sich wieder auflöste. »Also gut. Für das Geschenk dieses Ortes stehen wir in Eurer Schuld, und wir nehmen Eure Gastfreundschaft an.« Sie setzte sich auf einen Stuhl, der ein Stück von Egwene und den anderen Aes Sedai entfernt stand, und ihre Begleiterinnen folgten ihrem Beispiel.

Egwene stieß einen leisen Seufzer der Erleichterung aus und erschuf mehrere kleine Tische mit Tassen mit warmem würzigen Tee. Die Windsucherinnen zuckten zusammen, aber die Weisen Frauen blieben ungerührt. Allerdings griff Amys nach ihrer Tasse und verwandelte den Rosenblütentee in eine wesentlich dunklere Sorte.

»Vielleicht verratet Ihr uns den Zweck dieser Zusammenkunft«, sagte Bair und trank ihren Tee. Das Meervolk rührte die Tassen nicht an, obwohl die Aes Sedai ebenfalls tranken.

»Den haben wir bereits erahnt«, sagte Shielyn. »Diese Konfrontation ist unausweichlich, auch wenn ich bei den Winden wünschte, dass es nicht so wäre.«

»Nun, dann sprecht«, sagte Yukiri. »Worum geht es?«

Shielyn richtete ihre Aufmerksamkeit auf Egwene. »Seit vielen Jahreszeiten und Gezeiten haben wir die Natur unserer Windsuche vor den Aes Sedai verborgen. Die Weiße Burg atmet ein, aber sie atmet nicht aus – das, was hereingebracht wird, darf nie wieder hinaus. Jetzt, da Ihr von uns wisst, wollt Ihr uns, denn Ihr ertragt den Gedanken einfach nicht, dass es Frauen gibt, die unabhängig von Euch die Macht lenken können. «

Die Aes Sedai runzelten die Stirn. Aber Melaine nickte zustimmend, was Egwene keineswegs entging. Diese Worte entsprachen durchaus der Wahrheit, wenn sie auch nur eine Seite des Problems ansprachen. Wäre ihnen doch nur klar gewesen, wie nützlich die Ausbildung in der Weißen Burg sein würde, und dass es für die Menschen da draußen so ungemein wichtig war, zu wissen, dass man sich um Machtlenker kümmerte und sie ausbildete …

Aber Egwene fand diese Einstellung hohl. Das Meervolk hatte seine eigenen Traditionen und wusste seine Machtlenkerinnen auch ohne jede Regulierung durch die Weiße Burg vernünftig einzusetzen. Sie hatte nicht so viel Zeit mit dem Meervolk verbracht wie Nynaeve oder Elayne, aber sie hatte die Berichte gelesen. Windsucherinnen kannten sich mit vielen Geweben nicht aus, aber ihre Fertigkeiten mit bestimmten Geweben – vor allem mit Geweben, bei denen es um Luft ging – waren weitaus weiterentwickelt als die der Aes Sedai.

Diese Frauen verdienten die Wahrheit. Denn war es schließlich nicht genau das, wofür die Weiße Burg und die Drei Eide standen? »Ihr habt recht, Shielyn din Sabura Nachtwasser«, sagte sie. »Und Euer Volk hat klug darin gehandelt, seine Fähigkeiten vor den Aes Sedai zu verbergen.«

Yukiri keuchte auf, eine für eine Aes Sedai sehr ungewöhnliche Reaktion. Shielyn erstarrte, und die Kette, die von ihrem Ohr zur Nase führte, klirrte leise, als die Medaillons aneinanderstießen. Ihre Bluse nahm blaue Farbe an. »Was?«

»Das war vermutlich sehr klug«, sagte Egwene. »Ich würde mir nicht anmaßen, meine Vorgängerinnen als Amyrlin anzuzweifeln, aber man könnte so argumentieren. Vielleicht waren wir in der Kontrolle der Frauen, die die Eine Macht lenken können, etwas übereifrig. Es ist offensichtlich, dass die Windsucherinnen sich sehr gut selbst ausgebildet haben. Ich bin der Ansicht, dass die Weiße Burg viel von Euch lernen könnte.«

Shielyn lehnte sich zurück und musterte Egwene. Egwene erwiderte ihren Blick und hielt ihre Miene ausdruckslos. Sieh, dass ich resolut bin, dachte sie. Sieh, dass ich meine, was ich sage. Das ist keine Schmeichelei. Ich bin Aes Sedai. Ich spreche die Wahrheit.

»Nun«, sagte Shielyn. »Vielleicht könnten wir einen Vertrag schließen, der uns erlauben würde, Eure Frauen auszubilden.«

Egwene lächelte. »Ich hatte gehofft, dass Ihr die Vorteile seht, die das bringen könnte.« Die anderen drei Aes Sedai sahen sie mit gelinder Feindseligkeit an. Nun, sie würden das noch begreifen. Wollte man die Oberhand gewinnen, dann war es immer noch die beste Methode, Erwartungen durchzuschütteln wie Wasserkäfer in einem Glas.

»Und doch gebt Ihr zu, dass die Weiße Burg Dinge weiß, die Euch unbekannt sind«, fuhr Egwene fort. »Sonst würdet Ihr Euch nicht um eine Abmachung bemühen, dass unsere Frauen Eure Windsucherinnen ausbilden.«

»Diese Abmachung werden wir nicht zurücknehmen«, sagte Shielyn schnell.

»Das erwarte ich auch nicht«, sagte Egwene. »Es ist gut, dass Ihr jetzt Aes Sedai-Lehrerinnen habt. Die, die mit Euch diesen Handel abschlossen, haben etwas Unerwartetes erreicht. «

Wahre Worte, jedes einzelne davon. Aber ihre Formulierung implizierte mehr – dass sie gewollt hatte, dass man Aes Sedai auf die Schiffe des Meervolks schickte. Shielyns Stirnrunzeln vertiefte sich, und sie lehnte sich wieder zurück. Egwene hoffte, dass sie nun darüber nachgrübelte, ob der großartige Sieg ihrer Leute bei der Schale der Winde nicht von Anfang an so geplant gewesen war.

»Ich bin sogar der Ansicht, dass die vorherige Übereinkunft nicht weitgehend genug war«, fuhr sie fort. Sie wandte sich den Weisen Frauen zu. »Amys, stimmt Ihr mir nicht zu, dass die Aes Sedai Gewebe kennen, die den Weisen Frauen unbekannt sind?«

»Es wäre dumm, nicht zuzugeben, dass die Aes Sedai auf diesem Gebiet weit fortgeschritten sind«, sagte Amys mit wohlüberlegten Worten. » Sie verbringen viel Zeit damit, ihre Gewebe zu üben. Aber es gibt Dinge, die wir wissen und sie nicht.«

»Ja.« Egwene nickte. »Während meines Unterrichts bei den Weisen Frauen habe ich mehr über Führung gelernt als während meiner ganzen Zeit in der Weißen Burg. Ihr wart auch sehr hilfreich, was Tel’aran’rhiod und das Träumen angeht. «

»Also gut«, sagte Bair. »Heraus damit. Bei dieser ganzen Unterhaltung jagen wir eine dreibeinige Echse und stochern mit einem Stock nach ihr, um zu sehen, ob sie noch weiterlaufen kann.«

»Wir müssen unser Wissen miteinander teilen«, sagte Egwene. »Unsere drei Gruppen – Frauen, die die Macht lenken können – müssen eine Allianz schließen.«

»Bei der die Weiße Burg das Sagen hat, nehme ich an«, sagte Shielyn.

»Ich sage nur, dass Weisheit darin liegt, mit anderen zu teilen und von ihnen zu lernen«, erwiderte Egwene. »Weise Frauen, ich würde Aufgenommene aus der Weißen Burg zu Euch schicken, damit sie bei Euch lernen. Es wäre vor allem ausgesprochen nützlich, wenn Ihr ihnen beibringt, Tel’aran’rhiod zu meistern.«

Es war unwahrscheinlich, dass man unter den Aes Sedai noch weitere Traumgängerinnen wie Egwene entdecken würde, aber sie konnte ja hoffen. Dieses Talent war ausgesprochen selten. Aber es wäre von Vorteil gewesen, hätten sich noch mehr Schwestern mit Tel’aran’rhiod ausgekannt, selbst wenn sie es nur mit Ter’angrealen betreten konnten.

»Windsucherinnen«, fuhr Egwene fort. »Ich würde auch Euch Frauen schicken, vor allem jene, die geschickt mit Luft umgehen können, damit sie lernen, so wie Ihr die Winde zu rufen.«

»Das Leben einer Windsucherin in der Ausbildung ist nicht leicht«, gab Shielyn zu bedenken. »Ich glaube, Eure Frauen würden es doch sehr anders als das verhätschelte Leben in der Weißen Burg finden.«

Egwenes Hinterteil erinnerte sich noch immer an die Schmerzen ihres »verhätschelten« Lebens in der Weißen Burg. »Ich habe nicht den geringsten Zweifel, dass das eine Herausforderung sein wird, aber ich habe auch nicht den geringsten Zweifel, dass es aus genau diesem Grund sehr nützlich sein würde.«

»Nun, das ließe sich sicher arrangieren.« Shielyn beugte sich vor. Sie klang sehr interessiert. »Natürlich müsste es eine Bezahlung geben.«

»Eine angemessene«, sagte Egwene. »So wie Euch zu erlauben, einige Eurer Lehrlinge in die Weiße Burg zu schicken, um mit uns zu lernen.«

»Wir haben Euch bereits Frauen geschickt.«

Egwene schnaubte. »Ein paar auserwählte Opfer, damit wir wegen Euren Windsucherinnen nicht misstrauisch werden. Eure Frauen sondern sich oft ab oder kommen nur zögernd. Ich würde dafür sorgen, dass diese Praxis aufhört – es gibt keinen Grund, Eurem Volk potenzielle Windsucherinnen zu verweigern. «

»Nun, wo läge der Unterschied?«, wollte Shielyn wissen.

»Die von Euch geschickten Frauen dürfen nach ihrer Ausbildung zu Euch zurückkehren«, verkündete Egwene. »Weise Frauen, ich hätte auch gern, dass man uns Aiel-Lehrlinge schickt. Nicht widerstrebend und nicht, damit sie Aes Sedai werden, sondern um ausgebildet zu werden und unsere Sitten kennenzulernen. Auch sie dürften nach dem Ende ihrer Zeit zurückkehren, sollten sie es wünschen.«

»Das müsste schon mehr sein«, sagte Amys. »Ich mache mir Sorgen, was mit Frauen geschieht, die sich zu sehr an die verweichlichten Sitten der Feuchtländer gewöhnen.«

»Sicherlich wollt Ihr sie doch nicht zwingen…«, fing Egwene an.

Bair unterbrach sie. »Sie wären noch immer Lehrlinge der Weisen Frauen, Egwene al’Vere. Kinder, die ihre Ausbildung beenden müssen. Und das auch nur unter der Voraussetzung, dass wir diesem Plan zustimmen; etwas daran liegt mir schwer im Magen, wie zu viel Essen nach einem Fastentag.«

»Wenn wir zulassen, dass die Aes Sedai ihre Haken in unserer Lehrlinge schlagen«, sagte Melaine, »dann werden sie sich nicht so ohne Weiteres wieder lösen können.«

»Wollt Ihr das denn?«, fragte Egwene. »Seht Ihr denn nicht, was Ihr in mir habt, Melaine? Einen Amyrlin-Sitz, der seine Ausbildung bei den Aiel erhielt? Welches Opfer wäre es Eurem Volk wohl wert, noch mehr Leute wie mich zu haben? Aes Sedai, die Ji’e’toh und das Dreigeteilte Land verstehen, die Weise Frauen respektieren, statt sie als Rivalinnen oder Wilde zu betrachten?«

Die drei Aiel sahen einander beunruhigt an, als sie das hörten.

»Und was ist mit Euch, Shielyn? Was wäre es Eurem Volk wohl wert, einen Amyrlin-Sitz zu haben, die bei Euch eine Ausbildung erfuhr, Euch als Freunde betrachtet und Eure Sitten respektiert?«

»Das könnte nützlich sein«, gestand Shielyn ein. »Vorausgesetzt, die Frauen, die Ihr uns schickt, haben mehr Temperament als die, mit denen wir es bisher zu tun hatten. Bis jetzt ist mir keine Aes Sedai begegnet, die nicht davon profitiert hätte, ein paar Tage am Hauptmast zu hängen.«

»Das liegt daran, weil das Meervolk darauf bestanden hat, Aes Sedai zu bekommen«, erwiderte Egwene, »die in ihren Wegen eingefahren sind. Könnte ich Euch stattdessen Aufgenommene schicken, während sie viel formbarer.«

»Stattdessen?«, fragte Shielyn sofort. »Das ist aber nicht die Abmachung, über die wir hier sprechen.«

»Das könnte sie aber sein. Wenn wir den Windsucherinnen erlauben, zu Euch zurückzukehren, statt auf ihrem Verbleiben in der Burg zu bestehen, dann braucht Ihr nicht mehr unbedingt Aes Sedai-Lehrer.«

»Das muss ein anderer Vertrag sein.« Shielyn schüttelte den Kopf. »Und er darf nicht leichtfertig abgeschlossen werden. Aes Sedai sind Schlangen, genau wie die Ringe, die ihr tragt.«

»Und wenn ich die Traum-Ter’angreale drauflege, die wir euch geliehen haben?«

Unwillkürlich blickte Shielyn auf ihre Hand, wo sie in der realen Welt die kleine Scheibe halten würde, die mit etwas mit der Einen Macht gelenktem Geist einer Frau den Zutritt ins Tel’aran’rhiod erlaubte. Natürlich hatte Egwene ihnen nicht die Ter’angreale gegeben, die einem den Zutritt ohne das Machtlenken gestatteten. Die waren vielseitiger und darum auch mächtiger. Es war besser, sie geheim zu halten.

Egwene beugte sich vor. »In Tel’aran’rhiod könnt Ihr überallhin. Ihr könnt Euch mit Leuten treffen, die in der Ferne weilen, ohne dass Ihr dorthin Reisen müsst, Ihr könnt in Erfahrung bringen, was verborgen ist, und könnt Euch im Geheimen beraten.«

»Ihr schlagt da eine gefährliche Sache vor, Egwene al’Vere«, sagte Amys streng. »Sie loszulassen wäre, als ließe man eine Gruppe Feuchtländerkinder unbeaufsichtigt im Dreifachen Land herumlaufen.«

»Amys, Ihr könnt diesen Ort nicht für Euch selbst behalten.«

»So selbstsüchtig sind wir nicht«, erwiderte die Weise Frau. »Ich spreche von ihrer Sicherheit.«

»Dann wäre es vielleicht besser, wenn das Meervolk einige seiner Lehrlinge zu den Weisen Frauen schickt, um bei ihnen zu lernen – und vielleicht könntet Ihr ja im Gegenzug ihnen welche schicken.«

»Um auf Schiffen zu leben?« Melaine war entsetzt.

»Was für eine bessere Möglichkeit gibt es wohl, um Eure Angst vor dem Wasser zu besiegen?«

»Wir haben keine Angst davor«, fauchte Amys. »Wir respektieren es. Ihr Feuchtländer …« Sie sprach immer von Schiffen, als würde es sich um Löwen in einem Käfig handeln.

»Wie dem auch sei.« Egwene wandte sich wieder dem Meervolk zu. »Die Ter’angreale könnten Euch gehören, sollten wir zu einer Einigung kommen.«

»Die habt Ihr uns bereits gegeben«, sagte Shielyn.

»Das war eine Leihgabe, Shielyn, was die Frauen, die sie Euch brachten, deutlich klarstellten.«

»Und Ihr würdet sie uns für alle Zeiten geben?«, vergewisserte sich Shielyn.» Ohne diesen Unsinn, dass alle Ter’angreale der Weißen Burg gehören?«

»Es ist wichtig, dass es eine Regel gibt, um zu verhindern, dass diejenigen, die Ter’angreale entdecken, sie auch behalten«, sagte Egwene. »So können wir einem unvernünftigen Kaufmann oder Bauern einen potenziell gefährlichen Gegenstand abnehmen. Aber ich wäre bereit, für die Windsucherinnen und die Weisen Frauen eine formelle Ausnahme zu machen. «

»Also die Glassäulen …«, warf Amys ein. »Ich habe mich stets gefragt, ob die Aes Sedai sie je für sich beanspruchen wollen.«

»Ich bezweifle, dass das passieren würde«, sagte Egwene. »Aber es würde die Aiel bestimmt beschwichtigen, sollten wir offiziell verkünden, dass diese Ter’angreale und andere in Eurem Besitz Euch gehören und die Schwestern sie nicht fordern können.«

Das gab den Weisen Frauen viel Stoff zum Nachdenken.

»Ich finde diese Abmachung immer noch seltsam«, sagte Bair. »Aiel, die in der Weißen Burg eine Ausbildung erhalten, aber keine Aes Sedai werden? So ist das noch nie abgelaufen.«

»Die Welt verändert sich, Bair«, sagte Egwene leise. »Damals in Emondsfelde gab es an einem Bach ein Beet aus prächtigen Emondsprachtblumen. Mein Vater hat dort gern einen Spaziergang gemacht und sich an ihrer Schönheit erfreut. Aber als dann eine neue Brücke gebaut wurde, gingen die Leute quer durch das Beet, um zu ihr zu gelangen.

Mein Vater hat jahrelang versucht, sie von diesem Beet fernzuhalten. Kleine Zäune, Schilder. Nichts funktionierte. Und dann baute er einen ordentlichen Pfad aus Flusskieseln quer durch das Beet und kultivierte die Blumen zu beiden Seiten. Danach zertraten die Leute sie nicht mehr.

Wenn Veränderungen kommen, dann kann man herumbrüllen und erzwingen wollen, dass die Dinge so bleiben, wie sie sind. Aber für gewöhnlich wird man dann niedergetrampelt. Allerdings kann man die Veränderungen leiten, sie können einem dienen. Genau wie die Macht uns dient, aber erst nachdem wir uns ihr ergeben.«

Egwene sah jede der Frauen nacheinander an. »Unsere drei Gruppen hätten schon vor langer Zeit anfangen sollen zusammenzuarbeiten. Die Letzte Schlacht steht unmittelbar bevor, und der Wiedergeborene Drache droht damit, den Dunklen König freizulassen. Und als wäre das noch nicht genug, haben wir einen weiteren gemeinsamen Feind – einen Feind, der alle Aes Sedai, Windsucherinnen und Weise Frauen vernichten will.«

»Die Seanchaner«, sagte Melaine.

Renaile, die hinter den anderen Windsucherinnen saß, stieß bei dem Wort ein leises Zischen aus. Ihre Kleidung verwandelte sich, und sie trug eine Rüstung und hielt ein Schwert in der Hand. Einen Augenblick später war alles wieder verschwunden.

»Ja«, sagte Egwene. »Gemeinsam können wir stark genug sein, um sie zu bekämpfen. Allein …«

»Wir müssen über diese Abmachung nachdenken«, sagte Shielyn. Egwene bemerkte einen Wind, der durch den Raum strich, vermutlich zufällig von einer der Meervolkfrauen erschaffen. »Wir treffen uns erneut und geben dann vielleicht ein Versprechen. Falls dem so sein sollte, dann gelten folgende Bedingungen: wir schicken Euch jedes Jahr zwei Lehrlinge, und Ihr schickt uns zwei.«

»Nicht Eure Schwächsten«, entgegnete Egwene. »Ich will die Vielversprechendsten.«

»Und Ihr tut das auch?«

»Ja«, sagte Egwene. Zwei waren ein Anfang. Möglicherweise würden sie die Zahl erhöhen wollen, sobald sich die Vereinbarung als nützlich erwies. Aber darauf würde sie nicht am Anfang bestehen.

»Und wir?«, sagte Amys. »Sind wir auch ein Teil dieses ›Handels‹, wie Ihr es nennt?«

»Zwei Aufgenommene«, sagte Egwene, »im Austausch für zwei Lehrlinge. Sie lernen für eine Zeit von nicht weniger als sechs Monaten, aber auch nicht länger als zwei Jahre. Sobald unsere Frauen bei Euch sind, werden sie als Eure Lehrlinge betrachtet und müssen Euren Regeln folgen.« Sie zögerte. »Am Ende ihrer Ausbildung müssen alle Lehrlinge und Aufgenommene für zumindest ein Jahr zu ihren Leuten zurückkehren. Wenn sich Eure danach entscheiden, Aes Sedai werden zu wollen, dann können sie zurückkehren, damit wir darüber entscheiden können. Das Gleiche gilt für unsere Frauen, sollten sie sich entscheiden, bei Euch bleiben zu wollen.«

Bair nickte nachdenklich. »Vielleicht wird es Frauen wie Euch geben, die unsere Sitten kennenlernen und erkennen, dass sie überlegen sind. Es ist trotzdem eine Schande, dass wir Euch verloren haben.«

»Mein Platz war anderswo«, sagte Egwene.

»Akzeptiert Ihr das auch zwischen uns?«, sagte Shielyn zu den Weisen Frauen. »Sollten wir dem zustimmen, zwei für zwei, auf eine ähnliche Art?«

»Falls die Abmachung Zustimmung findet«, sagte Bair mit einem Blick auf die anderen Weisen Frauen, » schließen wir sie auch mit Euch ab. Aber wir müssen vorher mit den anderen Weisen Frauen darüber sprechen.«

»Und was ist mit den Ter’angrealen?«, wandte sich Shielyn an Egwene.

»Die gehören Euch«, sagte Egwene. »Im Gegenzug entbindet Ihr uns von unserem Versprechen, Euch Schwestern zu schicken, die Euch unterrichten, und wir lassen alle vom Meervolk, die zur Zeit bei uns sind, zu ihrem Volk zurückkehren. Das alles muss die Zustimmung Eures Volkes haben, und ich werde es vor den Saal der Burg bringen müssen.«

Natürlich waren ihre Dekrete das Gesetz, denn sie war die Amyrlin. Aber wenn sich der Saal querstellte, wurden diese Gesetze möglicherweise am Ende schlichtweg ignoriert. Hierbei brauchte sie die Unterstützung der anderen Schwestern – und die wollte sie auch, vor allem da sie wollte, dass der Saal mehr mit ihr zusammenarbeitete und sich weniger heimlich traf.

Allerdings war sie sich ziemlich sicher, für diesen Vorschlag eine Mehrheit zu finden. Zwar würde den Aes Sedai nicht gefallen, Ter’angreale aufzugeben, aber der mit dem Meervolk abgeschlossene Handel wegen der Schale der Winde gefiel ihnen erst recht nicht. Sie würden so gut wie alles dafür geben, um davon befreit zu werden.

»Ich wusste doch, dass Ihr versuchen würdet, dem Unterricht durch die Schwestern bei uns ein Ende zu machen«, sagte Shielyn selbstzufrieden.

»Was ist Euch lieber? Frauen, die zu unseren schwächsten Mitgliedern gehören und ihren Dienst als Strafe sehen? Oder lieber Frauen von Eurem Meervolk, die das Beste gelernt haben, was wir anbieten können, und glücklich zurückkehren, um es mit ihrem Volk zu teilen?« Egwene war sowieso in Versuchung gewesen, ihnen einfach Meervolk-Aes Sedai zu schicken, um die Abmachung zu erfüllen; es erschien eine vernünftige Lösung dieser Situation zu sein.

Aber mit ein bisschen Glück würde diese neue Abmachung die alte ersetzen. Sie hatte das Gefühl, dass sie die Schwestern vom Meervolk sowieso verlieren würde, zumindest diejenigen, die sich danach sehnten, wieder bei ihrem Volk zu sein. Die Welt veränderte sich, und jetzt, wo die Windsucherinnen nicht länger ein Geheimnis darstellten, musste man die alten Bräuche nicht länger aufrechterhalten.

»Wir besprechen es«, sagte Shielyn. Sie nickte den anderen zu, und sie verschwanden aus dem Raum. Sie lernten schnell.

»Dieser Tanz ist gefährlich, Egwene al’Vere«, sagte Amys, stand auf und richtete ihr Schultertuch. »Es gab eine Zeit, in der die Aiel stolz darauf gewesen wären, den Aes Sedai dienen zu können. Diese Zeit ist vorbei.«

»Die Frauen, die Ihr glaubtet finden zu können, sind nichts weiter als ein Traum, Amys«, sagte Egwene. »Das wahre Leben ist oft enttäuschender als unsere Träume, aber wenn man in der realen Welt Ehre findet, dann weiß man wenigstens, dass sie mehr als ein Wunschtraum ist.«

Die Weise Frau nickte. »Vermutlich sind wir mit diesem Handel einverstanden. Wir müssen lernen, was die Aes Sedai können.«

»Wir suchen unsere stärksten Frauen aus«, fügte Bair hinzu. »Die sich nicht von der Schwäche der Feuchtländer korrumpieren lassen.« In diesen Worten lag keine Verachtung. Bair hielt es nicht für eine Beleidigung, Feuchtländer als verweichlicht zu bezeichnen.

Amys nickte. »Eure Arbeit ist gut, solange Ihr uns nicht mit Stahlbändern fesseln wollt.«

Nein, Amys, dachte Egwene. Ich werde euch nicht mit Stahlbändern fesseln. Ich nehme stattdessen Garn.

»Nun«, sagte Bair. »Braucht Ihr uns heute noch? Ihr habt da angedeutet, es könnte einen Kampf geben …«

»Ja«, sagte Egwene. »Das hoffe ich zumindest.« Niemand hatte sich gemeldet. Das bedeutete, dass weder Nynaeve noch Siuan irgendwelche Lauscher entdeckt hatten. War ihre List gescheitert?

Die Weisen Frauen nickten ihr zu, dann traten sie zur Seite und unterhielten sich leise. Egwene ging zu den Aes Sedai.

Yukiri stand auf. »Das gefällt mir nicht, Mutter«, sagte sie leise und warf den Weisen Frauen einen verstohlenen Blick zu. »Ich glaube nicht, dass der Saal zustimmen wird. Viele vertreten unbeirrt die Meinung, dass alle Gegenstände der Macht uns gehören sollten.«

»Der Saal wird Vernunft annehmen«, sagte Egwene. »Die Schale der Winde haben wir bereits an das Meervolk zurückgegeben, und da Elayne die Methode wiederentdeckt hat, wie man Ter’angreale erschafft, ist es nur eine Frage der Zeit, bis es so viele gibt, dass wir den Überblick verlieren.«

»Aber Elayne ist eine Aes Sedai, Mutter«, sagte Seaine mit besorgter Miene und stand ebenfalls auf. »Sicherlich habt Ihr sie unter Kontrolle.«

»Vielleicht«, sagte Egwene und sprach leise. »Aber kommt es Euch nicht seltsam vor, dass nach all den Jahren so viele Talente zurückkehren, so viele Entdeckungen gemacht werden? Mein Traumgehen, Elaynes Ter’angreale, die Vorhersagen. Seltene Talente scheint es im Überfluss zu geben. Ein Zeitalter geht zu Ende, und die Welt verändert sich. Ich bezweifle, dass Elaynes Talent einzigartig bleiben wird. Was, wenn es sich bei einer der Weisen Frauen oder j emand vom Meervolk manifestiert?«

Verstört setzten sich die anderen leise wieder hin.

»Aufzugeben ist trotzdem nicht richtig, Mutter«, sagte Yukiri schließlich. »Mit einigen Anstrengungen könnten wir die Weisen Frauen und die Windsucherinnen unter Kontrolle bringen.«

»Und die Asha’man?«, meinte Egwene leise und konnte ein gewisses Unbehagen nicht aus ihrer Stimme fernhalten. »Beharren wir darauf, dass alle für Männer erschaffene Angreale und Sa’angreale uns gehören, obwohl wir sie nicht benutzen können? Und wenn es Asha’man gibt, die lernen, Gegenstände der Macht zu erschaffen? Zwingen wir sie, uns alles zu überlassen, was sie erschaffen? Könnten wir das durchsetzen?«

»Ich …«, sagte Yukiri.

Leane schüttelte den Kopf. »Sie hat recht, Yukiri. Beim Licht, aber das hat sie.«

»Die Welt, wie sie war, kann nicht länger uns gehören«, sagte Egwene leise, denn sie wollte nicht, dass die Weisen Frauen es mitbekamen. »Aber hat sie das jemals? Der Schwarze Turm zwingt Aes Sedai den Bund auf, die Aiel verehren uns nicht länger, die Windsucherinnen haben ihre besten Machtlenkerinnen jahrhundertelang vor uns versteckt und werden immer streitlustiger. Sollten wir versuchen, uns zu sehr an alldem festzuklammern, werden wir entweder zu Tyrannen oder Narren, je nachdem, wie erfolgreich wir sind. Ich akzeptiere keinen dieser Titel.

Wir werden sie anführen, Yukiri. Wir müssen zu einer Quelle werden, zu der Frauen aufsehen, und zwar alle Frauen. Das schaffen wir, indem wir sie nicht zu sehr festhalten, indem wir ihre Machtlenkerinnen zu uns holen, damit wir sie ausbilden können, und indem wir unsere talentiertesten Aufgenommenen losschicken, damit sie Experten in den Dingen werden, in denen sie die Besten sind.«

»Und wenn sie genau jetzt das Gleiche sagen?«, fragte Leane leise und schaute zu den Weisen Frauen hinüber, die sich in gedämpftem Tonfall auf der anderen Seite des Raumes unterhielten. »Wenn sie mit uns so verfahren wollen, wie wir mit ihnen?«

»Dann müssen wir das Spiel eben besser spielen«, meinte Egwene. »Aber das alles ist im Moment zweitrangig. Wir müssen uns gegen den Schatten und die Seanchaner vereinigen. Wir müssen …«

Eine erschöpft aussehende Siuan erschien aus dem Nichts; die eine Seite ihres Kleides war angesengt. »Mutter! Wir brauchen Euch!«

» Der Kampf hat begonnen?«, fragte Egwene drängend. Auf der anderen Seite schauten die Weisen Frauen begierig auf.

»Das hat er«, stieß Siuan keuchend hervor. »Es fing sofort an. Mutter, sie kamen nicht, um uns zu belauschen! Sie griffen an!«


Perrin raste über das Land und legte mit jedem Schritt Meile um Meile zurück. Er musste den Nagel irgendwo außer Reichweite des Schlächters bringen. Vielleicht der Ozean? Er konnte…

Ein Pfeil schoss durch die Luft und schnitt seine Schulter auf. Perrin fluchte und drehte sich um. Sie befanden sich auf einer steilen felsigen Anhöhe. Der Schlächter stand unterhalb von ihm, die Bogensehne an die Wange gehalten, die dunklen Augen vor Zorn funkelnd. Er ließ den nächsten Pfeil fliegen.

Eine Mauer, dachte Perrin und beschwor eine Ziegelmauer vor sich. Der Pfeil drang mehrere Zoll in die Steine ein, wurde aber aufgehalten. Perrin versetzte sich sofort an einen anderen Ort. Aber er kam nicht weit, nicht solange er die Kuppel trug.

Er wechselte die Richtung, sodass er nicht länger direkt nach Norden ging, sondern nach Osten. Er bezweifelte, den Schlächter abschütteln zu können – er konnte vermutlich die Bewegung der Kuppel sehen und ihre Richtung abschätzen.

Was sollte er tun? Er hatte das Artefakt in den Ozean werfen wollen, aber wenn der Schlächter ihm folgte, würde er es sich einfach wiederholen. Perrin konzentrierte sich darauf, sich so schnell zu bewegen, wie er konnte, legte mit jedem Herzschlag Meilen zurück. Konnte er seinen Feind abhängen? Die Landschaft flog schemenhaft an ihm vorbei. Berge, Wälder, Seen, Wiesen.

Gerade als er dachte, einen Vorsprung zu haben, erschien eine Gestalt neben ihm und hieb mit dem Schwert nach seinem Hals. Nur mühsam konnte er dem Angriff entgehen. Knurrend hob er den Hammer, aber der Schlächter verschwand.

Frustriert hielt Perrin inne. Der Schlächter war schneller als er und konnte unter die Kuppel schlüpften, indem er einfach voraussprang und dann darauf wartete, dass Perrin sie über ihn brachte. Von dort aus konnte er direkt zu Perrin springen und angreifen.

Davonlaufen kann ich ihm nicht, erkannte Perrin. Die einzige sichere Methode, die einzige Möglichkeit, Faile und die anderen zu beschützen, bestand darin, den Schlächter zu töten. Sonst würde der Mann das Ter’angreal einfach von dort zurückholen, wo auch immer Perrin es versteckte, und dann zurückkehren, um seine Leute festzusetzen.

Perrin schaute sich um, um sich zu orientieren. Er befand sich auf einem leicht bewaldeten Hügel, und nördlich von ihm erhob sich der Drachenberg. Er schaute nach Osten und sah die Spitze eines großen Bauwerks über die Baumwipfel ragen. Die Weiße Burg. Die Stadt würde ihm vielleicht einen Vorteil verschaffen, denn dort konnte man sich in einem der vielen Gebäude oder einer Gasse verstecken.

Mit großen Sätzen sprang Perrin in diese Richtung und trug den Nagel und die von ihm erzeugte Kuppel mit sich. Es würde doch mit einem Kampf enden.

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