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Im ersten Moment vermochte Charity nicht zu sagen, wer überraschter war - sie, die Shai-Priesterin, die unter der aufgleitenden Tür erschienen war, oder die beiden Ameisen, die die alte Frau begleiteten.

Aber zumindest überwanden die beiden riesigen Insektengeschöpfe ihre Überraschung schneller als sie. Eine der beiden Ameisen stieß die Shai-Priesterin zu Boden und griff gleichzeitig mit ihren beiden übrigen Händen zu dem einzigen Kleidungsstück, das sie trug: einem schmalen Metallgürtel, aus dem die Kolben von gleich vier fremdartig geformten Waffen herausragten. Die andere stieß einen schrillen Pfiff aus und stürzte sich unverzüglich auf den ersten Gegner, den sie fand: Gurk.

Für eine Sekunde schien die Zeit stillzustehen. Charity sah und hörte alles gleichzeitig. Aber so absurd schnell und präzise ihre Sinneswahrnehmungen funktionierten, so absurd langsam reagierte ihr Körper auf ihre Befehle. Sie versuchte, sich zur Seite zu werfen und gleichzeitig Net und Skudder mit sich von den Füßen zu reißen, aber ihre Bewegungen kamen ihr so träge vor, als sei die Luft plötzlich zu einem zähen, unsichtbaren Sirup geronnen. Charity sah, wie die Ameise ihre beiden Waffen mit einer unglaublich schnellen Bewegung aus dem Gürtel riß und auf Skudder und sie anlegte, und sie wußte, daß sie abdrücken würde, ehe sie sich auch nur einen Zentimeter von der Stelle bewegt hatte. Großer Gott - sie hatte gewußt, daß diese Bestien schnell waren, aber nicht so schnell!

Was Skudder und ihr das Leben rettete, das war nicht ihre Reaktion. Es war der Megamann.

Er taumelte mit einem Schrei aus dem Transmitterkreis, scheinbar noch ehe sich sein Körper völlig stabilisiert hatte, eine geschwärzte, blutüberströmte, zerfetzte Gestalt mit verkohlten Stümpfen statt Händen, und stürzte sich unverzüglich auf Skudder.

Und im gleichen Augenblick, in dem die Ameise die Gestalt in dem zerfetzten, schwarzen Kampfanzug bemerkte, erstarrte sie mitten in der Bewegung.

Charity prallte gegen Net und riß sie mit sich von den Füßen; ihr ausgestreckter Arm streifte auch noch Skudders Schulter und wirbelte ihn herum. Aber nicht weit genug. Der Megamann packte ihn an Gürtel und Schulter, zerrte ihn wie eine Puppe in die Höhe, um ihn gegen die Wand zu schmettern. Skudder schrie und schlug mit beiden Fäusten um sich, aber der tobende Gigant schien die Hiebe nicht einmal zu spüren. Mit einer zornigen Bewegung hob er den Zwei-Meter-Riesen ohne sichtliche Anstrengung hoch über den Kopf - und erstarrte ebenfalls.

Für einen Moment trafen sich die Blicke des Megamannes und der Ameise, und Charity glaubte, in beiden das gleiche fassungslose Erstaunen, ja beinahe Entsetzen zu erkennen. Dann zischelte die Ameise wütend, schwenkte die beiden Waffen in ihren Händen herum und griff gleichzeitig mit den zwei verbliebenen Händen nach den beiden anderen Strahlern - und der Megamann schleuderte den brüllenden Hopi wie ein lebendes Geschoß auf die Insektenkreatur.

Das Geräusch, mit dem sie zusammenprallten, ließ Charity aufstöhnen. Skudders Anprall schleuderte die Ameise zurück in den Gang, aus dem sie hervorgekommen war. Zwei der vier Strahlenpistolen wurden ihr aus den Händen geschlagen, die dritte gab einen dünnen, giftgrünen Lichtblitz von sich, der zischend in die Decke fuhr und dort ein faustgroßes Loch hinterließ.

Skudder rollte hilflos über den Boden, prallte gegen die Wand und blieb stöhnend liegen, während der Megamann mit einem gewaltigen Sprung hinter der gestürzten Ameise hersetzte. Das Rieseninsekt versuchte, mit einer wirbelnden, verwirrenden sechsgliedrigen Bewegung auf die Füße zu kommen, aber so schnell es auch war, es hatte gegen diese unglaubliche, lebende Kampfmaschine nicht die Spur einer Chance.

Der Megamann erreichte sie, fegte den Arm, der den dritten Strahler hielt, mit einem Fußtritt beiseite und drehte blitzschnell den Oberkörper, als die Ameise mit der vierten verbliebenen Waffe auf ihn zielte. Der Laserstrahl brannte eine sengende Spur in seine Jacke, aber im gleichen Moment packte der Megamann zu, ergriff ihren Arm - und brach ihn in zwei Teile. Das stahlharte Chitin zersplitterte wie Glas in seinen Händen.

Die Ameise stieß ein hohes, schmerzerfülltes Pfeifen aus, versuchte sich taumelnd zu erheben und schlug blind vor Schmerz und Zorn um sich. Eine ihrer Krallen bohrte sich wie eine dreizinkige, hörnerne Gabel tief in die Schulter des Gegners. Der Megamann keuchte vor Schmerz, packte den dürren Arm und riß ihn ab.

Das war selbst für diese ungeheuerliche Kreatur zuviel. Die Ameise sackte zusammen und verendete lautlos. Der ganze Kampf hatte weniger als zwei, allerhöchstens drei Sekunden gedauert.

Charity plagte sich auf die Füße. Verzweifelt blickte sie sich um, als der Megamann den Kopf drehte und wieder zu ihr zurücksah. Sie brauchte eine Waffe, irgend etwas, womit sie diesen lebenden Kampfroboter aufhalten konnte!

Ein helles Kreischen ließ sie herumfahren.

Am anderen Ende des Raumes war Gurk damit beschäftigt, sich mit fast grotesken Sprüngen vor den zupackenden Armen der zweiten Ameise in Sicherheit zu bringen, die noch gar nicht bemerkt zu haben schien, was mit ihrem Kameraden passiert war. Der Zwerg legte eine erstaunliche Geschicklichkeit dabei an den Tag und entwischte der Ameise immer wieder. Aber das Rieseninsekt verfügte nicht nur über ein zusätzliches Armpaar, und damit gleich vier Hände, mit denen es nach Gurk greifen konnte, sondern auch über schier unerschöpfliche Kraftreserven. Das Monster trieb den Gnom langsam, aber unaufhaltsam vor sich her in eine Ecke des Raumes, wo es ihn in wenigen Sekunden packen mußte; wahrscheinlich, um ihn auf der Stelle in Stücke zu reißen!

Charity sprang mit einem verzweifelten Satz vor, packte das Monster dort, wo bei einem menschlichen Gegner die Schulter gewesen wäre, und warf sich mit aller Gewalt zurück. Ihre Körperkräfte reichten bei weitem nicht aus, es mit denen der gigantischen Insektenkreatur aufzunehmen, aber der Angriff kam völlig überraschend.

Sie stürzte und verlor an der glatten Chitinhaut der Ameise fast den Halt, aber der Ruck reichte aus, auch das Ungeheuer zurückzureißen und taumeln zu lassen. Gurk stieß ein helles Quieken aus und tauchte unter den wirbelnden Klauen des Monsters hinweg, um mit ein paar überraschend behenden Sätzen das Weite zu suchen, während Charity hilflos zu Boden stürzte und sah, wie die riesige Bestie herumfuhr und alle vier Arme nach ihr ausstreckte. Instinktiv rollte sie sich zur Seite und riß schützend die Hände über das Gesicht, bevor stahlharte Insektenklauen tiefe Furchen genau dort in den Boden rissen, wo gerade noch ihr Kopf gelegen hatte.

Sie sah einen zweiten Schlag des Ungeheuers aus den Augenwinkeln und blockte ihn mit dem Unterarm ab. Die dreifingrige Klaue mit den fast fünf Zentimeter langen, messerscharfen Krallen wurde eine knappe Handbreit vor ihrem Gesicht gestoppt; aber der Schlag war so heftig, daß er alles Gefühl und Leben aus ihrem rechten Arm herausprügelte. Charity keuchte vor Schmerz, trat instinktiv mit beiden Beinen zu und fühlte, wie ihr Schlag vom gepanzerten Körper der Ameise abprallte wie von einem Felsen. Das Monster zischelte triumphierend, war mit einem einzigen, ruckhaften Insektenschritt über ihr und holte zum letzten entscheidenden Hieb aus.

Doch plötzlich war ein riesiger Schatten hinter ihm. Ein verstümmelter, blutiger Arm legte sich von hinten um den Hals der Ameise und riß sie mit einer Gewalt zurück, der selbst diese ungeheuerliche Kreatur nichts entgegenzusetzen hatte. Charity hörte ein trockenes Knacken, als der Chitinpanzer des Rieseninsektes barst, und das triumphierende Zischeln des Ungeheuers verwandelte sich in ein schmerzhaftes Kreischen und Pfeifen.

Der Megamann verpaßte der Ameise drei blitzartige Fausthiebe, die sie hilflos zurück und gegen die Wand torkeln ließen. Mit einer kraftvollen Bewegung setzte er ihr nach, ließ seine stahlharten Fäuste auf ihren Schädel niedersausen. Das Ungeheuer gab einen letzten, fast wehleidigen Pfiff von sich, dann erschlafften seine Glieder, und es sackte zusammen wie eine Marionette mit zu vielen Armen und Beinen, deren Fäden alle auf einmal durchgeschnitten worden waren.

Eine Sekunde lang stand der Megamann reglos da. Er wankte, seine Arme und Beine begannen zu zittern, dann machte er einen einzelnen, mühevollen Schritt, prallte gegen die Wand und begann, daran zu Boden zu sinken, während er sich langsam herumdrehte. Sein Gesicht war eine verzerrte Maske aus Schmerz und Panik, und er blutete aus mindestens einem halben Dutzend tiefer Wunden, von denen jede einzelne einen normalen Menschen getötet hätte. Sein Blick flackerte, als kämpfe das Leben darin mit aller Macht darum, nicht zu erlöschen.

Und eine Sekunde lang sah Charity seine Augen.

Dieser Mann war ihr Feind, dachte sie fast hysterisch. Der gefährlichste Gegner, mit dem sie es je zu tun gehabt hatte, ein lebender Roboter, den Stone auf sie und ihre Begleiter angesetzt hatte und der sie wahrscheinlich bis ans andere Ende der Galaxis verfolgen würde, wenn es nötig wäre. Kein Mensch, sondern eine Maschine, deren einzige Aufgabe darin bestand zu töten.

Und trotzdem las sie in seinem Blick weder Feindschaft noch Zorn, nicht einmal die kalte, fast maschinenhafte Entschlossenheit, die er bisher an den Tag gelegt hatte, sondern nur einen Schmerz, der viel tiefer ging, als körperliche Pein es vermochte.

Dieser Mann war ein Verlorener, dem etwas gestohlen worden war, etwas ungeheuer Wichtiges, vielleicht das einzige, woran er je geglaubt hatte. Als er aus dem Transmitter herausgetaumelt war, da hatte sie nichts als Angst gespürt, wenn er auch keinen Moment gezögert hatte, sich sofort auf Skudder zu stürzen und ihn mühelos überrannt hatte. Aber Charity war plötzlich nicht mehr sicher, ob sie Angst vor diesem Mann haben mußte. Trotz seines entsetzlichen Zustandes war er noch immer in der Lage, aufzustehen und sie zu töten, mit der gleichen Leichtigkeit, mit der er die beiden Rieseninsekten überwunden hatte.

Aber irgend etwas hielt ihn zurück. Irgend etwas, das ...

Ein dünner, grellweißer Lichtblitz traf die Brust des Megamannes. Der Megakrieger bäumte sich auf und kippte mit einem keuchenden Schrei nach vorne, als der Laserstrahl seinen Körper durchbohrte und seine gesamte Energie schlagartig in die hinter ihm befindliche Wand abgab. Der Stein begann dunkelrot zu glühen, und aus dem Rücken der zerfetzten schwarzen Jacke des Megamannes schlugen Flammen. Er stürzte vornüber, wälzte sich stöhnend auf den Rücken, um die Flammen zu ersticken - und bäumte sich erneut auf, als ein zweiter Laserblitz seinen Körper traf.

Charity war mit einer einzigen Bewegung auf den Beinen. Abn El Gurk stand nur zwei Meter hinter ihr. Er hatte eine der Strahlenwaffen aufgehoben, die der Megamann den Ameisen aus den Händen geschlagen hatte, und richtete sie gerade auf den Gestürzten, um einen dritten Schuß abzugeben.

»Nein!«

Der Gnom beachtete sie nicht einmal. Er spreizte die Beine und packte den Laser mit beiden Händen, um besser zielen zu können; eine Haltung, die er wahrscheinlich an ihr beobachtet hatte. Der Ausdruck auf seinem faltigen Zwergengesicht verriet puren Haß. Und während er die Waffe hob und gleichzeitig einen Schritt beiseite trat, um sie selbst nicht zu gefährden und freies Schußfeld auf den Megamann zu haben, ging eine lautlose, erschreckende Veränderung mit ihm vor: Er war noch immer ein Zwerg mit einem viel zu großen Kopf, dürren Händen und einem Gesicht, das direkt aus einem Comic hätte stammen können. Aber aus dem gutmütigen, stets zu Scherzen aufgelegten Gnom war plötzlich ein häßlicher Troll geworden, der nur einen Wunsch hatte: zu töten.

Charity trat mit einem blitzartigen Schritt zwischen ihn und den gestürzten Megakrieger.

Gurk riß mit einem Fluch die Waffe hoch und funkelte sie an. »Was soll das?« schnappte er. »Bist du verrückt geworden?«

Statt zu antworten, entriß ihm Charity kurzerhand die Waffe. Gurks Augen weiteten sich, und für einen winzigen Moment loderte dieser böse, durch nichts zu besänftigende Haß noch einmal in seinem Blick auf; diesmal galt er niemand anderem als ihr.

»Was soll das?« wiederholte er krächzend. »Wir müssen ihn töten! Wenn er wieder zu sich kommt, wird er uns alle umbringen!«

Charity sah über die Schulter zu dem gestürzten Megamann zurück. Er regte sich nicht mehr, aber unter seinem Körper bildete sich allmählich eine dunkle, größer werdende Lache. Und trotzdem wirkte er noch gefährlich.

Gurk hob fast flehend die Hände. »Töte ihn!« sagte er verzweifelt. »Oder gib mir die Waffe und laß mich es tun, wenn du es nicht kannst! Bring ihn um, Charity, oder er wird uns umbringen!«

Charity sah den Zwerg eine Sekunde lang kopfschüttelnd an, dann drehte sie sich herum, tauschte einen raschen Blick mit Net, die sich auf die Knie und einen Arm erhoben hatte, und warf ihr die Waffe zu. Wahrscheinlich begriff Net in diesem Moment nicht einmal, was sie damit sollte; aber sie fing den Strahler ganz instinktiv auf und richtete ihn auf den reglos daliegenden Körper des Verfolgers.

»Paß auf ihn auf«, sagte Charity. »Wenn er Dummheiten macht, dann erschieß ihn.«

Net nickte verwirrt, und in Gurks Augen erschien ein fragender, fast lauernder Ausdruck, als wäre er nicht ganz sicher, wen Charity mit diesem Befehl gemeint hatte.

Charity lief zur Tür. Mit einem einzigen raschen Blick überzeugte sie sich davon, daß die Shai-Priesterin, die die Ameise zu Boden gestoßen hatte, im Moment keine Gefahr darstellte: Sie lag gegen die Wand gelehnt und war bei Bewußtsein, aber ihr Gesicht war erstarrt und der Blick ihrer weit aufgerissenen, glasigen Augen leer, Charity bezweifelte, daß sie überhaupt begriffen hatte, was hier vorging.

Sie gab Net mit einem Blick zu verstehen, auch auf sie zu achten, und ging zu Skudder hinüber.

Der Hopi-Indianer erwachte stöhnend, als Charity sich über ihn beugte. Er hatte keine sichtbaren Verletzungen davongetragen; nur aus einer dünnen Platzwunde über seinem linken Auge sickerte ein wenig Blut. Aber Charity hatte den fürchterlichen Laut nicht vergessen, mit dem er gegen die Ameise geprallt war.

Hastig ließ sie sich auf die Knie herabsinken, drückte Skudder mit sanfter Gewalt zurück auf den Boden und tastete seinen Körper ab. Skudder verzog ein paarmal schmerzhaft das Gesicht, aber sie fühlte keine Brüche oder schwerere Verletzungen unter dem zerschrammten Leder seiner Shark-Montur.

»Kannst du die Beine bewegen?« fragte sie.

Skudder nickte, zog die Knie ein wenig an den Körper und streckte die Beine rasch wieder aus. Sein Gesicht verzerrte sich. »Ja«, stöhnte er, »aber es tut verdammt weh.«

Charity lächelte. »Ich dachte immer, ein Indianer spürt keinen Schmerz?« fragte sie.

Skudder stöhnte auf, wälzte sich mühsam auf die Seite und versuchte, sich taumelnd auf die Knie und einen Arm hochzustemmen. »Das ist mir neu«, preßte er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Aber ich werde es mir für das nächste Mal merken.«

Charity half Skudder dabei, sich mühsam zu erheben, und trat einen halben Schritt zurück, wobei sie ihn aber aufmerksam im Auge behielt.

Skudder schloß noch einmal die Augen. Aber sie konnte direkt sehen, wie er sich erholte. Abgesehen von dem Megamann, der vermutlich kein Mensch war, war Skudder der stärkste Mann, dem sie jemals begegnet war.

»Alles okay?« fragte sie noch einmal.

Skudder öffnete die Augen, blickte sie einen Moment forschend an und sah dann mit einem schmerzerfüllten Lächeln auf seine Hände herab. »Nein«, antwortete er. »Ich glaube, ich habe mir einen Fingernagel abgebrochen.«

Charity lachte erleichtert, drehte sich herum und ging wieder zu der Shai-Priesterin zurück.

Die alte Frau saß in der gleichen, erstarrten Haltung da, in der sie sie zurückgelassen hatte. Ihr Gesicht war bleich, und ihre Lippen zitterten, als versuche sie vergeblich, zu sprechen. Charity berührte sie an der Schulter, bewegte die andere Hand vor ihrem Gesicht hin und her und registrierte ohne sonderliche Überraschung, daß ihr Blick der Bewegung nicht folgte. Dabei war sie sicher, daß sie nicht verletzt war. Mit dieser Frau war etwas geschehen, das Charity erschreckte, obwohl oder vielleicht gerade weil sie es nicht verstand. Sie hatte einen Schock erlitten, von dem sie sich vielleicht nie wieder erholen würde, und das war nicht allein mit ihrem plötzlichen Auftauchen oder dem Kampf zu erklären, der zwischen ihnen und den beiden Ameisen entbrannt war.

Sie stand wieder auf und deutete mit einer befehlenden Geste auf Gurk. »Kümmere dich um sie«, sagte sie. »Versuche, sie irgendwie wach zu bekommen. Wir müssen mit ihr reden.«

Der Zwerg starrte sie einen Moment lang fast trotzig an, dann murmelte er ein einzelnes, abgehacktes Wort in einer Sprache, die Charity nie zuvor gehört hatte, und bewegte sich mit provozierender Langsamkeit auf die alte Frau zu. Charity schluckte die ärgerliche Bewegung auf Gurks unverständliche Antwort herunter und ging zu Net und dem Megamann zurück.

Die junge Wasteländerin war neben dem gestürzten Megakrieger niedergekniet. Ihr Gesicht verriet das Entsetzen, mit dem sie der Anblick des verstümmelten, blutenden Körpers erfüllte. Aber sie hielt die Waffe, die Charity ihr zugeworfen hatte, noch immer auf die Stirn des Bewußtlosen gerichtet.

Vorsichtig beugte sich Charity über den Megakrieger. Er lebte noch. Aller Logik zum Trotz bewegte sich die Brust unter der verkohlten, schwarzen Jacke in langsamen, schweren Stößen. Die meisten seiner Wunden hatten aufgehört zu bluten, einige wirkten schon nicht mehr so gefährlich wie noch vor Augenblicken.

Sie sah auf, als Skudder ihr eine Waffe reichte. Offensichtlich hatte er die Strahler der Ameisen eingesammelt, denn er trug eine zweite der kleinen, bizarr geformten Pistolen in der rechten Hand. Charity nahm die Waffe entgegen, wollte sie instinktiv in die Tasche schieben und entschied sich dann, sie in der Hand zu behalten, obwohl sie wußte, daß ihr dieser Strahler herzlich wenig nützen würde, wenn das Geschöpf zu ihren Füßen die Augen aufschlug und sich entschloß, weiterzuleben.

»Ist er tot?« fragte Skudder.

Charity schüttelte den Kopf. »Nein«, antwortete sie. »Ich verstehe das nicht, aber er ... er lebt.«

»Und das wird er auch weiterhin, wenn du noch lange genug herumtrödelst«, mischte sich Gurk giftig ein. »Verdammt noch mal, töte ihn! Versuche es wenigstens - ich weiß nicht einmal, ob es jetzt noch geht.«

Charity beachtete ihn nicht. Gurk hatte vermutlich recht. Es war vielleicht ihre letzte Chance. Sie hatte gesehen, wozu dieses Geschöpf imstande war. Der scheinbar tödlich verwundete Mann vor ihr war kein Mann, sondern eine Ein-Mann-Armee, die Skudder, Net, Gurk und sie im Bruchteil eines Augenblicks überwältigen konnte, wenn sie erst wieder erwachte. Sie war nicht einmal sicher, ob man dieses Geschöpf überhaupt töten konnte.

Und sie wollte es auch gar nicht.

Skudder sah sie fragend an und hob die Hand mit der Waffe. Charity schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie leise.

Skudder antwortete nicht, sondern zuckte nur unmerklich mit den Achseln und senkte den Arm wieder. Auch Net blickte sie verblüfft an, schwieg aber.

Nur Gurk fuhr fort zu lamentieren: »Ich habe gleich gewußt, daß es Wahnsinn ist, sich mit euch einzulassen! Ihr seid ja verrückt!«

»Bitte, Gurk, halt den Mund«, sagte Charity. Ihre Stimme klang ruhig, fast müde, aber vielleicht war es gerade dieser Ausdruck, den Gurk zum Verstummen brachte. Der Zwerg blickte sie weiter vorwurfsvoll an, aber er sagte nichts mehr, sondern drehte sich schließlich wie ein trotziges Kind herum und wandte sich der Shai-Priesterin zu.

»Was tun wir jetzt mit ihm?« fragte Skudder nach einer Weile. Er deutete fragend auf den Megamann herab, dann in Worte meinte. Trotzdem lag in seinem Blick nicht die mindeste Spur von Furcht, sondern lediglich ein mildes, spöttisches Glitzern. Charity fragte sich, ob Gurk nicht vielleicht recht gehabt hatte. Sie war sehr sicher, daß nicht einmal dieser Megamann es überleben würde, wenn sie alle drei aus allernächster Entfernung auf ihn schössen - aber sie war plötzlich ganz und gar nicht mehr sicher, daß sie es konnten, wenn er sich entschloß, etwas dagegen zu unternehmen. Sie hatte mit eigenen Augen gesehen, wie unglaublich schnell dieser Mann war.

»Okay«, sagte Charity nach kurzem Überlegen. »Können Sie aufstehen?«

»Ja«, antwortete der Megamann. Seine Stimme überraschte Charity. Sie klang sanft, fast wie die eines Kindes oder einer jungen Frau, aber trotz seines beeindruckenden Äußeren und der mächtigen Muskelstränge, die sich jetzt wieder unter seiner schwarzen Jacke wölbten, paßte sie auf sonderbare Weise zu ihm; zumindest zu seinen Augen. Ihr Blick irritierte Charity. Das waren nicht die Augen eines Killers ...

»Gut«, sagte Charity. »Dann hören Sie zu. Wir hätten Sie töten können, das wissen Sie.«

»Ja.«

»Ich habe es nicht getan«, fuhr Charity fort. »Ich weiß selbst nicht so genau, warum, aber ich glaube, daß es richtig war. Sie haben die Wahl: Wir können Sie auf der Stelle erledigen, oder Sie versprechen uns, keine Dummheiten zu machen, und begleiten uns.«

Diesmal antwortete der Megamann nicht. Aber in den Spott in seinem Blick mischte sich eine leise Verwunderung.

»Ich verlange nicht, daß Sie sich auf unsere Seite schlagen«, fuhr Charity fort. »Alles, was ich will, ist, mit Ihnen zu reden. Wenn Sie mit uns kommen und mir versprechen, uns eine Stunde Vorsprung zu geben, dann lassen wir Sie am Leben.«

Gurk kreischte vor Entsetzen und begann wieder, in seiner fremden, fast lächerlich klingenden Sprache zu lamentieren. Aber Charity beachtete ihn gar nicht. Aufmerksam sah sie den Megamann an, der ihren Blick einige Sekunden lang ruhig erwiderte und anscheinend über ihren Vorschlag nachdachte. Dann nickte er. »Ich bin einverstanden.«

»Glaubt ihm nicht«, kreischte Gurk. »Der Kerl lügt! Der ganze Kerl ist eine einzige, lebende Lüge!«

Charity schenkte ihm einen Blick, der den Gnom abrupt verstummen ließ, und wandte sich noch einmal an den Megamann.

»Wie ist Ihr Name?« fragte sie.

»Kyle«, antwortete der Megakrieger. »Man nennt mich Kyle.«

»Also gut, Kyle«, sagte Charity. »Ich habe Ihr Ehrenwort. Eine Stunde - sobald wir hier heraus sind.«

Sie richtete sich auf und wich rasch zwei Schritte zurück, und auch Skudder und die Wasteländerin brachten fast hastig dieselbe Entfernung zwischen sich und den Megamann, als der Krieger aufzustehen begann.

Er bewegte sich sehr langsam und unsicher. Der Regenerierungsprozeß seines Körpers schien zwar abgeschlossen zu sein, aber seine Kräfte waren noch lange nicht wiederhergestellt. Charity registrierte dies mit einem Gefühl absurder Erleichterung. Offensichtlich waren selbst diesem unglaublichen Lebewesen Grenzen gesetzt.

Sie sah den Megamann noch einen Moment lang prüfend an, dann senkte sie die Hand, die die Waffe hielt, und streckte den Strahler schließlich unter ihren Gürtel. Skudder riß verblüfft die Augen auf, und auch Net starrte sie ungläubig an. Aber Charity schüttelte nur den Kopf. »Steckt die Dinger ein«, sagte sie. »Er wird sein Wort halten.«

»Das werde ich«, fügte Kyle hinzu. »Davon abgesehen - sie würden euch ohnehin nichts nützen.«

Er sprach ganz ruhig, ohne eine Spur von Herablassung in seiner Stimme.

»Sie müssen sie sichern«, sagte Kyle plötzlich.

Charity blickte ihn verständnislos an, und der Megamann hob die Hand und deutete auf den Strahler in ihrem Gürtel. »Der blaue Schalter unter dem Griff. Schieben Sie ihn nach hinten. Es sei denn, Sie wollen sich das Bein abschießen, wenn Sie aus Versehen an den Abzug geraten.«

Charity zog fast hastig die Waffe wieder aus ihrem Gürtel hervor, drehte sie herum und entdeckte den winzigen blauen Schieberegler unter dem Griff; an einer Stelle, an der er für eine menschliche Hand fast unerreichbar war, wenn sie diese Waffe normal hielt. Rasch schob sie ihn zurück und steckte den Strahler wieder ein. Und auch Net und Skudder taten es ihr nach kurzem Zögern gleich.

»Was machen wir mit ihr?« fragte Skudder mit einer Geste auf die Shai-Priesterin.

Charity überlegte einen Moment. Sie konnten die alte Frau unmöglich hier zurücklassen; sie hatte jedes Wort gehört, und Charity war ziemlich sicher, daß die Moroni Mittel und Wege kannten, Informationen aus einem Menschen herauszuholen, ganz gleich, in welchem Zustand er sich im Moment befand. Aber sie konnten sie auch nicht mitnehmen.

»Ich kann ihr Gedächtnis blockieren«, sagte Gurk. »Allerdings nicht für lange.«

Charity blickte den Zwerg überrascht an und fügte der langen Liste von Fragen, die sie ihm stellen wollte, einige weitere hinzu. Aber sie sagte nichts, sondern nickte nur, und Gurk beugte sich über die Shai-Priesterin und streckte die Hände nach ihren Schläfen aus.

»Laß das!«

Gurk erstarrte mitten in der Bewegung, und auch Skudder und Charity sahen überrascht auf. Der Megamann drehte sich mit mühsamen, kleinen Bewegungen herum und hob die Hand.

»Rühr sie nicht an!« sagte er scharf.

Gurk starrte ihn haßerfüllt an, wagte es aber nicht, die Bewegung zu Ende zu führen, und der Megamann trat mit schleppenden Schritten auf Gurk und die alte Frau zu. Abn El Gurk blickte ihm wütend entgegen, als Kyle näher kam und sich schließlich neben der Priesterin herabsinken ließ. »Rühr sie nicht an«, sagte er noch einmal. »Sie wird uns nicht verraten.«

Beim Klang seiner Stimme geschah etwas Sonderbares. Ein Zucken lief über das Gesicht der Shai-Priesterin. Ihre Augen verloren den glasigen Ausdruck, den sie die ganze Zeit über gehabt hatten, und sie hob langsam den Kopf und sah Kyle an.

Charity begriff, was geschah, bevor es wirklich passierte. Aber sie war viel zu verblüfft, um zu reagieren. Und vermutlich hätte es auch gar nichts gegeben, was sie hätte tun können.

Die Verblüffung im Blick der alten Frau machte einem jähen Entsetzen Platz. Ihre Augen weiteten sich, und plötzlich stieß sie einen gellenden Schrei aus und schlug Kyles Hände beiseite. Noch immer schreiend sprang sie auf, schlug in blinder Panik nach Kyle und taumelte an ihm vorbei. Der Megamann versuchte, sie zurückzuhalten, aber er bekam nur einen Ärmel ihres Gewandes zu fassen, der unter seinen Händen zerriß, als die Priesterin schreiend weitertaumelte.

Kyle versuchte, ihr nachzusetzen, aber seine Kräfte versagten. Er verlor die Balance und stürzte zu Boden. Auch Charity und Net versuchten, der alten Frau den Weg zu verstellen. Die Priesterin wich Net mit einem blitzschnellen Schritt zur Seite aus, und als Charity sie an den Schultern packen und herumreißen wollte, verpaßte sie ihr einen überraschend harten Schlag, der sie taumeln ließ.

Skudder stieß einen Fluch aus und rannte los. Und die Shai-Priesterin blieb abrupt stehen. Sie schrie noch immer, aber ihre Stimme hatte jetzt eine fast unmenschliche Tonlage erreicht. Speichel lief aus ihrem Mund, und ihr Gesicht war verzerrt. Sie sah wie eine Wahnsinnige aus. Gehetzt blickte sie sich um, begriff, daß ihr kein Ausweg mehr blieb - und stürzte in die einzige Richtung, aus der sich niemand auf sie zubewegte: zum Transmitter!

Kyle stieß einen erschrockenen Ausruf aus und versuchte, sich aufzurichten. Aber selbst wenn er die Kraft dazu gehabt hätte, wäre seine Bewegung zu spät gekommen. Die alte Frau erreichte den schimmernden Metallring und warf sich mit weit ausgebreiteten Armen hinein. Für einen Augenblick schien ihr Körper schwerelos im Nichts zu hängen, dann verlor er Farbe und Tiefe, wurde transparent - und verschwand.

Kyles Schreckensschrei wurde zu einem entsetzten Keuchen. Er sackte zurück, schlug die Hände vor das Gesicht und stöhnte leise.

»Verdammt!« sagte Skudder. »Das hätte nicht passieren dürfen!«

Er fuhr herum und blickte wütend auf den Megamann herab. »Wohin führt dieser Transmitter?« herrschte er ihn an.

Kyle sah zu dem Hopi auf. Sein Gesicht verriet kein Gefühl.

Aber plötzlich glaubte Charity, wieder dieses tiefe, grenzenlose Entsetzen in seinen Augen zu lesen.

»Nirgendwohin«, antwortete er leise.

Skudder machte eine ärgerliche Handbewegung. »Was soll das heißen - nirgendwohin?«

»Es ist nur ein Empfänger«, murmelte Kyle. »Das hier ist Shai. Ein Ort, in den nur Wege hineinführen. Keine hinaus.«

Der Hopi blickte Kyle weiter verständnislos an, während Charity abermals ein eisiges Entsetzen fühlte, als sie begriff, was die Worte des Megamannes bedeuteten.

»Du meinst, es ... gibt keinen ... keinen zweiten Empfänger?« vergewisserte sie sich.

Kyle schüttelte den Kopf. »Nein«, murmelte er. »Der Transmitter führt ... nirgendwohin.«

»Soll das heißen, daß sie tot ist?« fragte Skudder.

Kyle nickte, ohne ihn anzusehen.

»Er lügt!« quengelte Gurk. »Glaubt ihm kein Wort!«

»Wenn du so sicher bist, Knirps«, sagte Net freundlich, »dann sollten wir dich vielleicht hinterherwerfen, damit du nachsiehst, was auf der anderen Seite wirklich ist.« Was natürlich nicht ernst gemeint war - aber es reichte, Gurk endgültig zum Verstummen zu bringen. Er zog eine Grimasse, streckte der Wasteländerin die Zunge heraus und verschränkte trotzig die Arme vor der Brust.

»Also los«, sagte Skudder, »verschwinden wir von hier.«

Sie halfen Kyle dabei, aufzustehen. Seine Haut fühlte sich sehr weich an, fast schwammig. Gleichzeitig war sie so heiß, daß ihre Berührung beinahe schon weh tat. Offensichtlich war der unheimliche Heilungsprozeß seines Metabolismus nur äußerlich abgeschlossen. Charity fragte sich flüchtig, was ein Biologe des 20. Jahrhunderts wohl dafür gegeben hätte, diesen Mann auch nur für eine Stunde unter seine Röntgengeräte und Scanner zu bekommen. Wahrscheinlich hätte er schlichtweg den Verstand verloren, wäre es ihm gelungen.

Sie warf einen nachdenklichen Blick auf die Tür, durch die die Ameisen und die Priesterin hereingekommen waren. Der Gang war noch immer leer. Sie hätte eine Menge darum gegeben, einen Blick hinter eine der zahllosen anderen Türen zu werfen, die von dem schlecht beleuchteten Korridor abzweigten. Dieses war aber ganz eindeutig ein von Menschen erbautes Gebäude und doch ... Sie fühlte wieder dieses unheimliche Schaudern, das sie jedesmal überkam, wenn sie sich den Wesen oder Maschinen von Moron näherte. Sie wandte sich rasch ab.

»Also los.« Sie deutete auf Kyle. »Du gehst voraus.«

Der Megamann nickte. Die kränkliche Blässe seiner Haut schien noch zuzunehmen, als er durch die niedrige Tür ging und in das unheimliche, türkisfarbene Licht dieses falschen Himmels geriet. Charity sah, wie Gurk hinter den Megamann treten wollte, und verstellte ihm mit einem raschen Schritt den Weg. Ungeachtet der Tatsache, daß sie sich fast ununterbrochen stritten, genoß der Zwerg ihr uneingeschränktes Vertrauen. Aber im Augenblick hätte es sie nicht sehr überrascht, hätte er ihren Befehl schlichtweg mißachtet und Kyle bei der ersten sich bietenden Gelegenheit in die Tiefe gestoßen.

Die Tür führte auf die Überreste eines kleinen Balkons hinaus, der vor Urzeiten einmal ein Geländer gehabt haben mochte, jetzt aber an drei Seiten von nichts anderem als grün leuchtender Luft eingerahmt wurde. Eine schmale, rostige Metalltreppe führte in die Tiefe. Als dieses Haus noch ein Haus und keine Ruine gewesen war, mußte es sich wohl um eine Feuertreppe gehandelt haben. Die altersschwache Konstruktion ächzte und wankte bedrohlich unter ihrem Gewicht, und mehr als einmal mußten sie haarsträubende Klettereien über ein Gewirr aus zerborstenen, halb zerschmolzenen und halb durchgerosteten Stahltrümmern hinter sich bringen. Sie kamen an mehreren Balkonen vorbei, deren Türen offenstanden oder gar nicht mehr vorhanden waren. Charity warf neugierige Blicke ins Innere des Hauses. Die meisten Räume waren leer, voller Staub und Unrat. Aber hinter einigen gewahrte sie auch fremdartige Konstruktionen, Errungenschaften einer Technik, die ihr vollkommen fremd waren und deren bloßer Anblick sie mit Unbehagen und Furcht erfüllte.

Endlich hatten sie die Straße erreicht und blieben keuchend stehen, um wieder Atem und Kraft zu schöpfen. Selbst Skudder wankte vor Müdigkeit, und Kyle taumelte kraftlos gegen eine Wand und sackte langsam zu Boden.

Charity blickte sich schaudernd um. Das Licht war hier am Grunde der grün-violett überwucherten Straßenschlucht merklich dunkler, und die falschen Farben und die Düsternis füllten die Ruinen und den fremdartigen Dschungel mit Bewegungen, die nicht wirklich existierten. Selbst aus der Nähe betrachtet, waren die Häuser zum Teil kaum noch als das zu erkennen, was sie einmal gewesen waren. Überall bedeckten Pflanzen als dünne, aber fast lückenlose Decke den Boden. Es gehörte nicht sehr viel Phantasie dazu, sich vorzustellen, daß sie sich wirklich in einer fremden Welt befanden. Und im Grunde war es auch so. Dieser Planet hatte kaum mehr Ähnlichkeit mit der alten, vertrauten Erde. Welcher Natur die Veränderung auch immer war, die die Moroni mit diesem Stück der Welt vorgenommen hatten, sie war schrecklicher und grundlegender als alle Zerstörungen, die ihr erster Überfall hinterlassen hatte.

»Wohin jetzt?« fragte Skudder.

Charity sah sich noch einmal unschlüssig um. Verdammt! Sie hatte keine Ahnung, wo sie waren, geschweige denn, wohin sie gehen sollten. Schließlich zuckte sie mit den Achseln und deutete mit einer wenig entschlossenen Geste auf die Silhouette des Eiffelturmes. »Dorthin!« Es gab keinen bestimmten Grund für diese Entscheidung, es war nur der Versuch, irgend etwas zu unternehmen.

»Nein!«

Aller Blicke wandten sich überrascht Kyle zu. Der Megamann hatte sich wieder aufgerichtet, lehnte aber noch immer an der Wand. Sein Gesicht glänzte vor Schweiß. »Nicht dort hin. Ihr würdet ihnen ... direkt in die Arme laufen.« Er hob den Arm und deutete nach Westen. »Die Freie Zone liegt dort.«

»Freie Zone? Was soll das sein?«

Kyle antwortete nicht auf Skudders Frage. Und Gurk nutzte die Gelegenheit, wieder zu einer seiner Tiraden anzusetzen:

»Der Kerl lügt doch! Wahrscheinlich ist das die einzige Richtung, in denen wir seinen Freunden direkt entgegengehen.«

»Möglich«, antwortete Charity achselzuckend. »Aber weißt du was, Gurk? Es gibt eine todsichere Methode, das herauszufinden - wir probieren es aus.«

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