8


Er hatte Angst. Er sehnte sich nach der Wärme seiner Mutter zurück, nach ihrer sanften Stimme und ihrem Geruch, aber statt dessen hatte er sich in einem Universum aus schimmerndem Chrom und kalten, funkelnden Geräten wiedergefunden, die er nicht verstand. In einer Welt voller riesiger Wesen, die ihn aus glitzernden Augen anstarrten und ihn manchmal mit ihren harten Krallen schmerzhaft berührten. Eine Zeitlang hatte er geschrien, aber niemand hatte darauf reagiert, und irgendwann war sein Schreien zu einem Wimmern geworden und schließlich ganz verstummt. Seither lag er hier, in einem Bett, das viel weicher war, als er es kannte. Er war zwei Jahre alt. Als es Abend wurde, begann er wieder zu weinen, und diesmal reagierte jemand darauf: Er hörte schwere, sonderbar klickende Schritte, und dann beugte sich eines der sonderbaren Wesen über sein Bett und starrte aus Augen auf ihn herab, die aus Millionen winziger geschliffener Glasflächen zu bestehen schienen.

Der Anblick dieses Wesens erschreckte ihn. Es war groß und hart, und es hatte zu viele Arme, dafür aber kein Gesicht. Er begann mit den Beinen zu strampeln und nach den dünnen, schwarzen Armen zu schlagen, die ihn aus seiner Wiege nahmen, aber natürlich erreichte er nichts. Das böse, schwarze Ding trug ihn zu einem Tisch, legte ihn darauf und hielt ihn mit zwei seiner schrecklichen Hände fest, während die beiden anderen sich an seinem Körper zu schaffen machten und ihm große Schmerzen zufügten. Sein Hals tat bald weh vom Schreien, und seine Kräfte erlahmten; trotzdem hörte er nicht auf, sich nach Leibeskräften zu wehren.

Das schwarze Ungeheuer zwang ihn, den Mund zu öffnen und zu trinken. Was in seine Kehle hinunter rann, schmeckte bitter. Er hustete, würgte das meiste wieder hervor und wäre fast an seinem eigenen Erbrochenen erstickt. Augenblicke später geschah etwas Seltsames: Eine wohlige Ruhe begann sich in seinen Gliedern breitzumachen, ein Gefühl von Wärme und Stärke, wie er es zuvor noch nie erlebt hatte, und gleichzeitig griff eine sonderbare Willenlosigkeit nach seinen Gedanken. Er wußte noch immer, wo er war, er wußte noch immer, daß man ihm seine Mutter genommen und ihm statt dessen dieses furchtbare, schwarze Ungeheuer gegeben hatte, und doch hatte er plötzlich nicht mehr die Kraft, sich zu wehren. Er hörte auf zu schreien, und nach einer Weile schloß er die Augen und schlief ein.

In dieser Nacht begannen die Träume.

Kyle wimmerte vor Schmerzen, als er die Augen öffnete. Es war keine körperliche Qual, sondern eine Pein, die tief aus seiner Seele emporstieg und die keine Droge, keine Konditionierung zu mildern vermochte. Es war die Qual der Erinnerung daran, wer er wirklich war und was sie mit ihm getan hatten.

»Er erwacht.«

Kyle fühlte, wie harte, kalte Insektenhände nach seinem Arm griffen und eine dünne Nadel in seinen Arm stachen. Augenblicke später lief eine heiß brennende Flüssigkeit in seinen Arm. Instinktiv versuchte er, seine veränderte Körperchemie dazu einzusetzen, das Medikament zu analysieren und zu neutralisieren. Aber es gelang ihm nicht. Was immer es war, es war stärker als er; eine Droge, die die Abwehrmechanismen seines Körpers überrannte und schon nach Sekunden seinen Kreislauf überschwemmte und sein Gehirn erreichte. Seine Umgebung begann wieder vor seinen Augen zu verschwimmen. Er sah die beiden weißen Gestalten der Inspektoren wie diffuse Gespenster vor sich, zwischen denen ein dritter, kleinerer Schatten tanzte.

»Warum tut ihr das?«

Er kannte diese Stimme. Sie gehörte Stone. Und er spürte, daß dieser Name etwas Besonderes für ihn war; etwas, das wichtig war und das er haßte wie sonst nichts auf dieser Welt.

»Er muß sich erinnern.« Diese Stimme klang anders, sie war kalt, als spräche eine Maschine und kein lebendes Wesen.

»Wir müssen den Moment finden, an dem sich ein Fehler in seine Konditionierung eingeschlichen hat. Nur so können wir sie erneuern. Und verhindern, daß er sich bei anderen wiederholt.«

Kyle war plötzlich nicht mehr in der Lage, sich zu konzentrieren. Die ungleichen Schatten begannen vor seinen Augen zu verschwimmen, und alles wurde unwirklich und unwichtig.

Er schloß die Augen und war wieder zwei Jahre alt.


*


»Und diese Geschichte soll ich jetzt glauben?« Barler lächelte kopfschüttelnd und fuhr sich mit einer unbewußten Geste über die verbrannte Haut an seiner linken Schläfe. Er stand in lässiger Haltung gegen eines der Pibikes gelehnt. Sein sympathisches Gesicht und die sanftmütigen Augen täuschten Charity keine Sekunde darüber hinweg, wie gefährlich Barler in Wahrheit war.

»Sie behaupten also, die Invasion der Moroni miterlebt zu haben? Sie haben die letzten fünfundfünfzig Jahre in einer Tiefkühlkammer zugebracht, und nachdem Sie aufgewacht sind, haben Sie natürlich sofort damit begonnen, die Erde von der Tyrannei der Invasoren zu befreien. Und nicht genug damit - es ist Ihnen sogar gelungen, das Vertrauen eines Jägers zu erringen.«

»Das weiß ich nicht«, erklärte Charity. »Aber immerhin hat er uns laufen lassen.«

Barler schüttelte abermals den Kopf. »Angenommen, Sie sagen die Wahrheit, Captain Laird. Dann versuchen Sie doch bitte, sich in meine Lage zu versetzen und mir zu sagen, ob Sie all das glauben würden, was Sie mir erzählt haben.«

Charity seufzte tief. Sie hatte diese Frage befürchtet, ohne darauf eine befriedigende Antwort zu wissen.

»Was zum Teufel erwarten Sie von uns«, fragte Skudder schlechtgelaunt. »Einen Persilschein der Moroni, von Stone gegengezeichnet?«

Barlers Fingerspitzen begannen, einen schnellen, leisen Rhythmus auf den Tank des Pibikes zu trommeln, an dem er lehnte, während er abwechselnd Charity und den Hopi ansah. »Ich weiß nicht, wer Stone ist«, sagte er. »Aber ich weiß, daß das, was Sie da erzählen, ziemlich unglaublich klingt.«

»Aber es ist die Wahrheit«, sagte Net. »Fragen Sie doch Jean. Er war bei uns. Immerhin haben uns die Ameisen um ein Haar umgebracht.«

»Ich bezweifle nicht, daß sie Ihre Feinde sind«, antwortete Barler geduldig, »aber Ihre Feinde müssen nicht unbedingt unsere Freunde sein. Außerdem«, fuhr er mit leicht erhobener Stimme fort, »stimmt mich vielleicht gerade die Tatsache Ihres Entkommens nachdenklich.«

»Wäre es Ihnen lieber, sie hätten uns erschossen?« fragte Net giftig.

»Ich lebe jetzt seit über vierzig Jahren hier«, erwiderte Barler, »und ich habe selbst ein paar von diesen Biestern erledigt. Aber ich habe noch nie gehört, daß es jemandem gelungen sein soll, einem Gleiter zu entkommen, geschweige denn, ihn zu vernichten.«

»Das waren wir nicht«, sagte Charity zum wiederholten Mal. »Es war dieser Panzer.«

Statt etwas zu entgegnen, warf Barler Jean einen langen, fast vorwurfsvollen Blick zu. Charity hatte erst nach einer Weile begriffen, daß tatsächlich niemand hier in der Freien Zone von der Existenz des Leopards wußte. Jean hatte seine Entdeckung wirklich jahrelang für sich behalten. Barler hatte bisher kein Wort darüber verloren, wohl aber zwei Männer zur Insel geschickt, damit sie sich Jeans Festung ansahen.

»Selbst wenn es diesen Panzer gibt«, sagte Barler nach eirer Weile, »dann erklären Sie mir eines: Die Gleiter patrouillieren fast ununterbrochen über dem Fluß, und Sie sind nicht die ersten Menschen, die von ihnen angegriffen werden. Wenn dieses Ding dort steht, und wenn es automatisch reagiert, sobald ein menschliches Leben bedroht wird, wieso hat es dann nicht schon vor fünfzig Jahren zugeschlagen?«

Charity zögerte einen Moment, zu antworten. Sie hatte sich diese Frage schon vor Stunden gestellt, als sie zusammen mit Jean im Inneren des Leopards gewesen war. Und sie glaubte die Antwort zumindest zu ahnen.

»Ich glaube, er hat nicht uns verteidigt«, sagte sie zögernd, »sondern mich.«

Barler zog die Augenbrauen zusammen. »Ich verstehe«, sagte er spöttisch. »Sein Elektronengehirn ist darauf programmiert, fünfundachtzigjährige Astronautinnen zu retten. Zumindest, wenn sie so gut erhalten sind wie Sie.«

»Nein«, antwortete Charity ernst. »Aber dieses Ding.« Sie öffnete die beiden oberen Knöpfe ihrer Uniformjacke, streifte die dünne, unzerreißbare Kette über den Kopf und hielt Barler ihre ID-Plakette entgegen, zog sie aber mit einem bedauernden Achselzucken wieder zurück, als der Franzose danach greifen wollte.

»Er würde Ihnen nichts nützen«, sagte sie erklärend. »Fragen Sie mich bitte nicht, wie es funktioniert, aber diese Ausweise sind auf ihre Träger abgestimmt. Sie funktionieren nur, solange sie sich in der Hand ihres rechtmäßigen Besitzers befinden.«

»Ein Class-A-Ausweis.« Barler verzog anerkennend die Lippen.

»Sie wissen, was das ist?«

»Natürlich«, antwortete Barler ruhig. »Ich sagte es doch schon einmal, Captain Laird - ich bin über einiges im Bilde.« Er lehnte sich wieder gegen die Maschine, starrte einen Moment lang an Charity vorbei ins Leere und wandte sich schließlich an Jean. »Du hast dieses Fahrzeug also vor fünf Jahren entdeckt«, sagte er.

Jean nickte. »Ja«, gestand er kleinlaut.

»Es ist dir nie gelungen, irgend etwas damit anzufangen?« fragte Barler. »Ich meine, außer darin herumzusitzen und unser aller Leben aufs Spiel zu setzen?«

Jean wich seinem Blick aus, während er verlegen den Kopf schüttelte. »Nicht viel. Ich ... habe entdeckt, wie man den Hauptcomputer einschaltet. Er ist irgendwie verschlüsselt, aber ich bin sicher, daß ich den Code herausfinden kann. Ich hatte schon angefangen, alle Möglichkeiten durchzuprobieren.«

»Oh«, Barler lächelte amüsiert. »Du meinst, du wolltest einfach wild herumprobieren, bis du den richtigen Code gefunden hast?«

Jean nickte. »Wie sonst?«

»Ja, wie sonst«, erwiderte Barler. Er sah Jean fast mitleidig an und schüttelte den Kopf, als könne er seine Naivität einfach nicht begreifen. »Ich fürchte, du hättest ziemlich lange herumprobieren können. Was meinen Sie, Captain Laird - wie lange hätte er gebraucht?«

Charity zuckte mit den Achseln. »Ich bin nicht sicher«, sagte sie, »aber wenn er jeden Tag zehn Stunden daran gearbeitet hätte ... hundert, vielleicht auch hundertfünfzigtausend Jahre.«

Jean erbleichte, und Barler lächelte einen Moment amüsiert und deutete dann auf die kleine ID-Plakette, die Charity noch immer in der Hand hielt. »Sie glauben also, daß der Panzer darauf reagiert hat?«

»Ich weiß es nicht«, gestand Charity, »aber wenn all seine Systeme noch einwandfrei funktionieren, dann muß er das Signal aufgefangen und ausgewertet haben. Und wenn sein Elektronenrechner zu dem Schluß kam, daß dieser Angriff mein Leben bedroht ...« Sie machte eine vage Geste mit beiden Händen. »Nun, dann hat er so reagiert, wie es seine Programmierung für einen solchen Fall vorsieht.«

»Nur Nato-Generäle und hochrangige Regierungsbeamte bekommen einen Class-A-Ausweis«, sagte Barler.

»Ich weiß.«

Er sah Charity fragend an. »Sind Sie eines von beidem?« fragte er.

»Nein«, antwortete sie. »Aber ich habe trotzdem einen - wie Sie sehen.«

»Wenn dieses Ding echt ist«, sagte Barler.

»Das ist es«, antwortete Charity verärgert. »Aber ich habe leider nicht die geringste Ahnung, wie ich es Ihnen beweisen soll.« Sie streifte die Kette wieder über den Kopf, verbarg den Anhänger unter ihrer Jacke und schloß die Knöpfe wieder.

»Ich kann ja verstehen, daß Sie uns nicht trauen, Barler«, fuhr sie fort, »aber die Geschichte, die ich Ihnen erzählt habe, ist wahr. Und wir haben einfach nicht genug Zeit, darauf zu warten, bis Sie sich entschlossen haben, uns zu glauben oder nicht. Früher oder später werden Kyles Brüder hier auftauchen, um nach uns zu suchen. Und es wäre besser für Sie, wenn wir dann nicht mehr hier sind.«

»Sie kommen nicht hierher«, antwortete Barler in so überzeugtem Ton, daß Charity ihm nicht mehr widersprach. »Und was die Frage angeht, ob ich Ihnen glaube oder nicht ...« Er sah Charity einen Moment lang nachdenklich an, stand plötzlich auf und machte eine auffordernde Handbewegung. »Folgen Sie mir!«

Barler winkte ab, als auch Skudder, Net und Gurk aufstehen wollten, um ihm zu folgen. »Nur Sie«, sagte er.

Skudder runzelte die Stirn, und Charity warf ihm einen raschen, besänftigenden Blick zu. »Es ist schon gut«, sagte sie. »Ich traue ihm.«

»Ich nicht«, sagte Skudder. »Wenn Sie ihr etwas antun, bringe ich Sie um«, rief er Barler nach.

Der Franzose lächelte und ging mit raschen Schritten um das Pibike herum auf das riesige Stahltor zu, wo er noch einmal stehenblieb und darauf wartete, daß Charity ihm folgte. Henry und ein zweiter Mann wollten sich ihm anschließen, aber Barler schüttelte den Kopf.

»Wir gehen allein«, sagte er. »Gebt inzwischen gut auf unsere Gäste acht.« Er deutete auf Skudder. »Und jemand soll sich um seinen Arm kümmern. Die Wunde sieht nicht gut aus.« Sie verließen den Raum und wandten sich nach links. Barler führte sie durch einen schmalen, niedrigen Korridor aus rostigem Metall, der am Fuße einer ebenfalls verrosteten Treppe endete. Charity war ein wenig überrascht, daß hier draußen nirgendwo Männer auf sie warteten. Barler schien wirklich allein mit ihr bleiben zu wollen. Das war ziemlich ungewöhnlich. Wenn er tatsächlich wußte, was die Space Force gewesen war, dann mußte er auch wissen, daß zu ihrer Schulung auch eine Nahkampfausbildung gehörte.

Die Treppe endete auf einem Korridor, an dessen gegenüberliegender Seite eine zweite, breitere Metalltreppe nach oben führte. Barler wandte sich in die entgegengesetzte Richtung und machte eine auffordernde Handbewegung, als sie zögerte, ihm zu folgen.

»Wohin gehen wir?«

»Das werden Sie schon sehen«, antwortete Barler grob.

Fast eine Viertelstunde lang folgte Charity dem Franzosen durch gleichförmige, leere Gänge aus rostigen Eisenplatten, die ein regelrechtes Labyrinth unter der Erde bildeten, dann erreichten sie eine niedrige Metalltür.

Charity hielt überrascht mitten im Schritt inne, als Barler die rostige Stahltür öffnete, und sie sah, wo sie sich befanden.

Vor ihnen lag eine gewaltige, weiß gekachelte Halle, deren ganze Größe im flackernden Schein der wenigen Fackeln, die an den Wänden angebracht waren, nur zu ahnen war. Nur ein kleines Stück von der Tür entfernt begannen die unteren Stufen einer breiten, völlig verrotteten Rolltreppe. Auf der anderen Seite erstreckte sich fast ein halbes Dutzend schimmernder Schienenstränge, die am Ende der Halle zusammenliefen und in zwei riesigen, halbrunden Tunneln endeten. Charity registrierte beiläufig, daß sich auf diesen Schienen keine Spur von Rost zeigte.

»Das ist die Metro!« sagte Charity verblüfft.

Barler blieb stehen und blickte mit einem flüchtigen Lächeln zu ihr zurück. »Natürlich ist sie das«, sagte er. »Was haben Sie erwartet?«

Charity starrte fassungslos auf den gelbgestrichenen U-Bahn-Zug, der nur wenige Schritte entfernt stand. Er hatte nur einen Wagen, aber seine Türen standen offen und die Innenbeleuchtung brannte - zumindest soweit die Leuchtstoffröhren noch intakt waren. Charity hörte ein leises, vertrautes Summen; ein Geräusch, das ihr früher so selbstverständlich gewesen war, daß sie es gar nicht mehr wahrgenommen hatte.

»Sie ... funktioniert noch?« fragte sie ungläubig.

»Sie funktioniert wieder«, verbesserte sie Barler. Wieder lächelte er dieses seltsame, fast traurige Lächeln. »Nicht mehr ganz so zuverlässig und pünktlich wie früher, und die Züge fahren auch nicht mehr so oft. Aber dafür kann man jetzt getrost hier herunterkommen und braucht keine Angst zu haben, überfallen und ausgeraubt zu werden.«

Charity blickte abwechselnd ihn und den U-Bahn-Zug an. Der Anblick dieses zwar heruntergekommenen, aber völlig intakten Metro-Zuges erschütterte sie mehr, als sie selbst verstand.

»Wir benutzen sie nur sehr selten«, sagte Barler, dem ihr Erstaunen natürlich nicht entgangen war. »Sie verbrauchen eine Menge Strom, und die Ersatzteile für die Wagen werden allmählich knapp.« Er schien auf eine Antwort zu warten und machte dann eine einladende Geste auf den Wagen. »Kommen Sie!«

Charity war viel zu verblüfft, um zu widersprechen. Gehorsam folgte sie Barler und betrat das U-Bahn-Abteil. Sie fuhr erschrocken zusammen, als sich die Türen hinter ihnen selbsttätig schlössen, und griff hastig nach einem Halt, denn der Wagen setzte sich mühsam und mit kleinen, harten Rucken in Bewegung. Die Metrostation huschte an den Fenstern vorüber, dann tauchte der Wagen in einen der Tunnel ein, und Dunkelheit umgab sie.

»Setzen Sie sich, Captain Laird«, sagte Barler freundlich. »Es wird eine Weile dauern.«

Charity gehorchte, während Barler nach vorn ging, um mit dem Fahrer zu sprechen.

Das sanfte Rütteln des Wagens und das monotone, auf so erschreckende Weise fast vertraute Geräusch der eisernen Räder auf den Schienen begannen eine sonderbare Wirkung auf Charity auszuüben. Sie ließ sich in den zerschlissenen Kunststoffpolstern zurücksinken und bettete die Schläfe an der Scheibe, schloß die Augen und genoß das Gefühl des kühlen Glases auf der Haut, wie sie es so oft getan hatte, früher, in einem anderen, verlorenen Leben.

Aber vielleicht, dachte sie, hatten sie eine zweite Chance.

Vielleicht war es ihnen - nicht ihr oder Skudder, sondern den Generationen, die nach ihnen kamen, möglich, eine neue und vielleicht sogar bessere Welt aufzubauen. Möglicherweise hatten die Moroni nichts anderes getan, als eben den natürlichen Lauf der Dinge zu beschleunigen. Die Kultur des 20. Jahrhunderts war nicht die erste Zivilisation, die fast spurlos vom Antlitz dieser Welt verschwunden war.

Aber vielleicht war es die letzte. Wenn es ihnen nicht gelang, die Moroni zurückzuschlagen, dann würde es keine neue Zivilisation mehr geben, die sich wie Phönix aus der Asche aus den Trümmern der Welt erhob.

Es war so ... unfair, dachte sie. Fünfzig Jahre später, dachte sie bitter, und sie hätten diese Bestien dorthin zurückgejagt, wo sie hergekommen waren. Lächerliche fünfzig Jahre, bei einer Welt, deren Geschichte mehr als zehn Jahrtausende zurückreichte!

Das Gefühl, nicht mehr allein zu sein, ließ sie die Augen öffnen. Barler stand vor ihr, den linken Arm leicht angewinkelt, den Daumen unter den Gürtel gehakt, und blickte auf sie herab. Ein sonderbarer Ausdruck lag auf seinem Gesicht: eine Mischung aus Bewunderung und Mißtrauen, in der keine Spur von Feindschaft zu liegen schien.

»Woran denken Sie?« fragte der Franzose.

»An ... nichts«, sagte Charity ausweichend. »Warum?«

Barler deutete ein Achselzucken an und lächelte ganz leicht. »Da war so ein sonderbarer Ausdruck auf Ihrem Gesicht«, antwortete er. »Irgendwie traurig.«

Charity zwang sich zu einem Lächeln und schüttelte abermals den Kopf. »Es ist nichts«, sagte sie noch einmal. Nur um das Thema zu wechseln, richtete sie sich ein wenig im Sitz auf und deutete aus dem Fenster. Jenseits der blind gewordenen Scheiben herrschte absolute Finsternis. Die Fahrt durch diesen unterirdischen, leeren Tunnel, in dem seit einem halben Jahrhundert kein Licht mehr gebrannt hatte, wurde unwirklich, fast bedrückend, wie eine Szene aus einem Alptraum.

»Wie lange dauert die Fahrt noch?«

Barler setzte sich und blickte ebenfalls aus dem Fenster. »Noch eine ganze Weile«, antwortete er. »Wir müssen fast ans andere Ende der Stadt.«

Charity hatte irgendwie gehofft, daß er ihr sagen würde, wohin sie fuhren, aber diesen Gefallen tat er ihr nicht. Eine Weile sah sie ihn wortlos an, dann ließ sie sich wieder zurücksinken und legte erneut den Kopf gegen die Scheibe, aber diesmal ohne die Augen zu schließen. »Sie sind ein sonderbarer Mann, Barler«, sagte sie.

Ihr Gegenüber sah auf. »So?«

»Als ich das letzte Mal auf jemanden wie Sie getroffen bin«, sagte Charity, »wäre ich beinahe umgebracht worden. Und Skudder und die anderen auch. Sie haben uns nicht geglaubt, daß wir die sind, für die wir uns ausgeben.«

»Wer sagt Ihnen, daß ich Ihnen glaube?«

»Wir sind hier, oder?« antwortete Charity. »Ich meine, wenn Sie glauben würden, daß wir Spione der Moroni sind, dann wäre es ziemlich leichtsinnig von Ihnen, ganz allein mit mir in diesen Zug zu steigen. Oder halten Sie mich für harmlos, weil ich eine Frau bin?«

Zu ihrer Überraschung lachte Barler leise. Charity sah ihn verwundert an, und der Führer der Freien Zone antwortete mit einer erklärenden Geste: »Diese Frage allein beweist schon fast, daß Sie kein Spion sind, Captain Laird.«

»Wieso?« Die Art, auf die er das Wort Spion betont hatte, ließ sie aufhorchen.

»Wenn Sie die sind, für die Sie sich ausgeben«, antwortete Barler lächelnd, »dann habe ich nichts zu befürchten, oder? Und wenn nicht ...« Er zuckte mit den Schultern. »Wenn Sie und Ihre Freunde wirklich Jäger sind, die gekommen sind, um mich umzubringen ... Nun, dann können Sie das genauso gut hier wie an jedem anderen Ort tun. Es gibt so oder so nichts, was ich dagegen unternehmen könnte.«

Charity schwieg eine Weile. Die Antwort verblüffte sie. »Was sind Sie, Barler?« fragte sie schließlich. »Ein Fatalist oder Zyniker?«

»Vielleicht von beidem etwas.«

»Wird man so, wenn man vierzig Jahre lang auf der Flucht lebt?« fragte Charity ernst.

»Auf der Flucht?« Barler runzelte verblüfft die Stirn. Dann lächelte er wieder und schüttelte den Kopf. »Sie täuschen sich, Captain Laird. Wir sind keine Flüchtlinge oder Gefangenen.«

»Aber Sie sind ...«

»Später«, unterbrach sie Barler. »Lassen Sie uns später darüber reden, Captain Laird. Ich bitte Sie darum.«

Charity respektierte seinen Wunsch. Für den Rest der Fahrt, die tatsächlich noch eine gute halbe Stunde dauerte, schwieg sie. Nach einer halben Ewigkeit wurde der Zug langsamer und kam schließlich in einer weiteren Metro-Station zum Stehen. Anders als die, aus der sie abgefahren waren, war diese unterirdische Halle nicht erleuchtet. Aus den Fenstern des Wagens fiel ein wenig Licht auf den Bahnsteig.

Barler stand auf, ging in den hinteren Teil des Wagens und kam mit einem großen Handscheinwerfer und zwei Pechfackeln zurück. Er hängte sich den Scheinwerfer an den Gürtel, reichte Charity eine der Fackeln und trat wortlos auf den Bahnsteig hinaus. Dann entzündete er beide Fackeln. Das rote Licht schuf einen Kreis unsicherer Helligkeit rings um sie herum, aber es reichte längst nicht aus, die gewaltige, mit geborstenen, weißen Fliesen gekachelte Halle zu erhellen. Außerdem stanken die Fackeln erbärmlich, und von ihrem pechgetränkten Ende fielen immer wieder kleine Funken auf Charitys Hand herab.

Sie deutete auf den Scheinwerfer an Barlers Gürtel. »Funktioniert das Ding nicht?«

»Doch.« Barler nickte. »Aber wir benutzen sie nur, wenn es gar nicht anders geht. Die Batterien werden allmählich knapp, und es werden schon lange keine neuen mehr produziert.«

Charity entschuldigte sich in Gedanken bei Barler für diese dumme Frage. Das wenige, das sie bisher von der Freien Zone gesehen hatte - Jeans Pibike, diese Metro, die aus unerfindlichen Gründen noch funktionierte -, begann sie bereits vergessen zu lassen, wo sie sich befand. Die Welt hatte sich grundlegend verändert. Es gab nicht einmal mehr so selbstverständliche Dinge wie eine Batterie, die man achtlos wegwarf und gegen eine neue austauschte, wenn sie verbraucht war. Die Menschen des 21. Jahrhunderts lebten ausschließlich von den Resten, die ihnen die untergegangene Zivilisation übriggelassen hatte.

Sie durchquerten die Halle und benutzten die kaputte Rolltreppe, um nach oben zu gelangen. An ihrem Ende befand sich ein Netz aus breiten dunklen Flächen und schmalen Lichtstreifen, und als sie näher kamen, erkannte Charity, daß der Zugang mit einer provisorischen Bretterwand verschlossen war. Sie wollte Barler dabei helfen, die kleine Tür darin zu öffnen, aber er forderte sie mit einer Geste auf, seine Fackel zu halten, während er sich mit den quietschenden Scharnieren abmühte. Charity sah sich schaudernd um. Das Licht der beiden Fackeln reichte nicht besonders weit, aber was sie sah, ließ in ihr nicht den Wunsch aufkommen, mehr zu sehen. Am Rande des flackernden roten Kreises erkannte sie einen schattenhaften Körper, der ausgestreckt auf den Stufen der gegenüberliegenden Rolltreppe lag.

Draußen herrschte noch immer heller Tag. Nach dem Halbdunkel unter der Erde kam Charity selbst das milde grüne Licht dieser falschen Sonne fast unangenehm intensiv vor. Sie blinzelte, fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen und brauchte einen Moment, um sich wieder an die veränderte Helligkeit zu gewöhnen.

Barler löschte seine Fackel, legte sie aber nicht aus der Hand, und Charity folgte seinem Beispiel. Sie entfernten sich in nördlicher Richtung vom U-Bahn-Schacht und bogen an der ersten Kreuzung ab. Charity sah sich aufmerksam um, während sie Barler folgte. Die Stadt war auch hier ein Opfer des Dschungels geworden; und doch unterschied sie sich völlig von dem, was sie auf der anderen Seite des Flusses gesehen hatte. Die Pflanzen wuchsen längst nicht so ungezügelt wie dort. Das Unterholz war weniger undurchdringlich, und es war sehr still.

Es dauerte einen Moment, bis Charity den Grund dieser Stille begriff: Das Gekreische der Tiere, das sie auf der anderen Seite des Flusses so erschreckt hatte, fehlte hier vollkommen. Sehr weit entfernt hörte sie lediglich das wehklagende Schreien eines Vogels, und einmal glaubte sie einen dunklen Schatten durch das Geäst brechen zu sehen. Die Menschen schienen hier die Tiere zurückgedrängt zu haben.

Auf ihre Fragen gab Barler bereitwillig Auskunft. »Wir haben von Anfang an darauf geachtet, daß die Biester nicht überhandnehmen«, sagte er. »Natürlich ist es uns nicht gelungen, sie völlig auszurotten. Ich würde Ihnen nicht unbedingt raten, allein und waffenlos in diesem Wald spazierenzugehen. Aber solange Sie auf den Straßen bleiben und ein wenig die Augen offenhalten, kann Ihnen kaum etwas passieren.«

Charity sah ihn überrascht an. »Sie haben die ganze Freie Zone gesäubert?«

Barler zuckte mit den Achseln und blieb stehen. »Oh, sie ist nicht so groß, wie Sie glauben«, antwortete er. »Nicht ganz elf Kilometer am Fluß entlang und knapp fünf in diese Richtung.« Er deutete nach Westen bis zur Mauer.

»Und dahinter?«

Barler maß sie mit einem undeutbaren Blick. »Das sollten Sie besser wissen als ich.«

»Diese Mauer«, fuhr Charity fort, »was genau ist sie?«

»Wenn wir das wüßten, hätten wir sie wahrscheinlich schon beseitigt«, erwiderte Barler ernst. »Es ist jedenfalls keine richtige Mauer. Ich werde sie Ihnen zeigen. Es ist nicht mehr weit von hier.«

Er ging weiter, so daß Charity keine Gelegenheit fand, eine weitere Frage zu stellen, sondern sich beeilen mußte, nicht den Anschluß zu verlieren.

Barler blieb plötzlich stehen und deutete auf einen gut zwei Meter hohen, schmiedeeisernen Zaun, der von Ranken und wuchernden Blättern fast zu einer undurchdringlichen Hecke gemacht worden war. Dahinter befand sich ein zweigeschossiges Gebäude aus weißem Marmor, das früher einmal ein wahrer Prachtbau gewesen sein mußte. Charity hatte das Gefühl, dieses Haus schon einmal gesehen zu haben. Dann fiel ihr Blick auf eine blind gewordene Messingtafel neben dem Tor, und nach einem Moment entzifferte sie die kaum noch leserliche Aufschrift:

EMBASSY OF THE UNITED STATES OF AMERICA

Überrascht sah sie Barler an. »Die Botschaft?« Barler drehte sich zu ihr herum und nickte. Er lächelte flüchtig. »Warum nicht? Ich bin sicher, Ihr Botschafter kann Sie identifizieren.«

Er sagte das mit solchem Ernst, daß es einen Moment dauerte, bis Charity überhaupt begriff, daß er einen Scherz gemacht hatte. Sie lachte gezwungen, ging weiter und ließ den Blick dabei neugierig über die Fassade des weitläufigen Prachtbaus schweifen.

Die Zerstörung, der ganz Paris anheimgefallen war, war auch an dem Botschaftsgebäude nicht spurlos vorübergegangen: Die meisten Fensterscheiben waren zerborsten, das Dach und ein Teil des darunterliegenden Stockwerkes waren zerstört; nur ein paar geschwärzte Balken ragten noch heraus. Die leeren Fensterhöhlen waren brandgeschwärzt. Charity fragte sich flüchtig, was hier geschehen war. Anders als New York, dessen Untergang sie mit eigenen Augen mitangesehen hatte, schien Paris nicht schnell und lautlos besiegt gestorben zu sein. Die Ruinen, die verkohlten Häuser und die gewaltigen Krater, denen sie auf Schritt und Tritt begegnet waren, sprachen ihre eigene Sprache.

Sie blieb vor der breiten Marmortreppe stehen, die zum Eingang hinaufführte. »Was wollen wir hier?«

Barler deutete zur Tür: »Gehen Sie weiter, Captain Laird. Dort drinnen finden wir die Antwort auf die Frage, wer Sie wirklich sind.«

Im Innern des Gebäudes war es so dunkel, wie sie erwartet hatte. Als sie die Tür hinter sich schloß und einen Moment stehenblieb, um sich an das Dämmerlicht zu gewöhnen, hörte sie ein leises, monotones Summen. Sie fuhr überrascht zusammen, als sie begriff, was es war. »Die Air Condition ...« murmelte sie überrascht.

Barler sah sie wortlos an.

»Sie funktioniert noch«, sagte Charity fassungslos. »Nach all dieser Zeit.«

Der Franzose nickte. »Hier drinnen funktioniert noch eine ganze Menge«, sagte er. Er hob die Hand und wies auf eine offenstehende Tür. »Sehen Sie.«

Charity erkannte einen Schreibtisch, in dessen Sessel ein vornübergesunkenes Skelett vergeblich versuchte, die schwarze Paradeuniform eines Marineinfanteristen auszufüllen. Vor dem fünfzig Jahre alten Leichnam stand ein staubbedecktes Computerterminal, auf dessen Bildschirm grüne Leuchtbuchstaben flimmerten.

»Unglaublich!« murmelte Charity.

Barler lächelte leicht. »Tja«, sagte er achselzuckend, »Vorkriegsware. Damals wurde eben noch Qualität hergestellt.«

Charity sah ihn verwirrt an. Sie war nicht sicher, ob in Barlers Stimme wirklich Spott mitschwang. »Was wollen wir hier?« fragte sie. »Sie haben mich doch nicht hierhergebracht, um mir das zu zeigen?«

»Natürlich nicht«, antwortete Barler. »Ich dachte nur, es interessiert Sie.« Er gab ihr mit einer Geste zu verstehen, ihm zu folgen.

Sie durchquerten das Erdgeschoß des Botschaftsgebäudes. Der tote Soldat draußen im Vorzimmer war nicht der einzige, auf den sie stießen. Charity hörte irgendwann auf, die halbzerfallenen Skelette zu zählen. Die meisten trugen die gleiche schwarze Marineinfanterieuniform wie der Mann draußen, und fast alle waren bewaffnet. Sie waren mit den Waffen in den Händen gestorben.

»Was ist hier passiert?« fragte Charity, als Barler vor einer schmalen Tür am Ende des Korridors stehenblieb und sich an ihrem Schloß zu schaffen begann.

»Sie haben versucht, sie aufzuhalten - aber Sie sehen ja, mit welchem Erfolg.«

Charity schüttelte den Kopf. »Wieso ist die Stadt so zerstört?«

Barler hörte für einen Moment auf, an der Tür zu hantieren, und warf ihr einen sonderbaren Blick über die Schulter hinweg zu. »Ich dachte«, sagte er, zwar lächelnd, aber plötzlich in wieder lauerndem, beinahe mißtrauischem Tonfall, »Sie waren dabei - nicht ich.«

Charity nickte. »Ich habe gesehen, wie New York unterging«, bestätigte sie. »Es geschah in wenigen Minuten, und sie setzten eine Waffe ein, die nur organisches Leben zerstörte. Doch Paris sieht aus, als hätten sie die Stadt Haus für Haus erobern müssen.«

Barler zuckte mit den Achseln und wandte sich wieder dem Schloß zu. »So ungefähr muß es auch gewesen sein«, antwortete er. »Ich war zwar nicht dabei, aber nach allem, was ich gehört habe, müssen die Kämpfe fast ein halbes Jahr gedauert haben.«

»Aber warum?« wunderte sich Charity. »Wenn sie ...«

»Warum fragen Sie sie nicht selbst?« unterbrach sie Barler ärgerlich. Er sah wieder auf und lächelte entschuldigend. »Verzeihung«, sagte er, »das war wohl nicht besonders taktvoll.«

»Das macht nichts«, antwortete Charity. Plötzlich erscholl ein metallisches Klicken, und die Tür schwang einen Spaltbreit auf.

Barler trat zurück, um sie ganz zu öffnen, entzündete seine Fackel wieder und verschwand ohne ein weiteres Wort auf der schmalen Treppe, die hinter der Tür begann. Charity folgte ihm. Der Weg führte steil in die Tiefe. Die Wände bestanden aus nichts als nacktem Beton. Sie durchquerten einen Kellerraum, der mit allerlei Gerumpel vollgestopft war, bückten sich unter einer niedrigen Tür hindurch und gingen eine weitere Treppe hinab. Barlers Schritte wurden langsamer, und im unsicheren Licht der Fackel erkannte sie eine weitere, diesmal aus massivem Metall bestehende Tür.

Es dauerte auch jetzt eine Weile, bis er dieses weitere Hindernis geöffnet hatte, und dann löste er den Handscheinwerfer von seinem Gürtel, schaltete ihn ein und löschte sorgsam seine Fackel.

Charity sah ihn fragend an. Barler ließ den bleichen Strahl des Handscheinwerfers durch den Raum hinter der Tür gleiten; er enthüllte nichts als Staub und Beton. Dann richtete er den Strahl des Scheinwerfers gegen die Decke, und sie erkannte die winzigen, in konzentrischen Kreisen angeordneten Löcher in der Kunststoffverkleidung. Eine Sprinkler-Anlage. Und Barlers Verhalten nach zu urteilen schien sie sogar noch zu funktionieren.

Der Franzose betrat den Raum, machte ein paar Schritte und blieb wieder stehen. Charity blinzelte, als er den Handscheinwerfer hob und ihr direkt ins Gesicht leuchtete. »Kommen Sie, Captain Laird«, sagte er. »Jetzt wird sich zeigen, ob Ihr Ausweis echt ist.«

Ein sehr ungutes Gefühl beschlich Charity, während sie dem Franzosen folgte. Barler nahm die Lampe wieder herunter, aber ihre Augen tränten von dem grellen Licht, und im ersten Moment hatte sie Schwierigkeiten, überhaupt etwas zu sehen. Als sich ihre Augen wieder umgestellt hatten, erkannte sie, daß sie sich nur in einer weiteren leeren Betonkammer befanden. Auf dem Boden lag der Staub von fünf Jahrzehnten. Fragend schaute sie Barler an.

Der Franzose trat einen Schritt zur Seite und schwenkte seinen Scheinwerferstrahl wie einen Zeigestab herum - und dann erkannte Charity schlagartig, wo sie sich befand!

Sie war so überrascht, daß sie im ersten Moment nur die von einem zerschrammten Aluminiumrahmen eingefaßte Tür anstarrte. Der Gang dahinter lag in völliger Dunkelheit, aber wenn man aufmerksam hinsah, dann konnte man das schwache Glimmen grüner und orangefarbener Lichter erkennen, die irgendwo sehr weit entfernt leuchteten.

Barler ließ ihr ausreichend Zeit, ihre Überraschung zu überwinden. Dann trat er näher an die Tür heran und ließ seinen Scheinwerferstrahl in den Gang dahinter fallen - und Charity zuckte ein zweites Mal zusammen.

Auf dem nackten Beton hinter der Tür lagen vier Tote. Zwei davon waren Menschen, die beiden anderen Ameisen. Sowohl die Menschen als auch die Insektenkreaturen waren auf fürchterliche Weise entstellt: Die beiden Toten mußten schon sehr lange hier liegen, denn die Körper waren mumifiziert, aber Charity konnte trotzdem erkennen, wie verzerrt die Gesichter waren, als hätten sie unvorstellbare Qualen erlitten, ehe sie starben.

Sie schlug sich erschrocken die Hand vor den Mund und prallte einen halben Schritt zurück. Barler schwieg, dann trat er einen weiteren Schritt auf die Tür zu und hob die Hand.

Die Bewegung schien einen verborgenen Mechanismus auszulösen, denn plötzlich wich die Dunkelheit auf der anderen Seite der Tür einem milden, sanft gelben Licht, und im Türrahmen selbst erschien ein schmales, rotes Leuchtband. Ein elektrisches Summen erklang, und irgendwo schaltete sich ein Tonband ein und leierte eine Warnung herunter. Die Worte waren nicht mehr zu verstehen; das Band mußte so oft abgelaufen sein, daß es unbrauchbar geworden war.

»Also?« Barler legte den Kopf auf die Seite und sah sie prüfend an. »Was ist das?«

Charity glaubte die Antwort zu wissen, doch instinktiv hob sie die Hand und tastete mit den Fingerspitzen über das kühle Metall der Ausweisplakette. Sie hatte Angst davor, diese Tür zu durchschreiten. Sie wußte sehr genau, was auf der anderen Seite war, und sie wußte auch, daß sie es im Grunde nicht zu fürchten brauchte - aber das Ding an ihrem Hals war fast sechzig Jahre alt. Sie hatte keine Garantie, daß es nach all dieser Zeit ebenso verläßlich funktionierte wie die Todesmaschinerie, die in die Decke des Ganges eingelassen war. Doch ihr blieb keine andere Wahl. So raffte sie all ihren Mut zusammen, schloß die Augen - und machte einen entschlossenen Schritt.

Nichts geschah.

Das Tonband schaltete sich mit einem hörbaren Klicken ab, und das Licht im Türrahmen flackerte. Charity machte einen weiteren Schritt, sah sich suchend um und entdeckte den kleinen Schaltkasten an der Wand, vier, vielleicht fünf Schritte vor ihr; allerhöchstens noch einen Meter von der ausgestreckten Hand eines der toten Insektenkrieger entfernt, der noch sterbend versucht hatte, ihn zu erreichen.

Sie überwand ihren Widerwillen, ging mit klopfendem Herzen weiter und schlug dabei einen respektvollen Bogen um die beiden toten Menschen und die Kadaver der beiden Ameisen. Mit zitternden Händen löste sie die ID-Plakette von der Kette an ihrem Hals, schob sie in den schmalen Schlitz des Gerätes und lauschte mit angehaltenem Atem.

Eine, zwei, drei entsetzliche, endlose Sekunden hindurch geschah nichts. Dann hörte das Summen auf, und das Licht im Schaltkasten wechselte von Rot auf Grün. Mit einem leisen Summen glitt die Plakette wieder aus dem Schlitz des Minicomputers, und Charity griff danach und befestigte sie hastig wieder an der Kette. Dann drehte sie sich zu Barler herum und winkte.

»Es besteht keine Gefahr mehr. Sie können hereinkommen.«

Barler zögerte. Einen Augenblick lang verweilte sein Blick auf den beiden Toten, dann überwand er sich, machte einen Schritt durch die Tür und blieb abermals stehen. Er sah sich unsicher um, aber nach einigen weiteren Sekunden schien er zu begreifen, daß, was immer die beiden Menschen und die beiden Ameisen umgebracht hatte, zumindest im Augenblick keine Gefahr mehr darstellte.

Aufatmend ging er weiter und blieb vor Charity wieder stehen. »Sie gehören also tatsächlich zur Space Force«, sagte er. »Und Sie scheinen mehr als ein kleiner Captain gewesen zu sein.«

Charity schüttelte den Kopf. »Sie täuschen sich«, sagte sie. »Meine Kameraden und ich hatten den Auftrag, den Präsidenten und andere Regierungsmitglieder in Sicherheit zu bringen. Aus diesem Grund erhielten wir diese Ausweise.«

Barler zuckte mit den Schultern und lächelte. »Es spielt ja auch keine Rolle, warum Sie ihn haben. Hauptsache, Sie haben ihn. Was ist das hier?«

Charity zögerte einige Sekunden, bis ihr bewußt wurde, wie albern ihr Zögern war. Die Zeiten, in denen diese unterirdische Anlage der höchsten Geheimhaltungsstufe unterlegen war, gehörten längst der Vergangenheit an.

»Eine geheime Anlage«, antwortete sie. »Ich glaube, es handelt sich um einen geheimen NATO-Stützpunkt. Es gab eine Reihe solcher Stationen damals, aber ich wußte nicht, daß eine direkt unter der Botschaft lag.«

»Auf jeden Fall arbeitet sie noch«, sagte Barler. »Nicht einmal diesen verdammten Ameisen ist es gelungen, sich Zugang zu verschaffen.« Zum ersten Mal, seit Charity ihn getroffen hatte, verlor er die Beherrschung: Er versetzte einem der toten Insektenwesen einen zornigen Fußtritt. Der Chitinpanzer barst auseinander und flog durch den Korridor. Charity sah, daß das verwundbare Fleisch des Geschöpfes zu grauem Staub verfallen war.

»Eine Mikrowellen-Sperre«, sagte sie leise. Ein neuerlicher eisiger Schauer fuhr über ihren Rücken, als sie daran dachte, daß sie jetzt ebenso tot sein könnte wie die zwei unglücklichen Männer, hätte der winzige Ausweis seinen Dienst nicht getan. »Wer immer hier hereinkommt und nicht dazu berechtigt ist«, fuhr sie auf Barlers fragenden Blick hin fort, »der hat keine Chance. Die Strahlung ist absolut tödlich.«

»Ich weiß«, antwortete Barler ruhig. »Sie tötet sogar Jäger.«

Charity sah ihn überrascht an, aber Barler nickte. »Sie haben vor ein paar Jahren versucht, einen dieser lebenden Roboter hier hereinzuschicken«, sagte er. »Irgendwie ist er wieder herausgekommen, aber er hat es nicht lange überlebt.«

»Und ich dachte, es gäbe nichts, was ihnen schaden könnte«, sagte Charity.

»Das hier schon«, antwortete Barler grimmig. »Es war das erste und letzte Mal, daß einer von ihnen starb.« Er überlegte einen Moment. »Jetzt, wo wir uns hier frei bewegen können, können wir es vielleicht als Waffe benutzen.«

»Kaum«, antwortete Charity. Allein bei der Vorstellung, diese entsetzliche Waffe gegen ein lebendes Wesen einzusetzen, krampfte sich etwas in ihr zusammen. »Es sei denn, Sie wollen den ganzen Gang ausbauen und versuchen, sie eine nach dem anderen hereinzulocken.«

Barler sah sie einen Moment lang verstört an. »Also«, sagte er, »dann schauen wir uns ein wenig um.«

Charity versuchte sich einzureden, daß ihr Mißtrauen völlig unbegründet war, aber es gelang ihr nicht. Daß diese Anlage nach all der vergangenen Zeit noch funktionierte, bewies deutlich genug, welchen Wert ihre Konstrukteure darauf gelegt hatten, sie vor unbefugtem Zutritt zu schützen. Es mochte sein, daß hier Dinge lagen, die besser für immer vergessen blieben.

»Ich verstehe nicht, daß sie sich nicht einfach gewaltsam Zutritt verschafft haben«, sagte sie, während sie Barler durch den schmalen Korridor folgte. »Die Macht dazu haben sie.«

Barler nickte. »Sicher«, sagte er, »aber ich glaube, was immer hier unten ist, war ihnen so wichtig, daß sie es nicht zerstören wollten.« Er sah sie fragend an. »Und ich nehme doch an, daß es eine entsprechende Vorrichtung gibt?«

Erneut war Charity überrascht. Es gab tatsächlich eine Selbstzerstörungsanlage, die den ganzen Komplex in die Luft jagen würde, sobald der Sicherheitscomputer zu dem Schluß kam, daß er Feinden in die Hand zu fallen drohte. Aber sie war überrascht, wieviel Barler wußte.

»Wenn ich eine solche Anlage konstruieren würde, dann würde ich dafür sorgen, daß sie niemand unbeschadet in die Hände fällt, der es schafft, sich gewaltsam Zutritt zu verschaffen«, erklärte Barler, als hätte er ihre Gedanken gelesen.

Sie hatten das Ende des Ganges erreicht, an dem sich eine einzelne schmale Metalltür befand. Barler drückte die Klinke herunter, blieb einen Moment stehen und öffnete sie dann mit einem Ruck.

Sofort flammte in dem dahinterliegenden Raum weißes Neonlicht auf. Charity trat mit einem Schritt neben ihn. Sie wußte nicht, was sie erwartet hatte - aber das hier ganz bestimmt nicht. Hinter der Panzertür erstreckte sich ein gewaltiger, halbrunder Saal, der mit Computerbänken vollgestopft war. Die gesamte gegenüberliegende gerade Wand wurde von einem riesigen Bildschirm eingenommen, der aus zahlreichen, parallel geschalteten kleineren Monitoren bestand. Einige davon waren ausgefallen, die meisten aber noch intakt. Sie zeigten eine farbige, dreidimensionale Weltkarte, auf der zahllose rote und grüne Lichter glommen. Auch die meisten anderen Computermonitore waren noch in Betrieb; ihr grünes Flackern erfüllte den Raum mit einer unheimlichen Helligkeit, die Charity an das falsche Licht der türkisfarbenen Sonne erinnerte. Und überall lagen Tote: Männer in dunkelblauen Marine-und-Army-Uniformen, aber auch Zivilisten, die wie schlafend auf den Pulten zusammengesunken waren oder vor den einfachen Kunststoffstühlen lagen. Keiner von ihnen war gewaltsam gestorben, das erkannte Charity sofort. Und keiner dieser Toten war jünger als fünfzig Jahre.

»Großer Gott«, flüsterte Barler. »Was ist hier passiert?«

Charity antwortete nicht. Aber es war nicht besonders schwer, sich vorzustellen, was hier geschehen sein mußte: Die Invasoren hatten die Botschaft gestürmt, aber es war ihnen trotz ihrer Überlegenheit nicht gelungen, in diesen unterirdischen Komplex vorzudringen. Aber die Botschaftsangehörigen waren im Keller gefangen. Vielleicht hatten sie Monate ausgehalten, bis die Lebensmittel allmählich knapp wurden und sie einsahen, daß es keine Rettung mehr gab.

Charity drängte sich neben Barler durch die Tür und trat zögernd an eines der Computerpulte heran. Ihr Herz begann zu klopfen, als ihr Blick auf den flimmernden Monitor fiel. Sie verstand wenig von dem, was sie dort las, aber das, was sie bisher befürchtet hatte, wurde mehr und mehr zu Gewißheit. Unsicher streckte sie die Hand aus, tippte einige Worte in die dazugehörige Tastatur und wartete darauf, daß etwas geschah.

Auf dem Monitor erschienen grüne Leuchtbuchstaben, dann zischte etwas, und ein blauer Funkenregen quoll aus dem Gerät. Eine Sekunde später wurde der Bildschirm schwarz.

»Nun?« fragte Barler von der Tür aus. »Was ist das?«

Charity beachtete ihn gar nicht, sondern trat an eines der anderen Pulte. Mit klopfendem Herzen wiederholte sie die Eingabe, und diesmal gab das Gerät ihr bereitwillig Auskunft. Auf dem Monitor begannen grüne und weiße Zahlenkolonnen zu flackern.

Es dauerte fast eine Viertelstunde. Barler trat nach einer Weile neben sie und sah ihr neugierig über die Schulter hinweg zu, unterbrach sie aber nicht mehr, während sich Charity behutsam tiefer in die Geheimnisse des Computersystems hineinarbeitete. Es fiel ihr sehr schwer. Nichts von dem, was sie hier sah, gehörte zu ihren eigentlichen Aufgaben, aber sie wußte, wonach sie zu suchen hatte.

Schließlich richtete sie sich wieder auf und sah zuerst Barler, dann den riesigen Wandmonitor betroffen an. »Ich glaube, ich weiß jetzt, warum sie so scharf darauf waren, das hier unbeschädigt in die Hand zu bekommen«, sagte sie leise.

Barler sah sie fragend an und schwieg.

»Es muß so etwas wie das Gegenstück des nordamerikanischen NORAD sein«, murmelte Charity.

Barler sah sie wieder fragend an, und Charity erklärte: »Ich kann mich täuschen, aber ich bin fast sicher, daß hier unten beinahe die gesamte NATO-Logistik abgespeichert ist.« Sie machte eine Handbewegung auf den Bildschirm. »Jedes Waffenlager, jeder Flugplatz, jeder geheime Stützpunkt ... Einfach alles.«

»Ich fürchte, ich verstehe nicht«, sagte Barler.

Charity deutete erregt auf den Bildschirm. »Sie haben uns geschlagen, Barler«, sagte sie erregt. »Und wir haben ihnen auch noch dabei geholfen, indem wir ihnen die Tür aufgemacht haben. Sie haben unsere gesamte Verteidigung mit einem Schlag lahmgelegt, aber sie existiert noch. Begreifen Sie? Es ging alles viel zu schnell, als daß wir uns wirklich hätten wehren können, aber das meiste von dem, was wir hatten, ist immer noch da.«

»Sie meinen ... Waffen?« fragte Barler.

»Waffen, Flugzeuge, Schiffe, Vorratsdepots, Treibstofflager ... Was immer Sie wollen. Es gab eine Menge geheimer Lager damals, und ich schätze, als die Militärs begriffen, daß sie den Kampf verloren haben, haben sie noch eine ganze Menge mehr versteckt.«

Barlers Augen weiteten sich, als begreife er erst jetzt, was ihr Fund wirklich bedeutete. »Und hier ist ...«

»Alles aufgezeichnet«, bestätigte Charity. »In diesen Computern dürfte die exakte Position jeder geheimen Basis und jedes Depots verzeichnet sein, die es in Westeuropa gab.«

»Aber dann ...« Barlers Stimme überschlug sich fast vor Aufregung. »Dann könnte man eine Armee ausrüsten.«

»Theoretisch - ja«, sagte Charity leise.

»Was soll das heißen?«

»Ich weiß nicht, wie wir an diese Informationen herankommen.« Charity machte eine Handbewegung, die den ganzen Raum einschloß. »Das meiste von dem Zeug funktioniert wahrscheinlich nicht mehr. Und die meisten Daten dürften verschlüsselt sein.«

»Könnten Sie es schaffen?« fragte Barler.

Charity lächelte humorlos. »Wenn ich ein bißchen mehr von Computern verstehen würde und wenn ich genug Zeit hätte ...«

»Wieviel Zeit?« wollte Barler wissen.

»Erinnern Sie sich an meine Antwort an Jean, als er fragte, wie lange er wahrscheinlich gebraucht hätte, den Panzer zu knacken?« fragte Charity statt einer direkten Antwort.

»Sie meinen ...«

»Ich meine, daß es auf jeden Fall sehr schwierig sein dürfte, mit dem, was wir hier gefunden haben, wirklich etwas anzufangen.« Sie seufzte. »Es tut mir leid, wenn ich Sie jetzt enttäusche, aber das alles hier ...« Sie zuckte mit den Achseln. »Vielleicht ist es besser so.«

»Wir haben ein paar Leute, die sich mit Computern auskennen«, bemerkte Barler nachdenklich.

»Und wenn?« Charity zuckte erneut mit den Achseln und wandte sich von dem Pult ab. »Glauben Sie mir, Barler, es würde Ihnen nicht sehr viel nutzen. Sie kommen ja nicht einmal aus dieser Stadt heraus.«

»Das stimmt«, antwortete Barler. Plötzlich verdunkelte sich sein Gesicht vor Zorn. »Weil wir wehrlos sind. Weil wir nur leben, solange sie es uns gestatten. Sollen wir damit gegen sie kämpfen?« Er schlug ärgerlich mit der flachen Hand auf die Pistolentasche an seinem Gürtel. »Wenn wir mehr von diesen Panzern hätten, den Jean auf der Insel gefunden hat, oder ein paar vernünftige Geschütze ...«

Charity verbiß sich die Antwort, die ihr auf der Zunge lag. Sie verstand Barlers Reaktion; aber sie stimmte sie eigentlich nur traurig. Mit Waffen war der Krieg gegen die Invasoren nicht zu gewinnen.

»Und es geht nicht nur darum«, fuhr Barler fort. »Ich weiß, was die NATO war. Die Militärs haben nicht nur Waffen hinterlassen. Es gibt so viel, was wir brauchen, so viel, was wir lernen könnten - und alles ist hier.«

»Ja«, seufzte Charity. »Ich weiß nur nicht, was wir damit anfangen sollen.«

»Wir haben Zeit«, widersprach Barler. »Sie und Ihre Freunde können bei uns bleiben. Sie können uns helfen.«

»Ich fürchte, genau das können wir nicht«, antwortete Charity matt. »Wir wären nur eine Gefahr für Sie. Früher oder später werden sie herausbekommen, wo wir sind, und dann werden sie kommen und nach uns suchen.«

»Früher oder später vielleicht«, antwortete Barler, »aber bis es soweit ist, können Sie uns helfen. Und wir Ihnen.« Er zögerte einen Moment, dann fragte er: »Können Sie diese Mikrowellen-Barriere abschalten?«

Charity nickte.

»Dann tun Sie es bitte«, sagte Barler. »Ich werde ein paar Leute hierher schicken, die sich mit diesen Geräten auskennen. Wenn Sie wollen«, fügte er hinzu, »warte ich damit auch, bis Sie die Stadt verlassen haben.«

»Warum nicht?«

Charity war nicht sehr wohl bei dem Gedanken. Ohne einen Grund dafür nennen zu können, hatte sie das Gefühl, daß es ein Fehler gewesen war, diese Station aus ihrem Dornröschenschlaf zu wecken. Plötzlich wollte sie gehen. Sie hatte das Gefühl, ersticken zu müssen, wenn sie auch nur noch eine einzige Minute in diesem Saal blieb. Mit einem Ruck wandte sie sich gänzlich um und schritt wieder zum Ausgang, blieb dann aber noch einmal stehen, als ihr Blick den mumifizierten Leichnam eines Marinesoldaten streifte. Sie zögerte und bückte sich dann, um die Waffe des Toten an sich zu nehmen.

Es war ein schwerer Gamma-Laser. Sie überprüfte seine Ladung, blickte aufmerksam durch die Zieloptik und hängte sich die Waffe dann über die Schulter.

Barler sah sie fragend an. »Wollen Sie den Ameisen jetzt ganz allein den Krieg erklären?«

Charity schwieg. Sie wußte die Antwort nicht. »Sie wollten mir die Mauer zeigen«, sagte sie knapp.

Загрузка...