7


Sein Zeitgefühl war durcheinandergeraten. Er wußte nicht, ob eine Stunde oder ein Tag vergangen war, seit man ihn hierhergebracht hatte. In seinem Inneren tobte ein Sturm von Gefühlen, die ihm fremd waren, obwohl sie doch aus ihm selbst stammten. Aber sie kamen aus einem Bereich seiner Seele, von dessen Existenz er bisher nichts geahnt hatte, als wäre da eine Mauer in seinen Gedanken gewesen, eine unsichtbare Wand, die er bisher nie hatte überschreiten können und die nun Risse bekommen hatte. Was dahinter lag, wußte er nicht. Aber es erschreckte ihn.

Es war, als verfüge er plötzlich über zusätzliche Sinne; Sinne, die nicht den äußeren, sondern vielmehr den inneren Kosmos erforschten. All seine anderen, fast ins Unvorstellbare gesteigerten Sinne und Instinkte arbeiteten nach wie vor mit der gewohnten Präzision. Aber daneben begann er zu fühlen, was er fühlte, das war vornehmlich Schmerz; ein Schmerz, dessen wahren Grund er noch gar nicht kannte.

Kyle hörte die Schritte, die sich seiner Zelle näherten, Augenblicke, bevor sie die Tür erreichten. Langsam setzte er sich auf der schmalen, ungepolsterten Liege auf. Die dünnen, silberfarbenen Ketten bestanden aus einem Material, das selbst seinen Kräften standhielt. Er hatte ihnen gesagt, daß es nicht nötig war, ihn zu fesseln, aber natürlich hatten sie es trotzdem getan. Sie hatten ihn in diesen kleinen Raum mit Wänden und einer Tür aus Panzerstahl gebracht, der zudem von vier kleinen Kameras beobachtet wurde, die unter der Decke angebracht waren.

Auch diese Kammer verwirrte Kyle. Er war nie zuvor in seinem Leben in einem solchen Raum gewesen, aber es war zweifelsfrei ein Gefängnis, das ganz speziell für jemanden wie ihn ausgelegt war. Kyle fragte sich verwirrt, warum es hier ein Gefängnis für Megakrieger gab. War er nicht der erste, dessen Konditionierung durcheinandergeriet?

Die Tür öffnete sich vollends, und ein Megakrieger betrat den Raum. Rasch löste er Kyles Fesseln und trat einen Schritt zurück. Dann verließ er die Zelle und wandte sich nach rechts. Auf dem Gang wartete ein zweiter Megakrieger auf ihn. Es waren ältere, erfahrene Männer, keine halben Kinder wie die beiden, denen er im Wald begegnet war. Schweigend nahmen sie ihn in die Mitte und eskortierten ihn zu einer Liftkabine am Ende des Korridors.

Als die Türen wieder aufglitten, blendete helles, türkisgrünes Sonnenlicht Kyles Augen. Verwirrt registrierte er, daß er fast eine Sekunde brauchte, um sich auf die veränderten Lichtverhältnisse einzustellen. Er schien mehr und mehr seiner Anpassungsfähigkeit einzubüßen. Zumindest wußte er jetzt wieder, wo er sich befand. Vorbei an den drei riesigen, silber schimmernden Kuppeln des Trainingskomplexes bewegten sie sich auf den Turm zu, und nicht zum ersten Mal fragte er sich, welchen Zweck diese sonderbare Konstruktion ursprünglich gehabt haben mochte. Der Turm war über dreihundert Meter hoch; selbst neben den titanischen Halbkugeln der Trainingshalle wirkte er noch beeindruckend - zumal er eine Schöpfung der primitiven Eingeborenenrasse war, die diesen Planeten vor der Kolonisation beherrscht hatte.

Kyle hob unwillkürlich den Blick und versuchte, den massigen Körper der Königin unter seiner Spitze zu erkennen. Aber er sah nichts als ein dunkles Glitzern, von dem er nicht ganz sicher war, ob es von riesigen, kalten Insektenaugen stammte, die ihn voller Haß und Mißtrauen musterten.

Doch selbst wenn die Königin ihn sah, würde sie kaum wissen, wer er war. Außerdem würde es sie auch kaum interessieren. Sie hatte andere Dinge zu tun, als sich um einen einzelnen Megakrieger zu kümmern, dessen Konditionierung durcheinander geraten war.

Trotzdem ließ ihn der Gedanke nicht los, während er zwischen seinen Bewachern den langgestreckten Glaskomplex des Hauptquartiers ansteuerte. Er wußte, daß die Königin mehr war als die stumpfsinnige, riesige Gebärmaschine, als die sie einem Außenstehenden erscheinen mochte. Aber er hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, was sie wirklich war.

Sie betraten das Glaslabyrinth des Hauptquartiers und fuhren in einem Aufzug, dessen Wände ebenfalls aus Glas bestanden, zwei Etagen hinauf. Dann wurde er in einen weitläufigen, mit weißen und roten Kunststoffmöbeln ausgestatteten Raum geführt.

Kyle erstarrte, als er sah, wer dort auf ihn wartete. Vor dem Fenster an der gegenüberliegenden Wand standen drei Gestalten. Zwei davon ähnelten den Dienerkreaturen, die Captain Laird und ihre Freunde als Ameisen bezeichneten, nur daß ihr Panzer von einem harten, fast schon unangenehm anzuschauenden Weiß war. Nur ein einziges Mal hatte er einen der Inspektoren zu Gesicht bekommen; und zwar vor Jahren, als es einen Unfall in einer der Trainingskuppeln gegeben hatte und fast dreißig Novizen ums Leben gekommen waren.

Der Anblick der dritten Gestalt versetzte ihm einen Schock.

Es war Stone.

Der Planeten-Governor stand völlig reglos unter dem Fenster und sah Kyle an. Auf seinem Gesicht rührte sich nichts, aber Kyle spürte den Sturm von Gefühlen, der plötzlich in Stone losbrach. Dessen Puls- und Atemfrequenz verdoppelte sich fast. Hätte der Megamann nicht gewußt, daß es im Grunde unmöglich war, dann hätte er in diesem Moment geschworen, daß Stone kurz davor stand, vor lauter Angst den Verstand zu verlieren.

Und Kyle selbst ...

... spürte Haß.

Es war ein Gefühl, das ihm vollkommen fremd war.

Zorn, Ärger, Enttäuschung, ja sogar Wut - all das kannte er, wenn auch zumeist aus der Zeit, bevor er seine Ausbildung beendet hatte, aber er hatte niemals gewußt, was es hieß, einen Menschen zu hassen.

Jetzt spürte er es.

Der Mann auf der anderen Seite des Zimmers hatte versucht, ihn zu töten; er hatte ihn verraten und ihn schließlich gezwungen, den größten Frevel zu begehen, den ein Megakrieger begehen konnte.

Für einen winzigen Moment, nicht lange genug, als daß er wirklich die Beherrschung über sich verlieren konnte, aber entschieden zu lange, als daß er das Gefühl nicht in seiner ganzen, schrecklichen Tiefe auskostete, wünschte Kyle sich, Stone zu packen und umzubringen.

Die beiden Megakrieger mußten spüren, was in ihm vorging, denn sie hoben kampfbereit die Hände. Aber dann hatte sich Kyle wieder in der Gewalt und lächelte müde. »Es ist gut«, sagte er. »Ich werde ... nichts tun.«

Die beiden Megamänner entspannten sich ein wenig. Sie wußten, daß er die Wahrheit sagte, denn mehr als seine Worte verrieten ihnen die Reaktionen seines Körpers. Trotzdem blieben sie weiter aufmerksam, bereit, jederzeit einzugreifen, falls er doch die Kontrolle über sich verlieren sollte.

»Bringt ihn raus!« verlangte Stone.

»Das ist nicht nötig«, sagte Kyle ruhig. »Ich habe mich wieder in der Gewalt.«

»Ich traue ihm nicht«, beharrte Stone. »Er wird mich angreifen. Er hat sich meinen Befehlen schon einmal widersetzt.«

Kyle blickte Stone einen Moment lang durchdringend an, dann wandte er sich mit einem fragenden Blick an den Inspektor, der rechts neben Governor Stone stand; die winzige dunkelrote Tätowierung über seinem rechten Auge wies ihn als den ranghöheren der beiden Inspektoren aus.

»Ihr sollt ihn fortschaffen!« verlangte Stone erregt. »Ich ...«

»Schweigen Sie!«

Die Stimme des Inspektors klang kalt und metallisch. Es war nicht wirklich seine Stimme, sondern das synthetische Produkt eines winzigen Übersetzungscomputers, der in seinen Kehlkopf implantiert worden war.

»Es besteht keine Gefahr«, fuhr der Inspektor fort. »Seine Konditionierung macht es ihm unmöglich, Sie anzugreifen. Solange ihm dies nicht ausdrücklich befohlen wird.«

Stone sah die weiße Riesenameise einen Moment lang unsicher an. Aber dann nickte er und trat mit ärgerlichem Gesichtsausdruck ein Stück zurück.

Der Inspektor wandte sich an Kyle. Seine kalten Insektenaugen musterten ihn auf eine Art und Weise, die ihm sonderbar unangenehm war. Er hatte niemals Angst vor diesen Geschöpfen gehabt, aber jetzt begann er, in ihrer bloßen Nähe ein Unbehagen zu verspüren. Er veränderte sich. Etwas in ihm war dabei, sich zu verwandeln.

»Du kennst die erste und einzige Regel deiner Klasse?« begann der Inspektor.

Kyle nickte. »Keinem Megakrieger ist es erlaubt, nach Abschluß seiner Ausbildung jemals wieder nach Shai zurückzukehren.«

»Warum bist du dann hier?« fragte der Inspektor kalt.

»Es geschah nicht freiwillig.«

»Du willst damit sagen, daß es ein Unfall war?«

Kyle zögerte einen Moment. »Nein«, sagte er schließlich.

»Wie kam es dann dazu?«

Kyle war ein wenig verwirrt. Die Inspektoren mußten den Grund wissen. Zweifellos hatten sie mit Stone gesprochen. Konnte es sein, daß er ihnen die Unwahrheit gesagt hatte? Der Gedanke erschien Kyle fast lächerlich, und doch war er im Moment die einzige Erklärung für die sonderbaren Fragen.

»Warum antwortest du nicht?« fragte der Inspektor.

»Wahrscheinlich, weil er sich gerade eine plausible Erklärung zurechtlegt«, sagte Stone. Er deutete anklagend mit der Hand auf Kyle. »Warum redet ihr überhaupt mit ihm? Allein die Tatsache, daß er hier ist, beweist doch, daß er nicht mehr ordnungsgemäß funktioniert! Vernichtet ihn, bevor er noch mehr Schaden anrichtet!«

»Schweigen Sie, Governor Stone!« Die Stimme des Inspektors klang immer noch kalt und sachlich. Trotzdem glaubte Kyle plötzlich, einen drohenden Unterton zu vernehmen.

Einen Moment lang blickte die weiße Riesenameise Stone ausdruckslos an, dann drehte sie sich mit einem Ruck wieder zu Kyle herum und machte eine auffordernde Geste mit zwei ihrer vier Arme. »Also?«

»Ich wurde von Governor Stone in den Transmitter hineingestoßen«, antwortete Kyle.

»Das ist nicht wahr!« schrie Stone. »Er lügt!«

Der Inspektor beachtete seine Worte gar nicht. »Warum sollte Governor Stone so etwas tun?« fragte er den Megamann.

»Das weiß ich nicht«, antwortete Kyle. »Möglicherweise, um mich auf diese Art loszuwerden.«

Stone wollte abermals auffahren, aber diesmal brachte ihn der Inspektor mit einer herrischen Geste zum Verstummen, noch ehe er ein einziges Wort sagen konnte. »Erklären Sie, wie Sie zu dieser Vermutung gelangen«, sagte er.

»Mir sind gewisse Unregelmäßigkeiten aufgefallen«, begann Kyle. »Governor Stone verhält sich nicht so, wie man es von einem Mann in seiner Position erwartet. Ich glaube, daß er seine Macht ausnützt, um persönliche Vorteile zu erlangen; zum Nachteil seiner eigentlichen Aufgabe.«

»Das ist lächerlich«, sagte Stone.

Auch diesmal ignorierte der Inspektor Stones Einwurf und gab Kyle mit einer Handbewegung zu verstehen, daß er fortfahren sollte.

»Mein Auftrag war, Captain Charity Laird und ihre Begleiter einzufangen oder zu eliminieren, falls dies nicht möglich sein sollte. Ich stieß auf unerwartete Schwierigkeiten. Die mit dem Namen Charity Laird bezeichnete Planetengeborene erwies sich als sehr viel gefährlicher, als Governor Stone behauptet hatte.«

»Dieser Teil der Geschichte ist uns bekannt«, sagte der Inspektor. »Was wir nicht wissen ist, was im Inneren des Shai-Taan geschah.«

»Governor Stones Truppen eröffneten das Feuer auf mich«, antwortete Kyle.

»Sie hielten ihn für einen Eindringling«, verteidigte sich Stone. »Ihr Befehl lautete, jeden zu töten, der nicht ausdrücklich zum Betreten des Shai-Taan autorisiert ist. Es war nicht meine Schuld.«

Kyle sah Stone einen Herzschlag lang beinahe überrascht an. Er war jetzt vollkommen sicher, daß Stone log. War es bisher nur eine Vermutung gewesen, so wußte er jetzt, daß die Soldaten im Shai-Taan nicht zufällig, sondern auf Stones ausdrücklichen Befehl hin das Feuer auf ihn eröffnet hatten.

»Es gelang mir trotzdem, Captain Laird zu stellen«, fuhr er fort. »Aber da ich gleichzeitig gegen Stones Krieger kämpfen mußte, gelang es ihr und ihren Begleitern im letzten Moment, die Flucht zu ergreifen. Sie benutzten die gleiche Transmitterverbindung, über die ich hierhergekommen bin. Ich wollte ihnen folgen, erkannte aber im letzten Moment, auf welches Ziel der Transmitter justiert war.«

»Wieso haben die Soldaten Kyle angegriffen?« Der Inspektor wandte sich an Stone.

Der Governor zuckte trotzig mit den Achseln. »Wie ich schon sagte: Sie müssen ihn für einen Eindringling gehalten haben.«

»Sein Anzug sendet ein Erkennungssignal aus«, erklärte der zweite Inspektor.

Stone starrte ihn einen Moment lang fast haßerfüllt an.

»Vielleicht war er beschädigt«, erwiderte er. »Kyle war mehr tot als lebendig, als er das Shai-Taan erreichte. Sein Anzug hing in Fetzen. Vielleicht wurde das Signal nicht ausgestrahlt.«

»Sein Anzug sieht nicht sehr beschädigt aus«, antwortete der Inspektor.

»Verdammt! Sie wissen so gut wie ich, daß sich diese Dinger genauso regenerieren wie diese ... diese Ungeheuer«, antwortete Stone aufgebracht und deutete auf Kyle. »Ich weiß nicht, was passiert ist. Als er in die Halle stürmte, schoß er jedenfalls wie ein Wilder um sich. Ich fühlte mich selbst von ihm bedroht.«

Diesmal blickte der Inspektor Stone eine ganze Weile lang an. Und obwohl sein starres Chitingesicht gar nicht in der Lage war, irgendwelche Gefühle zu zeigen, glaubte Kyle zu spüren, wie wenig Glauben er Stones Worten schenkte. Aber er sagte nichts, sondern wandte sich schließlich wieder an Kyle und wiederholte seine auffordernde Geste.

»Als ich sah, auf welche Empfangsstation der Transmitter geschaltet war«, fuhr Kyle fort, »brach ich die Verfolgung ab. Governor Stone kam zu mir und forderte mich auf, Captain Laird zu folgen, aber ich erklärte ihm, daß das unmöglich sei.«

»Und dann?«

»Er stieß mich in den Transmitter«, sagte Kyle. »Ich war schwer verletzt und wurde von seinem Vorgehen völlig überrascht. Ich konnte nichts dagegen tun.«

»Aber das ist nicht wahr«, verteidigte sich Stone aufgebracht. »Ich wollte ihm aufhelfen, dabei muß er gestolpert sein.«

»Nach Ihrer Ankunft hier haben Sie zwei Soldaten und eine Priesterin getötet, Kyle«, fuhr der Inspektor fort, ohne Stones Einwand auch nur Beachtung zu schenken. »Warum?«

»Die Soldaten griffen mich an«, erklärte Kyle. »Ich mußte mein Leben verteidigen. Am Tod der Priesterin trifft mich nur indirekt die Schuld. Als sie erkannte, wer ich war, setzte sie ihrem Leben freiwillig ein Ende.«

»Und danach ließen Sie Charity Laird und ihre Begleiter entkommen«, sagte der Inspektor.

Kyle nickte. »Das stimmt«, antwortete er zögernd. »Ich ... war verwirrt. Ich wußte nicht mehr, was ich tun sollte. Die erste und einzige Regel war durchbrochen, und ich ... ich ...«

Er stockte, sah Stone und die beiden riesigen, weißen Ameisengeschöpfe fast verzweifelt an und wiederholte: »Ich war verwirrt.«

»Er lügt!« sagte Stone noch einmal. »Verdammt - begreift Ihr denn nicht? Der Kerl lügt mit jedem Wort! Er ist völlig außer Kontrolle geraten. Er steht auf ihrer Seite, nicht mehr auf unserer. Vernichtet ihn, ehe er uns alle umbringt!«

Die beiden Inspektoren antworteten nicht darauf, aber Kyle spürte ein neues, heftiges Aufwallen von Zorn. Erst jetzt fiel ihm auf, welche Worte Stone benutzte.

Er sprach über ihn wie über eine Maschine, ein Ding ohne Seele und Bewußtsein, nicht wie über einen Menschen. Aber das sind Sie, Kyle, hatte Captain Laird gesagt. Sie sind ein Mensch, und Sie werden es immer bleiben, ganz egal, was sie mit Ihnen gemacht haben.

»Du weißt, was du getan hast, Kyle?« fuhr der Inspektor nach einer sehr langen Pause fort.

Kyle nickte.

»Du dürftest nicht mehr am Leben sein. Es ist denkbar, daß deine Überlebensinstinkte alles andere unterdrückt haben, als du gegen die beiden Soldaten kämpfen mußtest. Aber danach hättest du dich selbst töten müssen. Warum hast du es nicht getan?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Kyle. Seine Stimme zitterte. »Ich ... ich weiß nicht ... was ... was mit mir geschieht«, murmelte er gequält.

»Deine Konditionierung wurde durchbrochen«, antwortete der Inspektor. »Das ist erstaunlich. Ein bisher einmaliger Vorgang. Wir werden ihn untersuchen müssen.«

»Ihr wollt ihn doch nicht etwa am Leben lassen?« ächzte Stone. »Ihr müßt verrückt sein! Ihr ... ihr wißt genau, wozu er in der Lage ist!«

»Etwas, das nicht geschehen kann, ist geschehen«, antwortete der Inspektor sachlich. »Seine Konditionierung wurde durchbrochen. Wir müssen herausfinden, wie das geschehen konnte.«

»Ja, falls er euch Zeit dazu läßt«, sagte Stone zornig.

Der Inspektor befahl ihm mit einer Geste zu schweigen und deutete dann wieder auf Kyle. »Wir werden dich untersuchen, Kyle. Deine Programmierung wird überprüft und wenn nötig erneuert. Über das, was vorher im Shai-Taan von Colorado geschah, wird später entschieden werden. Ebenso, wie über dein weiteres Schicksal.«


*


Es dauerte gute zwanzig Minuten, bis Barler kam. Charity und Jean versuchten in dieser Zeit mehrmals, ihren Bewachern zu erklären, wer sie war, aber die Männer hatten sie nicht verstehen wollen und lediglich drei weitere Pibikes losgeschickt, um Skudder und die beiden anderen abzuholen. Kurz bevor der Führer der Freien Zone in dem umgebauten Öltank erschien, kehrten sie zurück. Weder Skudder noch Net sagten auch nur ein einziges Wort, als sie von den Rädern gezerrt und zu Charity gebracht wurden, nur Gurk schimpfte ununterbrochen in seiner unverständlichen Muttersprache vor sich hin und warf Charity einen bitterbösen Blick zu.

Als Barler schließlich erschien, erkannte ihn Charity sofort, noch bevor Jean ihr seinen Namen zugeflüstert hatte. Der Franzose mochte ungefähr vierzig sein, er war fast so groß wie Skudder, aber weniger muskulös. Er hatte dunkles, kurzgeschnittenes Haar, nur auf der linken Seite des Kopfes prangte die unverwechselbare Narbe einer alten Laserverletzung. Außerdem zog er das linke Bein ein wenig nach.

Aber trotz dieser Behinderung strahlte er eine ungeheure Selbstsicherheit und Stärke aus. Als Barler sah, daß Charity und die drei anderen von fast zwei Dutzend schwer bewaffneten Männern bewacht waren, schürzte er rasch und abfällig die Lippen. Aber er sagte nichts, sondern trat auf Charity zu, maß sie mit einem langen, nicht unbedingt unfreundlichen Blick und fragte in beinahe akzentfreiem Englisch: »Wer zum Teufel sind Sie?«

Skudder wollte antworten, aber Charity trat rasch einen halben Schritt auf Barler zu. Sofort hob der Mann hinter ihm drohend sein Gewehr. Barler wandte den Kopf und schenkte ihm einen ärgerlichen Blick, worauf der Mann mit einer fast verlegenen Geste seine Waffe wieder senkte.

»Also?« wiederholte Barler. »Wer seid ihr? Und wo kommt ihr her?«

»Mein Name ist Laird«, antwortete Charity. »Captain Charity Laird, US Space Force.« Sie lächelte flüchtig, als sie Barlers Stirnrunzeln bemerkte. »Aber das wird Ihnen wohl kaum etwas sagen.«

»Was bringt Sie auf diesen Gedanken, Miss Laird?« antwortete Barler. Er seufzte und sah für einen ganz kurzen Moment fast bekümmert aus. »Ich weiß nicht, welchen Eindruck Sie bisher von uns bekommen haben«, sagte er, »aber ich fürchte, er ist nicht ganz richtig. Wir sind weder Trottel noch Wilde. Ich weiß sehr wohl, was die US Space Force ist. Und ich weiß auch«, fügte er nach einer kurzen, aber bedeutungsschweren Pause hinzu, »daß sie seit fast sechzig Jahren nicht mehr existiert.«

»Das stimmt«, antwortete Charity vorsichtig. »Ich bin irgendwie übriggeblieben, wissen Sie?«

In Barlers Augen blitzte es ärgerlich auf. »Hören Sie auf, Unsinn zu reden, Captain Laird«, sagte er scharf. »Wer sind Sie? Und was ist das für eine Geschichte, daß Jean Sie drüben im Dschungel getroffen hat?«

»Das ist die Wahrheit«, antwortete Charity. »Aber es läßt sich nicht so einfach erklären. Es ist eine ...« Sie zögerte. »... eine ziemlich lange Geschichte.«

Barler lächelte gequält. »Wir haben sehr viel Zeit«, antwortete er. »Und ich bin ein geduldiger Zuhörer.«

Charity seufzte. Sie hatte gewußt, daß es nicht leicht sein würde, die Bewohner der Freien Zone davon zu überzeugen, daß sie wirklich die waren, für die sie sich ausgaben. Und trotzdem war sie im Moment verwirrt. Barler war so ganz anders, als sie erwartet hatte. Sie spürte, wie zerbrechlich das Eis war, auf dem sie sich bewegte. Barler war zweifellos ein Mann von großer Intelligenz - aber er würde keine Sekunde zögern, sie erschießen zu lassen, wenn sie auch nur eine falsche Antwort gab.

»Also gut«, begann sie. »Mein Name ist Charity Laird, und ich stamme aus ...«

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