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Kyle war fünf Jahre alt gewesen, als er die Trainingskuppel das erste Mal betrat. Vieles hatte sich verändert seit jener schrecklichen Nacht, in der man ihm seine Mutter und seine Welt weggenommen hatte. Manchmal erinnerte er sich noch, daß es eine Zeit gegeben hatte, in der der Himmel über ihm blau statt grün gewesen war und in der sich nicht die starre Chitinmaske einer Riesenameise, sondern ein weiches Gesicht über ihn beugte, wenn er vor Hunger oder Müdigkeit schrie.

Aber die Erinnerungen - und die Träume, die ihn anfangs geplagt hatten - kamen immer seltener. Er begann zu vergessen, seine Erinnerungen wurden ausgelöscht. Und es geschah jetzt nur noch ganz selten, daß er plötzlich das Gefühl hatte, nicht hierher zu gehören.

Dafür begann er so schnell und spielerisch zu lernen, wie nur Kinder lernen konnten. Er begriff nicht wirklich, was er lernte, aber das Wissen wurde in seinem Gedächtnis abgespeichert, bereit für den Tag, an dem er es brauchen würde. Man lehrte ihn, schwierige Entscheidungen und komplizierte Denkvorgänge auf jener Ebene seines Geistes ablaufen zu lassen, die normalerweise nur unbewußtem Denken vorbehalten war. Außerdem lernte er seinen Körper perfekt zu beherrschen und seine Gefühle perfekt zu beherrschen.

Bald wußte er auch, daß die harten, schwarzen Geschöpfe, die ihn in den ersten Tagen und Wochen so erschreckt hatten, nicht seine Feinde waren. Sie waren auch nicht seine Freunde, denn manchmal fügten sie ihm Schmerz zu, aber wenn sie nicht kamen, um ihn in einen jener schrecklichen Räume zu bringen, in denen es scharfe Messer und dünne, lange Nadeln gab, die in sein Fleisch bissen, dann waren sie seine gehorsamen Diener, die fast jeden seiner Wünsche erfüllten.

Im Alter von zweieinhalb Jahren hatte er gelernt, zusammenhängende Sätze zu sprechen, und für eine Weile hatte es ihm große Freude bereitet, dem Tyrannen, der in jedem Kind verborgen war, freien Lauf zu lassen und die schwarzen, großen Wesen alles tun zu lassen, was ihm gerade einfiel. Einige hatte er gegeneinander kämpfen lassen, bis eines tot und blutend am Boden lag, und für eine Weile hatte er große Freude an diesem Spiel gefunden. Später hatten sie ihm dann Waffen gegeben und ihn gegen die schwarzen Kolosse antreten lassen. Und obwohl sie sich wehrten, hatte er sie erschlagen.

Dann hatten sie ihn eines Tages wieder in jenen schrecklichen Schmerzraum gebracht, und als er aus der Bewußtlosigkeit, die jedem dieser Besuche unweigerlich folgte, erwachte, da hatte er schlagartig begriffen, daß diese Geschöpfe weder seine Spielzeuge noch seine Sklaven, sondern seine Diener waren. Wesen, die kaum mehr wert waren als Maschinen, und doch war es schlecht, sie aus einer puren Laune heraus zu zerstören, und er hatte damit aufgehört.

Als er fünf Jahre alt war, spürte er zum ersten Mal die Berührung des Todes.

Niemand hatte ihm je gesagt, wie lange er hier war oder wie lange er hier noch bleiben würde.

Niemand hatte ihm je gesagt, was ein Jahr war oder ein Monat oder ein Tag.

Er hatte einen Freund. Sein Name war Mark. Eigentlich waren sie Einzelgänger, Einzelkämpfer, die keinerlei Gefühle kennen durften. Aber Mark und er waren oft zusammen, wenn es ihre Trainingsstunden erlaubten, und er fühlte sich auf eine schwer verständliche Weise zu dem dunkelhaarigen Jungen hingezogen, der etwas größer und kräftiger war als er. In seinem Inneren spürte Kyle, daß dieses Gefühl verwerflich war, gleichzeitig bewahrte er es aber in seinem Herzen auf wie einen Schatz, sein großes Geheimnis, von dem niemand etwas wußte, nicht einmal die Diener. So oft es ihre Zeit zuließ, trafen sich die beiden; ein Verhalten, das von den Dienern zwar nicht gern gesehen, aber akzeptiert wurde.

Da sie jung waren, durften sie nur in der ersten der drei riesigen Silberkuppeln üben; einem gewaltigen, künstlich geschaffenen Gelände voller wechselnder Temperaturen, wechselnder Lichtverhältnisse und wechselnder Schwerkraft, in dem mannigfaltige Gefahren lauerten. Obwohl die Dienerkreaturen, die für seine Ausbildung verantwortlich waren, es niemals unterlassen hatten, ihn auf die Gefahren hinzuweisen, die in dieser künstlichen Welt lauerten, hatte Kyle doch die Zeit, die er bisher hier verbracht hatte, als eine Art großes Abenteuer betrachtet, ein gefährliches, aber aufregendes Spiel, das ihm immer wieder neue Herausforderungen bescherte. Kyle und Mark unterschätzten es keinen Augenblick. Der Tod gehörte zu ihrem Tagesablauf wie die morgendlichen Meditationsübungen und die Stunden im Schlaftrainer. Sie hatten mehr als einen ihrer Gefährten in der Kuppel sterben sehen. Auch Kyle war mehrmals verletzt worden, aber nie so schwer, daß sein bereits erstaunlich regenerationsfähiger Körper nicht damit fertig geworden wäre. Die Dienerkreaturen betraten diese Kuppeln fast nie; und wenn dann nur, um einen Toten fortzuschaffen oder einzugreifen, wenn sich einer der Schüler regelwidrig verhielt.

Der Weg, den sie jedesmal zurücklegen mußten, führte zwischen niedrigen Sanddünen entlang, die beständig ihre Form wechselten und nicht immer nur aus Sand bestanden. Einmal hatte Marks hypersensibilisiertes Gehör ihn gewarnt, sich einem harmlos aussehenden Hügel zu nähern. Aus sicherer Entfernung hatten sie dann in die Düne einen Stein geworfen, worauf der Sand explodierte und eine Armee kleiner, aber tödlicher Insektenwesen zum Vorschein gekommen war.

Sie hatten den Parcours fast hinter sich gebracht, als der Schneider auftauchte. Mark und er hatten das zweieinhalb Meter hohe Maschinenwesen, dem sie schon mehrmals begegnet waren, in stiller Übereinkunft so getauft, denn es hatte zwar einen glitzernden Eisenkörper, der entfernt an den der Dienerkreaturen erinnerte, bestand aber zum größten Teil aus rasiermesserscharfen Klingen und Schneiden, die in allen nur denkbaren Winkeln rotierten und zuckten. Das Geschöpf war nicht besonders schnell, aber es hatte wenig Sinn, vor ihm davonzulaufen, denn es kannte weder Müdigkeit noch Erschöpfung und verfolgte sein Opfer unerbittlich. Die kleinen, handlichen Strahlenpistolen, mit denen Kyle und seine Gefährten ausgerüstet waren, waren gegen dieses Maschinengeschöpf nutzlos. Dennoch besaß es eine verwundbare Stelle: An seinem Hinterkopf gab es einen kleinen, gelben Schalter, den es zu erreichen oder mit einem geschickten Steinwurf niederzudrücken galt, um es sofort zur Salzsäule erstarren zu lassen.

Als Mark und Kyle das charakteristische Rasseln und Klirren des Schneiders hörten, wichen sie automatisch auseinander, damit das Geschöpf sie nicht beide gleichzeitig angreifen konnte und zumindest einer die Gelegenheit fand, ihn außer Gefecht zu setzen. Sie hatten viel gelernt, aber sie hatten noch nicht ganz begriffen, daß es nichts gab, was vorhersehbar war. Als der Schneider zwischen den beiden Dünen vor ihnen erschien, da warteten Mark und Kyle darauf, daß er einen Herzschlag lang zögern und sich dann auf einen von ihnen stürzen würde.

Aber statt dessen erstarrte er für Momente, blickte sie aus seinen kalten, elektronischen Augen an - und zerfiel in zwei Teile. Aus dem plumpen, zwei Meter hohen Stahlkoloß wurden zwei hüpfende, metallene Ellipsoide, die von einem Kranz schwirrender Klingen und rotierender Messer umgeben waren.

Kyle registrierte die Gefahr instinktiv. Blitzschnell ließ er sich zur Seite fallen, sah aus den Augenwinkeln, daß das heranrasende Maschinenungetüm die Bewegung nachvollzog und warf sich noch im Sprung herum. Die stählernen Klingen des Schneiders wischten an ihm vorüber.

Sofort war Kyle wieder auf den Beinen. Noch während sich der halbierte Schneider auf der abschüssigen Ebene aus Sand herumzudrehen versuchte, überwand Kyle die Entfernung zu ihm mit einem gewaltigen Sprung und packte zwei der rasiermesserscharfen, gebogenen Klingen. Mit aller Macht warf er sich zurück, zog die Knie an den Körper und stieß die Beine fast im gleichen Sekundenbruchteil wieder vor. Ein scharfer Schmerz schoß durch seinen linken Fuß, als sich ein Metalldorn tief hineinbohrte, aber der plötzliche Ruck brachte den Schneider aus dem Gleichgewicht.

Für eine schreckliche halbe Sekunde hatte Kyle das Gefühl, daß es ihm nicht gelingen würde, den Koloß anzuheben, aber dann rollte er über die gekrümmten Schultern ab, und der Schneider verlor plötzlich den Boden unter den Füßen und segelte im hohen Bogen über Kyle hinweg. Er flog drei, vier Meter weit durch die Luft und prallte mit einem dumpfen Geräusch auf.

Ohne auf den Schmerz in seinem Fuß und seine blutenden Hände zu achten, sprang Kyle auf und fuhr herum. Der Roboter versuchte ebenfalls, auf die Füße zu kommen, aber es gelang ihm nicht. Seine dürren Stelzbeine knickten immer wieder ein, während die tödlichen Klingen wie in sinnloser Wut meterhohe Sandfontänen aus dem Boden rissen. Kyle betrachtete das mechanische Toben des künstlichen Ungeheuers noch eine Sekunde lang, ehe er sicher war, daß sich der Schneider nicht plötzlich erhob und sich wieder auf ihn stürzte, dann drehte er sich herum und hielt nach Mark und dessen Gegner Ausschau.

Sein Freund hatte weniger Glück gehabt als er. Er mußte zwar auch versucht haben, dem Schneider auszuweichen, aber der Roboter hatte ihn eingeholt und niedergeworfen. Kyle konnte lediglich ein Oval aus verchromtem Eisen sehen und Marks Beine, die unter dem Leib des mechanischen Killers hervorragten und heftig strampelten. Dann hörte er einen Schrei. Die Sandfontänen, die die Schwerter des Schneiders aufwirbelten, färbten sich plötzlich rot, und Marks Beine hörten auf, sich zu bewegen.

Kyle rannte schreiend los. Der Schneider ließ von seinem Opfer ab und wirbelte herum, die plötzlich blutbesudelten Schwertklingen hoben sich, um sich dem neu aufgetauchten Gegner entgegenzustellen. Kyle hatte alles vergessen, was man ihm gesagt hatte, alles, was er über ein Verhalten in einer solch gefährlichen Situation gelernt hatte. Er wußte nur, daß Mark in Lebensgefahr war und daß er ihm helfen mußte. Mit einem Schrei stürzte er sich auf den Schneider, packte eine der rotierenden Sicheln und riß das Maschinenwesen daran herum. Diese Bewegung kostete ihn zwei Finger, aber er vermochte den Robot-Killer ein paar Meter davonzuschleudern. Mit einem gellenden Schrei setzte er der Maschine nach und trat mit beiden Beinen nach den dünnen, eisernen Füßen des Geschöpfes.

Der Schneider verlor das Gleichgewicht und krachte weniger als einen Meter neben ihm zu Boden. Eine dünne, rasiermesserscharfe Klinge zuckte nach Kyles Gesicht und riß seine Wange auf, aber gleichzeitig krachte seine eigene Faust auf den Schalter im Hinterkopf des Maschinenwesens und deaktivierte es.

Der Schneider erstarrte, plötzlich nichts weiter als ein totes Stück Metall.

Kyle stöhnte. Er hatte noch nicht gelernt, körperliche Schmerzen völlig abzuschalten, wohl aber, sie zu unterdrücken und zu beherrschen. Zitternd plagte er sich auf. Alles drehte sich um ihn, und sein Herz schlug wie rasend. Er blutete aus mehreren Wunden, und er spürte, wie seine Kräfte nachließen. Trotzdem wankte er zu Mark hinüber.

Mark war noch bei Bewußtsein. Er blutete aus einem Dutzend verschiedener Wunden, und der feine Sand, auf dem er lag, sog das dunkle Rot wie ein gewaltiger Schwamm auf. Er bewegte die Lippen, als Kyle neben ihm auf die Knie fiel und sich über ihn beugte, brachte aber keinen Ton heraus. Dann sah Kyle, warum: Eine der Klingen hatte seine Kehle durchschnitten. Die Wunde schien ihn wie ein klaffender, roter Clownsmund anzugrinsen. In Marks Augen trat ein Ausdruck unsagbarer Qual.

Er starb.

Verzweifelt beugte Kyle sich über seinen Freund und preßte die Hand auf die furchtbare Wunde in seinem Hals. »Mark!« schrie er. »Nicht atmen! Versuche, nicht zu atmen! Konzentriere dich!«

Kyle sah die Panik in Marks Blick, und er begriff, daß die schiere Todesangst seinen Freund alles vergessen ließ, was sie ihnen beigebracht hatten. Für einen Moment drohte auch ihn die Panik zu übermannen. Er wußte plötzlich, daß Mark sterben würde, aber das durfte nicht geschehen! Nicht Mark! Nicht das einzige Geschöpf auf der ganzen Welt, das ihm noch irgend etwas bedeutete!

»Stirb nicht!« rief er verzweifelt. »Konzentriere dich! Du weißt, wie es geht! Reiß dich zusammen, du Idiot!«

Irgend etwas geschah mit dem Licht. Es wurde heller, als hätte sich plötzlich der Lichtkegel eines gewaltigen Scheinwerfers auf Kyle und seinen sterbenden Freund gerichtet. Und plötzlich erscholl eine dröhnende, nach Eisen klingende Stimme direkt vom Himmel herab:

»Kyle! Was tust du da?«

Kyles Kopf schoß mit einem Ruck in die Höhe. Mit Tränen in den Augen starrte er den Himmel über sich an, der plötzlich nicht mehr blau war, sondern die silberne Farbe des Metalls zeigte, aus dem er in Wahrheit bestand. Ein dunkler Schatten bewegte sich rasend schnell auf ihn zu.

»Mark!« schrie Kyle und fuhr fort, den Jungen zu schütteln. »Konzentriere dich! Versuche, nicht zu atmen! Der Sauerstoff in deinem Blut reicht. Du kannst damit leben, lange genug, um die Wunde zu schließen. Tu es! Tu es endlich!«

Er schüttelte Mark wie besessen, aber der Junge reagierte nicht mehr. Er konnte es nicht mehr.

Mark war tot. Die Erkenntnis brachte Kyle fast um den Verstand. Er schrie auf, begann, Mark noch heftiger zu schütteln, und schlug ihn schließlich mit der flachen Hand ins Gesicht, als könne er das Leben in ihn zurückprügeln.

Das dunkle Ding am Himmel wurde größer, setzte mit einem heulenden Laut auf dem Kamm des künstlichen Sandhügels hinter ihm auf und teilte sich, und die spinnengliedrigen Gestalten von zwei Dienerkreaturen eilten auf ihn zu.

Kyle fuhr herum. Plötzlich schlug sein verzweifelter Zorn in Haß um, eine ziellose, brodelnde Wut, die durch nichts zu besänftigen war. Mit einem gellenden Schrei riß er seine Waffe hoch, gab einen Schuß auf eine der beiden Dienerkreaturen ab und warf sich zur Seite, als sie mit einem Schmerzlaut zusammenbrach und die andere eine plumpe Waffe hob und auf ihn richtete.

Die gewaltige Ameise hatte keine Chance. Der Schmerz gab Kyle übermenschliche Kräfte. Er rollte sich über die Schulter ab, feuerte noch aus der Bewegung heraus auf die Dienerkreatur und registrierte mit grimmiger Befriedigung, wie sie ihre Waffe fallenließ und mit einem schmerzerfüllten Pfeifen zurücksprang. Blitzartig schwenkte er die kleine Strahlenpistole wieder herum und feuerte auf die andere Ameise, die auf die Füße zu kommen versuchte. Er traf auch diesmal, und wenn die Leistung des kleinen Strahlers auch längst nicht groß genug war, das gepanzerte Geschöpf zu verletzen, so fügte sie ihm doch großen Schmerz zu. Die Ameise stürzte zum zweitenmal, schlug alle vier Hände gegen das Gesicht und begann, hoch und schrill zu zischeln.

Als Kyle sich herumdrehte, um auch die zweite Dienerkreatur endgültig niederzustrecken, traf ihn ein weißblauer Blitz, der direkt aus dem Himmel herabfuhr und sein Bewußtsein im Bruchteil einer Sekunde auslöschte.


*


»Die Mauer.« Barler deutete auf den Waldrand: »Sie wollten sie doch sehen, oder?«

Sie waren nicht wieder zur U-Bahn-Station zurückgekehrt, nachdem sie das zerstörte Botschaftsgebäude verlassen hatten, sondern eine gute Viertelstunde in die entgegengesetzte Richtung marschiert. Der Dschungel war beständig dichter geworden, und Charity war klar geworden, daß sie sich der Grenze der Freien Zone nähern mußten. Jetzt lag sie vor ihnen.

Der Dschungel endete nach weiteren zwei oder drei Schritten abrupt, und dahinter begann ... ja, was eigentlich?

Ein Energieschirm? Eine Kuppel aus flimmernder Moroni-Magie?

Unsinn.

Vor ihr war ... nichts.

Nichts und vielleicht das Erstaunlichste, das sie je zu Gesicht bekommen hatte.

Obwohl sie jetzt nur noch einen guten Meter von der unsichtbaren Grenze entfernt war, konnte sie sie nicht sehen. Es gab keine Linie verbrannter Pflanzen, keinen unsichtbaren Widerstand, der das wuchernde Grün zurückhielt - nichts. Unmittelbar vor ihr war der Boden mit einem Teppich aus Flechten, Wurzeln und Moos bedeckt, und einen Meter dahinter erstreckte sich nichts als der Beginn einer öden, leicht ansteigenden Gras- und Trümmerlandschaft, die irgendwo in schwer zu schätzender Entfernung mit dem Himmel verschmolz. Einen Moment lang fragte sich Charity, welchen Anblick die Energiekuppel wohl von außen bieten mochte, hätte es jemanden gegeben, der sie beobachtete. Die Welt außerhalb sah allerdings eher so aus, als wäre das am höchsten entwickelte Leben ein Grashalm: Wo einmal die Vororte von Paris gewesen waren, breitete sich nur noch eine einzige riesige Trümmerlandschaft aus. Nach kurzem Suchen fand Barler einen Ast, den er abbrach und im hohen Bogen auf die Trümmerlandschaft hinauswarf.

Er erreichte sie nie.

Als er die unsichtbare Grenze berührte, in der der Dschungel in dieses graue, triste Land überging, verschwand der Ast.

Es geschah auf sonderbare Weise völlig undramatisch. Kein Funkenregen entstand, keine rauchenden Trümmer oder rieselnder Staub - gar nichts. Das Stück Holz war schlicht und einfach verschwunden. Charity blickte den Franzosen betroffen an. »Funktioniert das ... umgekehrt genau so?« fragte sie.

Barler nickte. »Nichts kommt hinaus und nichts hinein.«

Statt direkt darauf zu antworten, nahm sie den Gamma-Laser von der Schulter, den sie aus der Botschaft mitgenommen hatte, entsicherte ihn und richtete den Lauf der Waffe auf die verkohlte Ruine eines zweistöckigen Hauses, keine fünfzig Schritte von ihr entfernt. Barler sah ihr stirnrunzelnd zu, sagte aber auch dann nichts, als Charity abdrückte und der dünne, blauweiße Energiestrahl in die Wand des Gebäudes einschlug und ein fast metergroßes Loch hineinbrannte.

Charity senkte die Waffe, zögerte einen Moment und hängte sie sich dann wieder über die Schulter, nachdem sie sie gesichert hatte.

»Und was beweist das jetzt?« fragte Barler.

»Nichts«, gestand Charity nach kurzem Zögern. »Außer vielleicht, daß diese Mauer nicht ganz so undurchdringlich ist.«

Barler lachte humorlos. »Das ist ein Laser, nicht wahr?« fragte er mit einer Geste auf das Gewehr. Er hatte eine gleichartige Waffe über der Schulter hängen, die er wie sie aus der Botschaft mitgebracht hatte, hatte ihr aber bisher nur einen flüchtigen Blick geschenkt.

Charity nickte.

»Im Grunde nichts anderes als konzentriertes Licht«, fuhr Barler fort. »Daß die Mauer Licht durchläßt, habe ich nie bestritten. Dummerweise nutzt uns das überhaupt nichts.«

»Ich weiß«, gestand Charity niedergeschlagen. Sie blickte auf die unsichtbare, tödliche Trennlinie, die die verwüstete Stadt vom Rest einer vielleicht ebenso verwüsteten Welt trennte. »Wie weit reicht diese Mauer?« fragte sie.

Barler zuckte mit den Achseln. »Keiner von uns war je auf der anderen Seite des Flusses«, antwortete er. »Aber es muß eine Halbkugel sein. Ich schätze, daß sie einen Durchmesser von vielleicht hundert Kilometern hat.«

Charity überlegte einen Moment. »Das bedeutet ...«

»Daß ihr Zentrum ungefähr unter dem Eiffelturm liegen muß«, bestätigte Barler.

Charity sah ihn verwirrt an. »Manchmal«, sagte sie, »frage ich mich allen Ernstes, ob Sie Gedanken lesen können.«

Barler lächelte flüchtig. »Es ist nicht besonders schwer. Vor allem nicht, wenn es die gleichen Gedanken sind, die ich auch schon hundertmal hatte.«

»Niemand hat jemals diese Wand durchbrochen?« fragte Charity.

Barler schüttelte den Kopf. »Niemals.«

»Und Sie und all die anderen, die in der Freien Zone leben? Wie sind Sie hierhergekommen?«

Barler schwieg einen Moment. »Ich?« Er lächelte schmerzlich. »Ich weiß es nicht. Ich erinnere mich, an einem anderen Ort geboren zu sein. Aber es ist zu lange her, als daß ich sicher wäre, ob es wirklich so war oder ob ich es mir nur einbilde. Solange ich mich wirklich erinnern kann, lebe ich hier. Und die anderen auch.« Er winkte ab, als sie ihn unterbrechen wollte. »Es ist einfacher, wenn ich Ihnen den Rest zeige, Miss Laird.«

Wieder blickte Charity auf die unsichtbare Mauer. Irgend etwas an Barlers Geschichte stimmte nicht. Sie wollte eine weitere Frage stellen, aber Barler deutete in die Richtung, aus der sie gekommen waren. »Lassen Sie uns gehen«, sagte er. »Der Rückweg ist weit, und ich möchte nicht, daß Ihre Freunde anfangen, sich Sorgen um Sie zu machen.«

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