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Der Dschungel war im Laufe der letzten beiden Stunden immer dichter geworden. Jean hatte sich noch nie so weit von der Freien Zone entfernt. Er hätte vermutlich schon auf der halben Strecke hoffnungslos die Orientierung verloren, hätte er nicht den kleinen Kompaß gehabt, den er aus der Festung mitgenommen hatte. Aber trotz dieses Gerätes blieb er immer öfter stehen und sah sich unschlüssig um.

Einerseits war er völlig sicher, sich nicht verirrt zu haben. Andererseits war da diese Stimme in seinem Inneren, die ihm erklärte, daß er ein kompletter Idiot sei und den Rückweg niemals finden würde. Es gab eine Menge Gründe, dieser Stimme zu glauben. Viele, die in den Dschungel gegangen waren, kehrten nie wieder zurück.

Zu allem Überfluß war er in der letzten halben Stunde fünfmal angegriffen worden - das letzte Mal von einer Kreatur, die er niemals zuvor zu Gesicht bekommen hatte und der er nur entkommen war, weil sie offensichtlich genauso blöd wie stark sein mußte. Als der chitingepanzerte Koloß auf seinen vielen Beinen herangewirbelt kam, war Jean zurückgetaumelt und über eine Wurzel gestolpert. Er war gestürzt und einen Moment benommen liegengeblieben, und offensichtlich hatte schon diese Reglosigkeit ausgereicht, das Riesenvieh jegliches Interesse an der Zwischenmahlzeit verlieren zu lassen, die der kleine Zweibeiner für sie darstellte.

Aber er konnte kaum damit rechnen, jedesmal so viel Glück zu haben. Der Wald wimmelte von Spinnen, Springwanzen und Hundertfüßlern; er hatte auch die Spuren von Ratten gesehen. Dazu gab es zahllose andere Kreaturen, die nicht groß genug waren, einen Menschen zu töten, aber durchaus gefräßig genug, sich ein Stück aus ihm herauszubeißen.

Jean blieb wieder stehen, um einen Blick auf das kleine Kompaßgerät zu werfen, das er sich um das linke Handgelenk geschnallt hatte, und stellte fest, daß er fast einen Kilometer von seinem Kurs abgekommen war - weniger, als er befürchtet hatte, aber mehr, als ihm lieb war. Ein Kilometer bedeutete in diesem Gelände eine Stunde - wenn er Glück hatte.

Er wandte sich nach links und kletterte über einen kniehohen, verkohlten Mauerrest hinweg. Er setzte gerade dazu an, sich auf der anderen Seite mit einem Sprung hinabzuschwingen, als ihm klar wurde, daß es hinter der Mauer keinen Boden gab. Was wie massives Erdreich aussah, das entpuppte sich bei genauerem Hinsehen als ein Gespinst aus grauem Pflanzengewebe, fast wie ein Spinnennetz. Jean prallte entsetzt zurück, beugte sich dann noch einmal vor und bog mit einem Stock einige der elastischen Ranken zurück.

Er blickte in ein Kellergeschoß hinab, das sich unter dieser Ruine befand. Der Boden war von einer wimmelnden, schwarzen, glitzernden Schicht bedeckt, die sich in einer unablässigen Bewegung befand und aus der ein unheimlicher Chor rasselnder Laute zu ihm heraufdrang.

Hundertfüßler! dachte Jean angeekelt. Tausende von Hundertfüßlern!

Diese Biester kannten zwar normalerweise kein größeres Vergnügen, als sich gegenseitig aufzufressen, aber sie würden auch einen Menschen nicht verschmähen, der ihnen wie ein Geschenk des Himmels auf die Köpfe fiel. Hätte er die Gefahr auch nur eine halbe Sekunde später bemerkt, dann brauchte er sich jetzt keine Gedanken mehr um den Rückweg zu machen.

Sehr vorsichtig kletterte er wieder über die Mauer zurück und zwang sich, ein paar Sekunden reglos stehenzubleiben. Er mußte sich konzentrieren. Er begann, unaufmerksam zu werden - der sicherste Weg ins Verderben. Er umging die tückische Fallgrube, als er plötzlich ein Geräusch hörte.

Ein Geräusch, das nicht hierher gehörte - Stimmen.

Menschliche Stimmen!

Jean erstarrte. Sein Herz begann wild zu klopfen. Für einen Moment drohte er in Panik zu geraten. Fast verzweifelt sah er sich nach einer Deckung um und huschte schließlich hinter einen gewaltigen, grünweiß gefleckten Busch. Er bemerkte beinahe zu spät, daß die weißen Flecken keine toten Blätter oder Pilze waren, sondern die Nester von Spinnen.

Fünf, sechs der häßlichen kleinen Biester krochen bereits über seine Hände und zwickten ihn nach Kräften, ehe er mitten in der Bewegung herumfuhr und ein paar Schritte davonlief. Angeekelt fegte er die abscheulichen Kreaturen herunter, zerquetschte ein besonders hartnäckiges Exemplar, das sich in seine rechte Wange verbissen hatte, zwischen Daumen und Zeigefinger und dankte im stillen den Schwarzen Göttern Morons dafür, daß er bei seinen zahlreichen Ausflügen in den Dschungel schon oft genug gebissen worden war, um eine gewisse Resistenz gegen das Gift dieser kleinen Plagegeister entwickelt zu haben. Möglicherweise würde er in ein oder zwei Tagen ein wenig Fieber bekommen, aber das war nichts gegen das, was ihm passiert wäre, hätte er seinen Fehler auch nur eine Sekunde später bemerkt und wäre dem Busch so nahe gekommen, daß die kleinen Biester ihre Brut bedroht gefühlt und sich zu Hunderten auf ihn gestürzt hätten.

Er verscheuchte den Gedanken, sah sich nach einem anderen Versteck um und schlich schließlich hinter einen mannsdicken Baum, dessen dunkel-violett schimmernder Stamm direkt aus dem Straßenasphalt wuchs.

Sein eigenes Herz schlug so laut in seinen Ohren, daß es für einen Moment das Geräusch der Stimmen fast übertönte.

Er zwang sich, so ruhig wie möglich zu atmen, und lauschte angestrengt; gleichzeitig kroch seine Hand zum Gürtel und zog die Waffe. Zumindest war er nicht vollkommen wehrlos.

Trotzdem gestand er sich ein, daß seine Lage alles andere als rosig war. Er hörte mehrere Stimmen. Wenn es sich bei den Leuten um Jäger handelte ...

Nein, Jean zog es vor, diesen Gedanken nicht zu Ende zu verfolgen. Gegen eine Ameise mochte ihm die Waffe ein wenig Schutz bieten; zumindest, wenn sie ihm den Gefallen tat, so lange stehen zu bleiben, daß er in Ruhe zielen konnte. Gegen einen Jäger ...

Er versuchte, sich auf die näherkommenden Stimmen zu konzentrieren. Sie unterhielten sich in einer Sprache, die er nicht kannte. Und was wichtiger war - zumindest eine Stimme davon gehörte einer Frau! Und er hatte niemals von einem weiblichen Jäger gehört.

Aber wenn es keine Ameisen waren und keine Jäger, dann ...

Dann mußte es sich um Fremde handeln! Kein Bewohner der Freien Zone außer ihm wäre so verrückt, so tief in den Dschungel vorzudringen.

Jeans Angst machte einer immer stärker werdenden Erregung Platz. Fremde, das bedeutete, daß jemand von außen in den Dschungel eingedrungen war, jemand, der aus der Welt jenseits der Mauer stammte!

Vielleicht, dachte Jean, würde sich sein lebensgefährliches Abenteuer am Ende als doch nicht ganz so sinnlos herausstellen, wie es bisher den Anschein gehabt hatte. Denn wenn es jemanden gab, der es fertiggebracht hatte, von außen in den Dschungel einzudringen, dann bedeutete das nichts anderes, als daß die alten Legenden wahr waren und es einen Weg durch die Mauer gab!

Jean lauschte noch einen Augenblick angestrengt, um die genaue Richtung auszumachen, aus der die Stimmen drangen, dann nahm er all seinen Mut zusammen, trat aus seiner Deckung hervor und schlich geduckt weiter. Er sprang von Versteck zu Versteck, und er wendete seine ganze Geschicklichkeit auf, um dabei nicht einen einzigen überflüssigen Laut zu verursachen. Fremde bedeutete auf dieser Seite des Flusses fast automatisch Feinde. Selbst wenn diese Leute nicht auf der Seite der Jäger und Ameisen standen, dann war anzunehmen, daß sie die eherne Grundregel des Überlebens hier im Dschungel bereits gelernt hatten: nämlich zuerst zu schießen und dann nachzusehen, was man getroffen hatte.

Die Stimmen waren jetzt so nah, daß Jean die Worte verstanden hätte, hätten sie sich nicht in einer ihm unverständlichen Sprache unterhalten. Trotzdem kam sie ihm irgendwie bekannt vor.

Und nach einigen Augenblicken identifizierte er sie auch. Es war Englisch. Eine Sprache, die einige der älteren Bewohner der Freien Zone beherrschten und in der die Instrumente der Festung beschriftet waren, auch der Hauptrechner sprach Englisch. Jean wagte nicht zu hoffen, daß die Leute die wahren Erbauer der Festung wären. Aber vielleicht konnten sie ihm dabei helfen, ihre Geheimnisse etwas schneller zu ergründen!

Die Vorstellung beflügelte ihn, aber sie ließ ihn nicht unvorsichtiger werden. Er näherte sich den Stimmen, die ihrerseits auch auf ihn zukamen, aber er blieb immer wieder stehen und lauschte oder duckte sich hinter einem Busch oder einem Mauerrest. Und als er die fünf Personen dann sah, war er sehr froh, sich so vorsichtig verhalten zu haben.

Jean hatte schon die verrücktesten Typen zu Gesicht bekommen, aber diese Gruppe war mehr als sonderbar. Es waren fünf - zwei Männer, zwei Frauen und ein ... ein ...

Jean war nicht sicher, was es war. Sie bewegten sich langsam zwischen den dichtstehenden Bäumen und Büschen vor ihm entlang, so daß sie seinen Blicken hinter dem wuchernden Grün immer wieder entzogen wurden und er die absurde Gestalt mit dem viel zu großen Kopf nicht richtig sehen konnte. Er vermochte nicht zu sagen, ob es ein Kind war, ein Krüppel oder ein Zwerg.

Aber auch die anderen Mitglieder der Gruppe wirkten höchst merkwürdig: Eine der beiden Frauen war noch sehr jung. Sie hatte dunkles, kurzgeschnittenes Haar und trug ein sonderbares Kleidungsstück, das an einen Kampfanzug erinnerte.

Die zweite war ein wenig größer und älter und hatte ebenfalls kurzgeschnittenes, aber sehr helles Haar. Bekleidet war sie mit einem dunkelblauen, eng anliegenden einteiligen Anzug, an dem ein breiter, sehr klobiger Gürtel auffiel, in dem sich neben einer Unzahl Taschen und Reißverschlüssen auch etwas befand, das Jean an die Tastatur eines jener Miniaturcomputer erinnerte, die er in der Festung gesehen hatte. Ihr Gesicht wirkte offen und sympathisch, aber Jean täuschte sich keine Sekunde lang über die Entschlossenheit und Stärke, die diese Frau ausstrahlte.

Die beiden Männer schließlich waren so gegensätzlich, wie sie nur sein konnten: Der größere von ihnen mochte etwa dreißig Jahre zählen, trug als einziger der Gruppe das Haar schulterlang und von einem dünnen, ledernen Stirnband zusammengehalten. Jean schätzte ihn auf deutlich mehr als zwei Meter, und das bedeutete, daß seine scheinbar normal proportionierten Schultern fast doppelt so breit sein mußten wie seine eigenen. Seine Haut war dunkel und sonnenverbrannt. Er hatte ein schmales, fast asketisches Gesicht mit einer deutlichen Hakennase und einem kantigen Kinn. Und über seinem Auge befand sich eine frische Platzwunde. Der Kratzer konnte nicht seine einzige Verletzung sein, die er erlitten hatte, denn er bewegte sich mühsam und humpelte.

Und dann fiel Jeans Blick voller Entsetzen auf das fünfte und letzte Mitglied der Gruppe.

Es war ein Jäger!

Es gab gar keinen Zweifel. Der Mann war eine gute Handspanne kleiner als alle anderen Jäger, die er je zu Gesicht bekommen hatte. Sein Gesicht war bleich, und er stolperte immer wieder und mußte sich ein paarmal an Baumstämmen oder Zweigen festhalten, um nicht zu stürzen. Aber er war unzweifelhaft ein Jäger. Die nachtschwarze Montur mit dem blutroten Flammenemblem Morons auf Brust und Rücken war nicht zu verkennen.

Jean zog sich hastig ein kleines Stück zurück und erstarrte zu vollkommener Reglosigkeit.

Er wagte kaum noch zu atmen, ja, nicht einmal mehr, den Kopf zu drehen, als die Gruppe sich allmählich von ihm entfernte. Er wußte, wie unvorstellbar fein die Sinne eines Jägers waren. Daß er ihn bisher nicht entdeckt hatte, war einzig seinem schlechten Zustand zuzuschreiben. Aber das würde sich bald ändern. Es gab keine Verletzungen, von denen sich ein Jäger nicht erholte.

Die freudige Erregung, mit der ihn der Gedanke erfüllt hatte, auf Menschen aus der Welt jenseits der Mauer zu treffen, schlug urplötzlich in Enttäuschung und hilflosen Zorn um. Obwohl er es mit eigenen Augen gesehen hatte, erschien ihm der Gedanke, daß sich Menschen mit einem Jäger zusammengetan haben sollten, im ersten Moment einfach absurd.

Aber dann fiel ihm etwas ein: Die beiden Frauen, der Mann mit dem Stirnband und selbst der Zwerg waren bewaffnet gewesen - der Jäger nicht.

Ein fast wahnsinniger Gedanke schoß Jean durch den Kopf. War es möglich, daß diese vier einen Jäger ... gefangen hatten!?

Natürlich war schon die bloße Vorstellung verrückt. Niemand konnte einen Jäger fangen. Man konnte ihn töten oder ihn zumindest so schwer verletzen, daß einem Zeit blieb, die Flucht zu ergreifen, aber ihn überwältigen und gefangennehmen ...

Wahnsinn oder nicht; die Vorstellung ließ Jean nicht mehr los.

Außerdem waren da noch die Energieschüsse, die die Ortungsinstrumente der Festung aufgefangen hatten: ein kurzes, aber heftiges Feuergefecht, das er sich nicht hatte erklären können.

Vielleicht, dachte Jean erregt, kamen diese vier tatsächlich von draußen, und vielleicht waren sie gekommen, um den Bewohnern der Freien Zone zu beweisen, daß auch die Legende von der Unüberwindlichkeit der Jäger nicht stimmte. Er mußte es herausfinden.

Die Chancen, daß ihn dieser Versuch das Leben kostete, standen nicht schlecht. Aber wenn ihm diese vier Fremden den Weg zeigen konnten, wie sie mit den Jägern fertig wurden, dann war der Einsatz das Risiko wert.

Er zögerte noch ein paar Sekunden, dann schob er seine Waffe in den Gürtel zurück und schlich hinter ihnen her.

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