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Die Stadt war zu einem Alptraum geworden. Während der ersten zehn Minuten waren sie durch die engen Straßenschluchten eines der ehemaligen Altbauviertel von Paris gegangen. Und obwohl sie auf Schritt und Tritt Anzeichen unvorstellbarer Verwüstung gesehen hatten, hatten die Häuser trotz ihres bizarren Panzers aus grün-violetter Vegetation irgendwie vertraut gewirkt.

Doch dann hatten sie dieses Viertel allmählich hinter sich gelassen, und die Zerstörung war immer größer geworden. Kaum ein Gebäude war noch unversehrt, kaum ein Straßenzug nicht von tiefen, wassergefüllten Kratern zerrissen. Und die meisten Häuser, an denen sie vorüberkamen, waren nur noch ausgebrannte, leere Ruinen.

Rings um sie herum erhoben sich die fremdartig geformten Bäume und Pflanzen eines unheimlichen Dschungels, der die Stadt verschlungen hatte, als wären seit ihrer Vernichtung nicht fünfzig, sondern fünfhundert Jahre vergangen.

Manche der Bäume mußten einen Durchmesser von zehn oder mehr Metern haben, und ihre Kronen erhoben sich so hoch in den Himmel, daß Charity ihre Größe nicht einmal zu schätzen wagte. Sie hatte Büsche gesehen, deren Äste so biegsam wie junge Weidenzweige waren, trotzdem aber jeder einzelne für sich so dick wie ein normaler Baum, und Farngewächse, wie sie auf der Erde in dieser Größe vielleicht zur Zeit der Dinosaurier gewachsen waren.

Überhaupt wirkte alles hier ungeheuer groß. Sie waren bisher auf keinen lebenden Bewohner dieses Alptraumdschungels gestoßen, aber einmal waren sie an einem Spinnennetz vorübergekommen, in dessen Fäden sich eine Vielzahl ausgewachsener Ratten verfangen hatten. Und es hätte Kyles warnender Geste nicht bedurft, Charity und die anderen zu einem respektvollen Bogen um das weiße Gespinst zu veranlassen.

Net und sie hatten sich in der Führung der kleinen Gruppe abgewechselt. Und obwohl Charity ein schlechtes Gewissen dabei hatte, dem Mädchen, das schließlich noch ein halbes Kind war, die undankbare Aufgabe zu übertragen, bei jedem einzelnen Schritt zu überlegen, ob es vielleicht der letzte sein würde, war sie doch gleichzeitig dankbar dafür. Sie fühlte sich verwirrt und hilflos wie niemals zuvor im Leben. Alles erschien ihr so sinnlos, daß sie sich in den letzten Minuten mehr als einmal dabei ertappt hatte, sich allen Ernstes zu fragen, warum sie überhaupt noch weitermachten. Daß sie aus Daniels Falle entkommen waren, bedeutete überhaupt nichts. Sie hatte das Gespräch, das Daniel und sie in seinem Privatmuseum unter dem höchsten Turm des Shai-Taan geführt hatten, nicht vergessen. Trotz aller Verachtung, die sie diesem Verräter gegenüber empfand, war sie doch gleichzeitig sicher, daß er die Wahrheit gesagt hatte. Aber wenn das so war, dachte sie niedergeschlagen, dann war alles, was sie getan hatten und jetzt noch taten, vollkommen sinnlos, ebenso sinnlos wie alles, was sie noch tun konnten. Dann kämpfte sie gegen einen Gegner, der nicht besiegt werden konnte, weil ein Sieg über ihn gleichzeitig den Tod bedeutete. Nicht nur für sie, sondern für diesen ganzen Planeten.

Charitys Blick heftete sich auf den Rücken Gurks, der wenige Schritte vor ihr herging. Gurk sah vielleicht ein wenig komisch aus, aber er war nichtsdestoweniger ein humanoides Wesen. Und was seiner Gestalt an Menschlichkeit abging, das machte der Charakter des Gnoms hundertfach wett. Ob er nun in Colorado oder auf dem vierundachtzigsten Planeten der Sonne Itzelplunk in der neunten Galaxis geboren war, dachte Charity spöttisch, Abn El Gurk Ben Amar Ibn Lot Fuddel der Vierte war hundertmal mehr Mensch als so manches sogenannte menschliche Wesen, dem sie in ihrem Leben begegnet war.

»Paßt auf da vorne!«

Charity fuhr erschrocken aus ihren Gedanken hoch und griff automatisch zur Waffe, aber nicht ihr hatte Kyles warnender Ruf gegolten, sondern Net.

Die junge Wasteländerin reagierte so rasch und kaltblütig, wie Charity erwartet hatte: Auch sie zog ihre Waffe und rührte sich aber nicht von der Stelle, beobachtete aber mit größter Aufmerksamkeit ihre Umgebung.

Doch sie entdeckte genausowenig wie Charity, die nach kurzem Zögern neben sie trat und ihre Blicke über die wuchernde, grüne Mauer schweifen ließ, die sie an drei Seiten umgab.

Ein wenig verärgert drehte sie sich zu Kyle herum. Der Megamann vergewisserte sich mit einem raschen Blick davon, daß Skudder nichts dagegen hatte, wenn er sich von seinem Platz in der kleinen Gruppe löste, und eilte dann zu ihnen. Er sagte kein Wort, sondern deutete nur schweigend auf einen knapp mannshohen, kugelförmigen Busch.

Charity konnte auch jetzt nichts Auffälliges an dem Busch erkennen - abgesehen von den großen, unregelmäßig verteilten Flecken einer weißen, durchscheinenden Substanz, die an den dornigen Zweigen klebte. »Was soll das?« fragte sie stirnrunzelnd.

Statt zu antworten ging Kyle weiter, blieb einen knappen Meter vor dem Busch stehen und streckte den Arm aus. Seine Finger berührten flüchtig einen der weißen Zuckerwatte-Bäusche, worauf die Substanz die Farbe wechselte und zu brodelndem Leben erwachte. Aus dem flockigen Weiß wurde ein stumpfgrauer, zuckender Ball, der eine Sekunde später in einer lautlosen Explosion auseinanderbarst und sich über Kyles Hand ergoß.

Der Megamann wich mit einem hastigen Schritt ein Stück von dem Busch zurück und drehte sich herum. Seine Hand war noch immer grau, aber als er näher kam, erkannten sie, daß es nicht seine Haut war, die sich verändert hatte. Kyles Hand war bis über das Gelenk hinauf mit einer Schicht winzigkleiner, kribbelnder, stumpfgrauer Körper bedeckt; winzige Insekten mit erbsengroßen, pelzigen Leibern und acht vielfach gegliederten Beinen, die sich in rasendem Takt bewegten. Charity verzog angeekelt das Gesicht, als sie begriff, daß es Spinnen waren.

Trotzdem trat sie einen Schritt auf ihn zu und wollte sich neugierig vorbeugen, aber der Megamann hob rasch die andere Hand und machte eine abwehrende Bewegung.

»Vorsicht«, sagte er. »Sie sind sehr giftig.«

Er blickte Net an. »Ein oder zwei Bisse, und du wärest gestorben.«

Net wurde bleich, sagte aber nichts, während auch Skudder und der Zwerg näher kamen. Skudder betrachtete Kyles Hand wie Charity mit einer Mischung aus Neugier und Abscheu, während Gurks Miene Langeweile ausdrücken sollte.

»Wieso macht es Ihnen nichts aus?« fragte Charity.

»Ich bin immun gegen ihr Gift«, antwortete Kyle. Plötzlich lächelte er, ballte die Hand zur Faust - und die Armee winziger Spinnentiere zuckte wie unter einem elektrischen Schlag zusammen und starb. Die Tiere krümmten sich, zogen die Beine an den Körper und fielen wie grauer Staub von Kyles Hand herab.

»Aber sie nicht gegen Ihres«, murmelte Charity betroffen.

Net fuhr sich nervös mit der Hand über den Mund, blickte den grün-weiß gefleckten Busch vor sich an und machte ganz instinktiv einen Schritt zurück, obwohl sie sich in sicherer Entfernung befand. Verwirrt sah sie zu Kyle auf. »Danke«, murmelte sie. »Ich schätze, du hast mir das Leben gerettet.«

Kyle antwortete nicht darauf, aber Gurk ergriff die Gelegenheit, wieder eine seiner spitzen Bemerkungen loszuwerden. »Ja«, schnappte er. »Ich frage mich nur, warum.«

Charity setzte zu einer scharfen Entgegnung an - aber dann überlegte sie es sich doch anders und wandte sich statt dessen mit einem fragenden Blick wieder an Kyle. »Wissen Sie, Kyle«, begann sie, »es kommt ja selten vor, daß Gurk und ich einer Meinung sind. Aber dieses Mal pflichte ich ihm bei. Warum tun Sie das?« Sie runzelte die Stirn und deutete auf den Busch. »Ich meine, Sie hätten in aller Ruhe abwarten können, bis Net oder ich von diesen Biestern aufgefressen worden wären. Keiner von uns wäre auch nur auf den Gedanken gekommen, Ihnen einen Vorwurf zu machen.«

»Eine interessante Idee«, antwortete Kyle. Er lächelte flüchtig. »Ich schlage vor, daß wir das nächste Mal zuerst darüber diskutieren, ob ich Sie vor einer Gefahr warnen soll oder nicht.« Diesmal gab er sich nicht einmal die Mühe, den spöttischen Klang aus seiner Stimme zu verbannen.

Aber Charity blieb ernst. »Ich meine es ernst, Kyle«, sagte sie. »Warum tun Sie das? Hat Gurk recht, und es ist nur ein neuer Trick, um uns in eine Falle zu locken?«

Kyle sah sie einen Moment lang durchdringend an, dann schüttelte er wortlos den Kopf.

»Warum dann?« beharrte Charity. »Vorhin, im Transmitter-Raum, Kyle ... die beiden Biester hätten uns erledigt, wenn Sie sie nicht angegriffen hätten. Haben Sie bei Daniel gekündigt und suchen jetzt einen neuen Job? Oder mögen Sie einfach nichts, das mehr als vier Beine hat?«

Wenn Kyle der sarkastische Unterton in ihrer Stimme überhaupt auffiel, so beachtete er ihn jedenfalls nicht. »Ich ... brauche Zeit«, sagte er leise. »Ich muß nachdenken.«

»Worüber?« fragte Charity.

»Vielleicht hat er begriffen, daß er auf der falschen Seite steht«, sagte Net.

Charity bedeutete Net zu schweigen. Der Megamann stand völlig reglos vor ihr. Sein Gesicht verriet nichts von seinen Gefühlen, aber sie glaubte zu bemerken, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Und plötzlich erinnerte sie sich wieder an den Ausdruck fassungslosen Entsetzens in seinen Augen, Sekunden nachdem er aus dem Transmitter getaumelt war. Irgend etwas ging in diesem Mann vor.

»Daniel hat Sie verraten, nicht wahr?« fragte sie leise. »Ich meine - es war kein Zufall oder eine Verwechslung, daß der Moroni Sie angegriffen hat und nicht uns. Das ist doch so, oder?«

»Ich ...« Kyles Lippen begannen zu zittern. Fast hilflos blickte er sich um. Seine Selbstsicherheit war mit einem Schlag wie weggeblasen. »Ich ... weiß es nicht«, sagte er stockend. »Alles ist ... falsch. Das hier ist Shai. Ich darf nicht hierher zurück. Sie werden mich töten, wenn sie mich stellen.«

Es dauerte einen Moment, bis Charity überhaupt begriff, wovon der Megamann sprach. »Shai?« wiederholte sie. »Shai ... Shai-Taan ...«

»Das hier ist der Ort, zu dem die Kinder gebracht werden«, vermutete Skudder. »Die Kinder, die Angela und die anderen Priesterinnen geholt haben, um sie Shai zu weihen. Sie ... sie werden hierher gebracht, an diesen Ort, nicht wahr?«

Kyle sah ihn unsicher an und nickte. Er sagte nichts.

»Was tut ihr mit ihnen?« fragte Skudder. Sein Gesicht verzerrte sich vor Zorn, und seine Stimme wurde schrill. Plötzlich trat er auf Kyle zu und hob die Hände, wie um ihn zu packen und zu schütteln, berührte ihn aber nicht, sondern starrte ihn nur haßerfüllt an. »Was geschieht mit ihnen? Warum bringt ihr all diese Kinder in diese Hölle? Was tut ihr ihnen an?!«

»Nichts«, antwortete Kyle ruhig.

»Wo sind sie?« brüllte Skudder. »Habt ihr sie umgebracht? Habt ihr sie an ... an diese Bestien hier verfüttert?«

»Red keinen Unsinn, Skudder«, sagte Charity, doch der Shark beachtete sie gar nicht.

Kyle schüttelte den Kopf. Skudder stand mit drohend erhobenen Fäusten vor ihm, aber Kyles Blick zeigte nicht die kleinste Spur von Furcht. Wenn Charity überhaupt ein Gefühl in seinen Augen las, dann allerhöchstens eine milde, sonderbar ziellose Trauer.

»Natürlich nicht«, sagte er. »Sie sind in der Basis.«

»Hat Stone das gewußt?« fragte Charity, um die gefährliche Situation irgendwie zu entspannen.

Sie wußte, daß Skudder die Kontrolle über sich zu verlieren drohte. Natürlich wußte der Hopi so gut wie sie, daß Kyle keine Schuld traf. Wenn überhaupt, dann gehörte er zu den Opfern, nicht zu den Tätern. Aber der Indianer suchte einfach ein Objekt, an dem er seine Wut auslassen konnte.

Mit einem raschen Schritt trat sie zwischen Kyle und Skudder. »Hat er gewußt, wohin dieser Transmitter führt?« fragte sie noch einmal.

Wieder nickte Kyle wortlos.

»Aber er hat Sie trotzdem gezwungen, uns zu folgen«, fuhr Charity mit einem nervösen Blick in Skudders Richtung fort. »Ich meine, er hat genau gewußt, daß es Ihren Tod bedeutet, wenn Sie durch diesen Transmitter gehen. Aber er hat trotzdem darauf bestanden.«

»Er hat mich hineingestoßen«, sagte Kyle.

»Anscheinend muß er wirklich großen Wert darauf legen, dich wieder in die Finger zu bekommen«, sagte Skudder und starrte Kyle weiter haßerfüllt an.

»Oder jemand anderen loszuwerden«, fügte Charity sehr ernst hinzu. Der Megamann reagierte auch auf diese Bemerkung nicht, aber das kurze Flackern in seinem Blick verriet Charity, daß sie der Wahrheit ziemlich nahe gekommen sein mußte.

»Es ist Ihnen verboten, diesen Ort zu betreten«, fuhr sie fort. »Was passiert, wenn wir es trotzdem tun, Kyle?«

»Sie eliminieren mich«, antwortete Kyle. »Jede Dienerkreatur wird sofort das Feuer eröffnen.«

»Dienerkreatur?«

Kyle lächelte flüchtig.

»Sie nennen sie Ameisen«, sagte er. »Und nicht nur sie. Auch die anderen werden mich jagen.«

»Welche anderen?« fragte Skudder alarmiert.

»Andere wie ich«, antwortete Kyle.

Skudder wurde bleich und riß ungläubig die Augen auf.

»Soll das heißen, es ... es gibt hier noch ... noch mehr wie dich?« ächzte er.

Kyle sah ihn ernst an und nickte. »Dies hier ist der Planet, auf dem wir aufwachsen und ausgebildet werden«, sagte er. »Shai.«

»Was soll das heißen?« mischte sich Net ein. »Dieser Planet.«

Charity brachte sie mit einer raschen Geste zum Verstummen. Dann wandte sie sich wieder an Kyle. »Sie meinen, Sie sind hier aufgewachsen? Hier in diesem Dschungel?«

»Nicht im Dschungel.« Kyle machte eine vage Handbewegung nach Norden. »In der Basis. Aber sie ist nicht sehr weit entfernt.«

»Und wie viele von ... von euch gibt es?« fragte Skudder stockend.

Kyle zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Hier sind es nicht sehr viele. Aber es gibt mehr als dieses eine Shai-Taan. Es ist lange her, seit ich hier war. Damals waren wir fünfzig oder sechzig. Ich erinnere mich nicht mehr genau.«

»Oh«, entfuhr es Skudder. Er schluckte ein paarmal und versuchte zu lächeln, aber er brachte nur eine häßliche Grimasse zustande.

Auch Charity spürte einen eisigen Schauer. »Fünfzig oder sechzig ...« Sie hatten gesehen, was ein einziger dieser Männer anrichten konnte; fünfzig von ihnen waren genug, es mit einem ganzen Planeten aufzunehmen. »Ich schätze«, sagte sie, »damit haben Sie ein paar neue Partner gewonnen, Kyle. Ob es Ihnen gefällt oder nicht.«

Kyle schüttelte langsam den Kopf. Seine Stimme klang fast traurig. »So einfach ist das nicht, Captain Laird«, sagte er. »Ich kann nicht bei Ihnen bleiben.«

»Warum nicht?« fragte Charity. »Was sind Sie Daniel noch schuldig?«

»Es geht nicht um ihn«, antwortete Kyle. »Stone hat versucht, mich zu töten. Warum, weiß ich nicht. Aber es hat auch keinerlei Einfluß auf Ihre und meine momentane Situation. Ich kann nicht bei Ihnen und Ihren Freunden bleiben, ganz egal, ob ich will oder nicht. Ich wäre nur eine Gefahr für Sie. Und ich ... kann hier nicht leben.«

»Bisher tun Sie es«, antwortete Charity.

»Die erste und einzige Regel ist verletzt worden«, antwortete Kyle mit großem Ernst. »Kein Megakrieger darf nach seiner Ausbildung nach Shai zurückkehren. Unter gar keinen Umständen. Ich bin verpflichtet, mich selbst zu töten. Und vielleicht werde ich es noch tun.«

»Das ist der erste vernünftige Satz, den ich heute von dir höre«, sagte Gurk giftig. »Gib Bescheid, wenn du irgendwelche Hilfe brauchst, mein Freund.«

Seltsamerweise lächelte Kyle einen Moment lang.

Dann wandte er sich wieder Charity zu. »Ich kann nicht bei Ihnen bleiben«, sagte er. »Lassen Sie mich gehen. Ich gebe Ihnen mein Wort, Sie und Ihre Freunde nicht zu verraten.«

»Und dann?«

Kyle hob hilflos die Schultern. »Ich weiß es nicht«, gestand er. »Es ist ...« Er stockte, suchte einen Moment lang sichtlich nach Worten und blickte nacheinander Skudder, Net und dann Charity beinahe flehend an.

»Ich verstehe das nicht«, flüsterte er. »Ich müßte Sie gefangennehmen. Ich müßte die ... die anderen töten und Sie zu Stone zurückbringen. Und ich müßte mich ... mich selbst ... eliminieren. Die erste und einzige Regel ist gebrochen worden, und ich ...« Wieder brach er ab, und wieder machte sich eine Mischung aus Hilflosigkeit und Verzweiflung auf seinem Gesicht breit.

Es war ein beinahe erschütternder Anblick. Charity hatte mit eigenen Augen gesehen, wie dieser äußerlich so ganz normal erscheinende junge Mann mit dem Kindergesicht und den sanften Augen eine ganze Armee von Monstern besiegt hatte. Sie hatte am eigenen Leib gespürt, was es hieß, von einem Wesen wie ihm gejagt zu werden, einen Geschöpf, das ihre Spur mit der Unerbittlichkeit einer Maschine verfolgte und dabei seinerseits eine Spur aus Tod und Vernichtung hinterließ. Aber im Moment verspürte sie nichts als Mitleid mit Kyle. Der kalte Zorn war noch in ihr, aber sie begriff erst jetzt, daß er gar nicht Kyle galt, daß er ihm niemals gegolten hatte. Er hatte immer nur denen gegolten, die diesen Mann auf sie angesetzt hatten; Geschöpfe, die Menschen wie Schachfiguren behandelten, die sie nach Belieben hin- und herschoben und opferten.

»In Ordnung«, sagte sie.

Skudder blickte sie leicht verwirrt an, während Gurk wie unter einem Schlag zusammenfuhr und nach Luft japste. »Was soll das heißen - in Ordnung?!« kreischte er.

Charity achtete nicht auf sein Geschrei. »Gehen Sie, Kyle«, sagte sie. »Sie haben Ihr Wort gehalten. Die Frist, die ich von Ihnen verlangt habe, ist längst vorüber.«

»Bist du wahnsinnig geworden?« brüllte Gurk. »Er wird uns verraten! Er wird uns sofort an seine Brüder ausliefern!«

»Halt endlich den Mund, du Giftzwerg«, sagte Skudder. »Wenn er das wirklich gewollt hätte, hätte er uns längst erledigen können.«

Charity war ein wenig überrascht, denn sie hatte eher damit gerechnet, daß Skudder sich ihr widersetzte. »Sie können gehen, Kyle«, sagte sie noch einmal. »Aber Sie können auch bei uns bleiben. Ich vertraue Ihnen. Zusammen haben wir vielleicht eine größere Chance, hier herauszukommen.«

Kyle schüttelte traurig den Kopf. »Es gibt nur einen Ort, an dem Sie sicher sind«, sagte er. »Die Freie Zone. Es ist nicht mehr sehr weit bis dorthin. Mit ein wenig Glück schaffen Sie es.«

»Dann begleite uns«, sagte Net. »Zusammen schaffen wir es bestimmt!«

Kyle schüttelte abermals den Kopf. »Das kann ich nicht«, sagte er. »Ich kann ebensowenig dorthin, wie ihr dorthin könntet, wo ich hingehe.«

»Und wo ist das?« fragte Skudder.

Wieder deutete Kyle hinter sich. »Zur Basis«, antwortete er.

»Aber das bedeutet deinen Tod!« sagte Net erschrocken. »Du hast selbst gesagt, daß sie dich umbringen werden.«

Charity brachte sie mit einem raschen Blick zum Schweigen. »Genau das will er, Net.«

Kyle blickte sie fast verzweifelt an. Und Charity fuhr leise fort: »Ich habe doch recht, Kyle? Sie wollen zurück, um dort zu sterben. Nicht hier, in unserer Nähe, wo Sie uns gefährden würden, sondern möglichst weit entfernt von uns. Und wissen Sie auch, warum Sie das wollen, Kyle?«

»Die Regel«, murmelte Kyle. »Die erste und einzige Regel. Kein Megamann darf je wieder nach Shai zurückkehren.«

»Unsinn!« antwortete Charity. »Ich will Ihnen sagen, warum Sie wirklich den Tod suchen, Kyle. Sie haben begriffen, daß Sie Ihr Leben lang auf der falschen Seite gestanden haben. Sie gehören nicht zu diesen Bestien. Ich weiß nicht, was sie mit Ihnen getan haben, und ich will es auch gar nicht wissen. Aber eines weiß ich jetzt ziemlich genau: Sie sind weder ein Roboter noch irgendein geklöntes Monster. Sie sind ein Mensch, genau wie wir.«

»Das ... das stimmt nicht«, antwortete Kyle. Aber seine Stimme zitterte, und in seinem Blick flackerte etwas, das Charity an den Ausdruck in den Augen eines Wahnsinnigen erinnerte. Für einen winzigen Moment hatte sie wieder Angst vor ihm. »Das ... das ist nicht wahr! Ich ...«

»Sie sind ein Mensch«, beharrte Charity. »Sie sind ein Mensch und Sie werden es auch immer bleiben. Ganz gleich was sie mit Ihnen gemacht haben, und ganz gleich, wie sehr Sie sich auch dagegen sträuben. Daniel hat das erkannt. Deshalb hat er auch versucht, Sie umzubringen.«

»Nein!« stöhnte Kyle. »Das ist nicht wahr!«

»Natürlich ist es wahr«, sagte Charity, »und Sie wissen es auch ganz genau, Kyle.« Sie machte eine zornige Geste in die gleiche Richtung, in die der Megamann gedeutet hatte. »Ihre erste und einzige Regel, nie wieder zu diesem Ort zurückzukehren - soll ich Ihnen sagen, warum es sie gibt? Weil das hier kein fremder Planet ist! Das hier ist die Erde. Der Planet, auf dem Sie geboren wurden und ich und Skudder und Net und all die anderen. Und vermutlich auch Ihre Brüder, Kyle. Sie stammen nicht von irgendeinem fremden Planeten. Ich weiß nicht, was sie mit Ihnen und den anderen machen, damit Sie so werden, wie Sie sind. Sie ändern Ihren Metabolismus, und vermutlich haben sie auch Ihren Geist manipuliert. Sie haben Ihnen jede Erinnerung an Ihre Vergangenheit genommen, nicht wahr?«

Kyle starrte sie hilflos an, und Charity nickte grimmig. »Sie wissen nicht, wer Sie wirklich sind, Kyle«, sagte sie. »Sie erinnern sich an nichts, was vor dem Zeitpunkt lag, an dem Sie diese Basis erreichten. Man hat Ihnen gesagt, daß Sie ausgewählt wurden, um auf einem fremden Planeten eingesetzt zu werden. Sie haben Ihnen jede Erinnerung an Ihr wirkliches Ich genommen, und das mußten sie auch - sonst hätten Sie irgend eines Tages begriffen, daß Sie gegen Ihr eigenes Volk kämpfen, Kyle!«

»Und wenn es so wäre!« mischte sich Gurk aufgebracht ein. »Was ändert das? Er wird uns verraten! Er kann gar nicht anders, selbst wenn er wollte!«

»Das stimmt nicht.« Charity schüttelte den Kopf. »Das wird er nicht tun. Jetzt nicht mehr.« Ihre Stimme wurde leiser und gewann gleichzeitig an Eindringlichkeit. »Sie haben die Welt gesehen, auf der wir leben, Kyle. Sie haben das Volk kennengelernt, zu dem Sie gehören. Bleiben Sie bei uns! Helfen Sie uns, und wir helfen Ihnen! Gemeinsam können wir die Feinde besiegen! Wir können so viel von Ihnen lernen - und Sie von uns.«

Kyle stöhnte. Er wollte etwas sagen, brachte aber nur einen wimmernden Laut heraus. Hilflos hob er die Hände, schlug sie vor das Gesicht und stand sekundenlang zitternd da.

Und dann fuhr er so schnell herum, daß weder Charity noch einer der anderen etwas tun konnte, um sich ihm in den Weg zu stellen, und verschwand mit gewaltigen, weit ausgreifenden Schritten im Dschungel.

Charity blickte ihm enttäuscht und traurig nach und winkte ab, als Skudder seine Waffe hob und dazu ansetzte, den Megamann zu verfolgen. »Laß ihn«, sagte sie. »Du würdest ihn sowieso nicht einholen.«

»Du hast recht«, sagte Skudder, nachdem er mit einem Achselzucken seine Waffe wieder eingesteckt hatte. »Und wenn ich ehrlich sein soll - ich bin froh, daß er weg ist.«

Charity schwieg. Zu ihrer Überraschung sagte auch Gurk nichts, sondern bedachte nur abwechselnd sie und den Hopi mit zornigen Blicken. Im Grunde hätte auch sie froh sein sollen, daß Kyle nicht mehr bei ihnen war, denn selbst wenn er ihnen freundlich gesonnen war, so bedeutete allein seine bloße Anwesenheit Gefahr. Doch sie verspürte nur eine Mischung aus Verbitterung und Zorn. Sie war wütend auf sich selbst, daß es ihr nicht gelungen war, Kyle zum Bleiben zu überreden. Und sie spürte nichts als Verbitterung, als sie an die Wesen dachte, die ihre Welt zu dem gemacht hatten, was sie war; eine Welt, in der es Männer wie Kyle gab, und Städte, in denen jeder Schritt zum Verhängnis werden konnte. Es hatte ihnen nicht gereicht, die Erde zu zerstören. Nein - die Invasoren hatten sie völlig verändern müssen.

Nach einer Weile drehte sie sich mit einer müden Bewegung wieder herum und deutete in die Richtung, die Kyle ihnen gewiesen hatte. »Kommt«, sagte sie matt. »Versuchen wir, die Freie Zone zu erreichen.«


*


Was Jean in den letzten zehn Minuten beobachtet hatte, hatte ihn mehr verstört als alles in den achtzehn Jahren seines Lebens zuvor. Was er gesehen hatte, das war ... einfach wahnsinnig! Nicht nur, daß der Jäger die junge Frau an der Spitze der Gruppe vor den Spinnen gewarnt und ihr damit das Leben gerettet hatte. Die anderen - allen voran die junge Frau mit dem hellen Haar - hatten daraufhin eine Weile mit ihm diskutiert und ihn schließlich gehen lassen! Es war ihr sicheres Todesurteil. Der Jäger würde keine Stunde brauchen, um zum Turm zurückzukehren und zu berichten, was geschehen war. Und keine fünf Minuten später würde es hier von Gleitern und Ameisen nur so wimmeln. Was um alles in der Welt ging hier vor? Wer waren diese Fremden, und was wollten sie hier?

Jean fand keine Antwort auf die Fragen, aber er begriff, daß er sich am besten weiterhin versteckt hielt. Er wußte nicht, auf welcher Seite diese Fremden wirklich standen. Vielleicht war es ganz anders, dachte er. Vielleicht sahen sie nur aus wie Menschen. Vielleicht waren sie nicht Opfer, sondern die Herren der Jäger!

Der Gedanke erfüllte Jean mit Zorn und Angst. Er hatte immer vermutet, daß es außer den Ameisen und den Jägern noch eine dritte, befehlende Macht in der verbotenen Stadt unter dem Turm geben mußte. Und warum sollten sie nicht aussehen wie ganz normale Menschen? Auch ein Jäger war auf den ersten Blick nicht von einem x-beliebigen Bewohner der Freien Zone zu unterscheiden. Wenn es schon diesen Geschöpfen möglich war, ihr Aussehen fast nach Belieben zu verändern, über welche unvorstellbaren Kräfte mußten dann ihre Herren verfügen?

Sein Herz begann vor Aufregung wild zu schlagen, als er beobachtete, wie die Fremden nach einer Weile weitergingen, wobei sie einen respektvollen Bogen um den Busch mit den Spinnennestern schlugen. Wenn sie die Richtung beibehielten, dann kamen sie geradewegs zum Fluß - und damit zur Freien Zone.

Jean wartete gebannt, bis der riesige Mann mit der roten Haut, der den Abschluß der kleinen Gruppe bildete, im Unterholz verschwunden war. Dann erhob auch er sich hinter seiner Deckung und folgte ihnen; nicht auf direktem Weg, sondern ein gutes Stück weiter westlich, dafür aber schneller als sie, so daß er sie überholen und sich vor sie setzen konnte.

Er war so aufgeregt, daß er Fehler machte. Einmal stolperte er beinahe in ein kleineres Spinnennest, und nur einen Moment darauf trat er auf die Fallgrube einer Fangschrecke. Es war pures Glück, daß er nicht nur in die knietiefe Fallgrube, sondern auch gleich auf den gepanzerten Rücken der Schrecke trat und sie zerquetschte.

Jean befreite sich mit einem Fluch aus der heimtückischen Fallgrube, säuberte seinen Stiefel angeekelt an einem Grasbüschel und rief sich in Gedanken zur Ordnung. Er mußte besser auf sich aufpassen. Es war jetzt wichtiger denn je, daß er unversehrt zum Fluß und seinem Pibike gelangte, um die Bewohner der Freien Zone vor der Gefahr zu warnen.

Er blieb einen Moment stehen, um zu lauschen - er hörte nichts außer den vielfältigen Geräuschen des Waldes -, und lief dann noch schneller weiter. Der Busch wurde immer dichter, so daß es immer schwerer war, überhaupt voranzukommen; geschweige denn, die einmal eingeschlagene Richtung beizubehalten. Wo ihm nicht dichtes Unterholz den Durchgang verwehrte, da erhoben sich die Reste von verkohlten Gebäuden oder auch massive, fast unversehrte Mauern. Und mehr als einmal mußte er große Umwege in Kauf nehmen oder gar den mühsam zurückgelegten Weg ein gutes Stück wieder zurückgehen, um überhaupt von der Stelle zu kommen. Jeans einziger Trost war, daß die vier anderen wahrscheinlich mit den gleichen Schwierigkeiten zu kämpfen hatten. Der Zwischenfall mit den Spinnen hatte ihm gezeigt, daß sie sich hier im Dschungel nicht besonders gut auskannten. Vielleicht hatte er ja Glück, dachte er, und sie taten ihm den Gefallen, sich auffressen zu lassen oder auf eine giftige Pflanze zu treten.

Obwohl er sein Tempo immer mehr erhöhte und damit Gefahr lief, irgendein Raubtier oder eine heimtückische Falle zu übersehen, brauchte Jean über eineinhalb Stunden, um den Fluß wieder zu erreichen. Und als sich das Unterholz schließlich vor ihm lichtete und er den gewaltigen, schlammigen Graben vor sich sah, stellte er enttäuscht fest, daß er weiter vom Kurs abgekommen war, als er angenommen hatte: Die Insel befand sich gute zwei Kilometer zu seiner Rechten.

Jean seufzte enttäuscht. Er mußte sich fast im rechten Winkel vom richtigen Kurs entfernt haben, ohne es zu merken. Aber vielleicht konnte er noch von Glück sagen, daß er den Fluß überhaupt wiedergefunden hatte. Er warf einen Blick in den Himmel hinauf - im Augenblick war kein Gleiter zu sehen - und ging los.

Auf dem ersten Drittel der Strecke kam er besser voran, als er zu hoffen gewagt hatte. Dann stieß er auf die Überreste einer alten Asphaltstraße, die unmittelbar am Ufer entlangführte. Sie war von Unkraut und Moos bedeckt, aber er brauchte wenigstens nicht auf Fallgruben und giftige Pilze zu achten. Eine gute halbe Stunde lang marschierte er in scharfem Tempo auf die Insel zu, wobei er aber immer wieder stehenblieb und sich nach allen Seiten hin umsah. Ein paarmal hörte er ein verräterisches Geräusch aus dem Dschungel und huschte blitzschnell hinter die erstbeste Deckung, die er fand.

Trotzdem mußte er einen Fehler begangen haben, denn plötzlich hörte er genau das Geräusch, vor dem er wie vor nichts anderem auf der Welt Angst hatte: das Heulen eines Gleiters!

Jean fuhr mit einem Aufschrei herum, über dem Fluß war ein winziges, silbernes Funkeln zu sehen, das sich mit irrsinniger Geschwindigkeit näherte und allmählich die Gestalt einer flachen, kreisrunden Scheibe gewann. Der Gleiter bewegte sich direkt auf ihn zu!

Jean wußte im Grunde sehr gut, wie sinnlos alles war, was er jetzt noch tun konnte. Was immer einmal von den Ortungsgeräten der Gleiter erfaßt worden war, das hatte keine Chance mehr, ihnen wieder zu entkommen. Und die Feuerkraft dieser fliegenden Killer reichte aus, es zu vernichten, gleichgültig, wo es sich versteckte. Trotzdem fuhr er herum, rannte zwei, drei Schritte auf den Waldrand zu und warf sich mit einem gewaltigen Sprung hinter einen Baum, als der Gleiter heulend heranraste. Er schlug schmerzhaft auf dem Boden auf, der sich unter der dünnen Decke aus Luftwurzeln und kriechenden Gewächsen verbarg, rollte herum und riß instinktiv die Arme über das Gesicht, als könne er den tödlichen Laserblitz auf diese Weise abwehren.

Der Gleiter raste heran, verwandelte sich zu einem gigantischen, dreißig Meter durchmessenden Ungetüm, das eine Woge kochendheißer, brüllender Luft vor sich herschob - und jagte über Jeans Versteck hinweg!

Im ersten Moment war er so verblüfft, daß er nicht einmal begriff, was überhaupt geschah. Er wußte nur, daß er noch am Leben war - aber er verstand nicht, warum. Dann traf die kochendheiße Druckwelle, die der Gleiter wie eine unsichtbare Schleppe hinter sich herzog, den Dschungel und das Flußufer. Jean fühlte sich gepackt und hochgerissen und wie ein welkes Blatt durch die Luft gewirbelt. Er schrie auf, griff ebenso verzweifelt wie sinnlos nach irgend etwas, woran er sich festhalten konnte, und sah das Flußufer und den fünfzehn Meter tiefen Abgrund dahinter auf sich zu springen. Ein paarmal überschlug er sich in der Luft, ehe er mit furchtbarer Wucht aufprallte. Ein gräßlicher Ruck schien jedes einzelne Gelenk in seinen Händen, Armen und Schultern zerreißen zu wollen, und für einen Moment hatte er das furchtbare Gefühl, daß unsichtbare, ungeheuer starke Hände an seinen Füßen zerrten und ihn endgültig in den Abgrund hinabzureißen versuchten. Dann kam er mit einem letzten, noch schrecklicheren Ruck zur Ruhe und blieb stöhnend vor Schmerz und Angst liegen.

Das Heulen des Gleiters erfüllte noch immer die Luft. Aber es entfernte sich. Jean hob mühsam den Kopf, versuchte die Tränen wegzublinzeln, die seinen Blick verschleierten, und starrte verständnislos auf die gigantische Silberscheibe, die sich in den wenigen Sekunden bereits einen guten Kilometer entfernt hatte. Er begriff nur ganz allmählich, warum er überhaupt noch am Leben war: Der Angriff hatte nicht ihm gegolten. Der Computer des Gleiters mußte eine lohnendere Beute erspäht haben.

Das riesige Fluggefährt wurde plötzlich langsamer, kippte über die linke Seite ab und begann, einen rasend schnellen Kreis über den Fluß zu drehen. Für einen Moment glaubte Jean, daß seine Besatzung endlich ihren Fehler bemerkt hatte und umkehrte, aber dann verharrte der Gleiter völlig reglos über der Flußmitte - und begann langsam und fast lautlos dem Ufer entgegenzusinken.

Jean begriff, daß ihm vielleicht doch noch eine letzte Chance blieb. Hastig, aber trotzdem sehr vorsichtig begann er wieder auf den Waldrand zuzukriechen. Die Entfernung betrug kaum fünf Meter. Aber Jean starb tausend Tode in den wenigen Sekunden, die er brauchte, um sie zurückzulegen. Er wagte es nicht einmal, den Kopf zu drehen, um wieder zum Gleiter hinüberzusehen.

Unbehelligt erreichte er den Waldrand und ließ sich mit einem erleichterten Seufzer hinter einen Busch sinken, den die Druckwelle des vorüberrasenden Gleiters halb aus der Erde gerissen hatte. Fast eine Minute lang blieb er einfach so liegen, atmete keuchend ein und aus und dachte an nichts anderes als daran, daß er noch einmal davongekommen war.

Nach einer Weile stemmte er sich auf Hände und Knie und kroch noch ein gutes Stück tiefer in den Wald hinein. Erst dann wagte er es, sich vorsichtig aufzurichten und wieder zum Gleiter hinüberzusehen.

Die riesige Flugscheibe schwebte reglos gute fünf Meter über dem Boden. Jean konnte eine Anzahl gelber und roter Lichter erkennen, die in unregelmäßigem Rhythmus auf ihrer Unterseite flackerten. Aber das grelle Laserfeuer, auf das er wartete, kam auch jetzt nicht.

Irgend etwas stimmt hier nicht, dachte Jean verblüfft. Noch während er verwirrt überlegte, entstand an der Unterseite der Flugscheibe ein schmaler Spalt, der sich lautlos zu einer hell erleuchteten, rechteckigen Öffnung weitete. Eine dünne Metallrampe schob sich heraus und berührte den Boden, und Augenblicke später marschierte ein Dutzend Ameisen aus dem Gleiter.

Jean duckte sich instinktiv tiefer hinter seiner Deckung, obwohl der Gleiter viel zu weit entfernt war, als daß die Ameisen ihn durch einen zufälligen Blick entdecken konnten. Die gigantischen Geschöpfe versammelten sich zu einem weit auseinandergezogenen Halbkreis am Ufer, während sich die Rampe wieder in den Gleiter zurückzog und die Tür geschlossen wurde. Augenblicke später begann das scheibenförmige Fluggerät wieder zu steigen. Verwirrt beobachtete Jean, wie der Gleiter langsam auf den Fluß hinaustrieb, sich langsam und völlig geräuschlos der Insel näherte - und hinter ihr verschwand!

Jean wartete fast eine Minute lang mit angehaltenem Atem darauf, daß er wieder auftauchte, ehe er begriff, daß das nicht geschehen würde. Der Gleiter hatte auf der Rückseite der Insel Stellung bezogen, um auf irgend jemanden zu warten.

Sie legen einen Hinterhalt, dachte Jean verblüfft. Aber wem? Was um alles in der Welt ging hier vor? In all den Jahren, die er jetzt heimlich hierherkam, hatte er niemals so etwas erlebt.

Galten diese Vorbereitungen den Fremden, die er beobachtet hatte?

Es schien Jean die einzig logische Erklärung, und trotzdem ergab sie einfach keinen Sinn, denn wenn es sich bei ihnen wirklich um die Herren der Jäger handelte - warum sollten die Ameisen ihnen dann eine Falle stellen?

Der Gedanke gefiel Jean nicht. Alles in ihm sträubte sich dagegen, aber es gab nur eine einzige Möglichkeit, die Antwort auf diese Frage zu finden. Zitternd vor Furcht löste er sich aus seiner Deckung und schlich auf die Stelle am Waldrand zu, an der die Ameisen verschwunden waren.

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