12


Als Kyle zwölf Jahre alt war, ging er das erste Mal auf die Jagd und tötete den ersten Menschen. Und ein halbes Jahr später traf er das Mädchen.

Er hatte jetzt den Körper eines erwachsenen Mannes und die Instinkte eines Killers. Seit dem Tag, an dem er die Basis das erste Mal verlassen hatte, um in den Dschungel hinauszugehen, der sie umgab, war die Jagd zu einem festen Bestandteil seines Lebens geworden. Und bald begann er, sie zu lieben, denn sie stellte die einzige Abwechslung im täglichen Einerlei aus Training, Unterricht und jenen endlosen Stunden dar, in denen sein Körper fortwährend verändert wurde. Er hatte gelernt, den Schmerz auszuschalten, den sie ihm zufügten. Er hatte gelernt, alle Demütigungen zu ertragen. Er hatte gelernt, nicht nach dem Grund zu fragen, aus dem man ihm all dies antat.

Was er nie gelernt hatte, war, mit jenem anderen, körperlosen Schmerz fertig zu werden. Mit der unheimlichen Veränderung, die sie mit seinem Körper vornahmen, vermochte er zu leben; mit dem, was sie seiner Seele antaten, nicht. Er zerbrach nicht daran wie so viele vor ihm, die eines Tages nicht wieder aus den glitzernden Kammern herausgekommen waren oder schlichtweg den Verstand verloren hatten, aber das Menschliche in ihm begann schwächer und schwächer zu werden, als verkröche sich seine Seele unter einem Panzer aus hartem Narbengewebe, den nichts mehr durchdringen konnte.

Die Jagden stellten die einzige Abwechslung dar. Sie waren weitaus gefährlicher als das siebenjährige Training in den Kuppeln, das er mit ein paar Gefährten überlebt hatte. Seine Reaktionen, seine Kraft und seine Regenerationsfähigkeit waren ins Unermeßliche gestiegen. Die künstlichen Feinde, mit denen die jungen Krieger in der Kuppel hatten kämpfen müssen, waren ebenso tödlich und heimtückisch wie die, die bei der Jagd auf sie warteten. Aber sie waren künstlich und nur zu dem Zweck erschaffen, besiegt zu werden. Die Kreaturen hier draußen aber mußten täglich um ihr Überleben ringen. Einige seiner Kameraden kehrten nicht von der Jagd zurück. Einmal hatte Kyle gesehen, wie einer von ihnen von einem gewaltigen gepanzerten Etwas angesprungen und auf der Stelle getötet wurde. Er hatte keinen Finger gerührt, um ihm zu helfen.

Dann kam der Tag, an dem er das Mädchen traf.

Die Jagd beschränkte sich nicht nur ausschließlich auf Tiere. Während der vier Stunden, die sie waffenlos und ohne Ausrüstung im Dschungel verbringen mußten, trafen sie manchmal auf Eingeborene des Planeten; humanoide Wesen, die Kyle und den anderen jungen Megakriegern ähnelten, im allgemeinen aber kleiner und von schwächlicher Konstitution waren. Kyle wußte, daß sie auf der anderen Seite des ausgetrockneten Flußbettes lebten, und dieser Fluß stellte zugleich auch die einzige Regel dar, die es in diesem ungleichen Kampf gab: Gelang es einem der Eingeborenen, ihn zu überwinden, ehe die Megamänner ihn stellten, so kam er mit dem Leben davon.

Sie waren zu sechst, Kyle, zwei weitere Megakrieger, deren Namen er nicht einmal kannte, und drei Dienerkreaturen, die aber niemals in einen der Kämpfe eingriffen, sondern nur als Beobachter füngierten, als sie die Spuren von zwei Eingeborenen fanden. Sie gingen auf die übliche Methode vor: Während einer der beiden Megamänner der Spur folgte, begannen Kyle und der zweite Megakrieger sie zu umgehen und den Flüchtlingen so den Weg abzuschneiden; jeder von ihnen wurde von einer Dienerkreatur begleitet. Kyle kam nicht besonders gut voran: Das Gelände erwies sich als weitaus schwieriger, als er erwartet hatte, außerdem wurde er mehrmals angegriffen. Einmal verwundete ihn eine Kreatur so schwer, daß er fast eine Viertelstunde brauchte, um weitermarschieren zu können. Trotzdem gelang es ihm, die Eingeborenen zu stellen.

Die drei Humanoiden waren recht geschickt vorgegangen und hatten eine falsche Fährte gelegt. Als Kyles überscharfe Sinne ihre Schritte und die geflüsterten Worte vernahmen, da befanden sie sich fast in der entgegengesetzten Richtung, in der die beiden anderen nach ihnen suchten. Er wußte, daß es drei waren. Und ihr Körpergeruch und die unterschiedliche Schwere ihrer Schritte verrieten ihm, daß es sich um ein Pärchen handelte, das ein Junges mit sich führte. Kyle schlich hinter einen mannshohen Busch, paßte die Farbe seines Chamäleonanzuges dem Hintergrund an und erstarrte zur Reglosigkeit.

Hinter ihm verschmolz die Dienerkreatur mit geradezu unheimlicher Geschicklichkeit mit den Schatten des Waldes.

Die Schritte kamen rasch näher, und er sah, daß er sich nicht getäuscht hatte. Es handelte sich um ein Eingeborenenpärchen, beide für ihre Spezies groß und ausgesprochen kräftig. Der Mann war in einen einteiligen Anzug aus zusammengenähten Flicken der unterschiedlichsten Grünschattierungen gehüllt, die ihn beinahe perfekt tarnten. Die Frau trug einen Rock aus dem gleichen Stoff. Beide waren bewaffnet, und ihre Blicke huschten aufmerksam hin und her, tasteten über jeden Schatten und verfolgten jede noch so kleine Bewegung. Sie sind sehr aufmerksam, dachte Kyle anerkennend. Er hatte noch nicht sehr viele Erfahrungen mit der Jagd auf diese Humanoiden gesammelt, aber er begann zu ahnen, daß er diese Spezies bisher unterschätzt hatte.

Das Junge mochte etwa acht oder neun Jahre alt sein, bewegte sich aber trotz seines geringen Alters schon so geschickt und fast lautlos wie seine Eltern.

Es entdeckte Kyle zuerst.

Während die beiden Alten in weniger als zehn Meter Entfernung an seinem Versteck vorübermarschierten, ohne seine Anwesenheit zu registrieren, erstarrte das Junge plötzlich und blickte ihn an. Kyle verstand den Grund nicht. Sein Chamäleonanzug arbeitete perfekt; er hatte selbst die Haut seines Gesichts den Schatten des Waldes angepaßt. Aber das Mädchen sah ihn trotzdem. Eine Sekunde lang blickte es ihn an; in ihren Augen war keine Angst, nicht einmal Schrecken, sondern nur eine unschuldige, kindliche Neugier. Dann schien es jäh zu begreifen, wen es vor sich hatte, denn mit einemmal hob es die Hand und deutete anklagend auf Kyle. Sein Mund öffnete sich, aber es brachte keinen Laut hervor.

Trotzdem reagierten die beiden Alten sofort. Während das Weibchen herumfuhr und sein Junges mit einer erschrockenen Bewegung zurückzerrte, riß der Mann seine Waffe empor und gab rasch hintereinander zwei Schüsse ab.

Kyle wich dem ersten mit einer geschickten Bewegung aus, aber der zweite traf. Das winzige Insekt durchschlug das lebende Gewebe seines Chamäleonanzugs, bohrte sich tief in seinen Körper und begann sofort, sein tödliches Nervengift abzugeben, während es sich mit rasiermesserscharfen Krallen und Fängen in sein Fleisch grub.

Kyle taumelte zurück. Sein Körper analysierte das Gift der Springmade in Sekunden und aktivierte ein kompliziertes System von Enzymen und Drüsensekreten, das die toxische Substanz rasch in eine andere, völlig harmlose umwandelte. Fast gleichzeitig verhärtete sich das Fleisch rings um die winzige Made zu einer knochenharten Kapsel, die das Tier daran hinderte, weiter in seinen Körper einzudringen. Die Schußwunde schloß sich fast ebenso schnell wie sie entstanden war. Als Kyle sich mit einem Satz auf den Eingeborenen stürzte, war von der Verletzung schon nichts mehr zu sehen.

Der Humanoide schien zu begreifen, wie sinnlos seine Waffe war, denn er versuchte nicht noch einmal, auf Kyle zu schießen, sondern machte eine Bewegung, als wolle er zur Seite ausweichen, blieb dann aber plötzlich stehen und empfing Kyle mit einem harten Kolbenhieb. Der eisenharte Schaft der Waffe traf ihn mit furchtbarer Wucht an der Schläfe. Für Momente war er benommen. Trotzdem riß er instinktiv den Arm in die Höhe, als der Eingeborene ein zweites Mal zuschlagen wollte. Das Gewehr wurde dem Humanoiden aus der Hand gedreht und fiel zu Boden.

Kyles Sinne klärten sich wieder. Er sah, wie der Humanoide ein Messer zog, und versuchte auszuweichen, aber wieder kam seine Reaktion zu spät: Die handlange Klinge fuhr tief in seinen Hals, und er spürte, wie sein eigenes Blut in seine Luftröhre strömte.

Kyle hatte den Eingeborenen hoffnungslos unterschätzt. Er hatte nicht geglaubt, wirklich gegen ihn kämpfen zu müssen, aber nun reagierten sein Unterbewußtsein und seine künstlich verstärkten Instinkte: Blitzartig umklammerte er die Hand des Eingeborenen mit solcher Wucht, daß er den Knochen brechen hören konnte, griff mit der anderen, freien Hand nach dem Messer, zog es heraus und tötete den Humanoiden mit seiner eigenen Klinge.

Als er herumfuhr, sah er, daß das Weibchen und das Junge bereits gute zehn, fünfzehn Schritt entfernt waren und in den Busch liefen. Er verschwendete eine Sekunde an den Gedanken, daß die Dienerkreatur sein Verhalten aufmerksam beobachtete und er sich für die Fehler, die er gemacht hatte, würde verantworten müssen, dann hob er das Messer des Eingeborenen, das er noch immer in der Hand hielt, und warf es.

Er traf. Aber statt das Junge zu töten, auf das er gezielt hatte, streifte es nur mit dem Griff seine Schulter. Das Mädchen schrie auf und stürzte. Kyle unterdrückte einen Fluch und rannte ihm nach.

In diesem Moment geschah etwas Unerwartetes.

Statt zu fliehen und sich in Sicherheit zu bringen, blieb das Weibchen plötzlich stehen, starrte aus entsetzt aufgerissenen Augen zuerst das Mädchen und dann Kyle an - und machte mit einem spitzen Schrei kehrt!

Kyle war verblüfft, daß er sich nicht einmal wehrte, als sie sich mit weit ausgebreiteten Armen zwischen ihn und das Junge warf und ihn mit ihren Fäusten traktierte. Zwei, drei harte Schläge trafen ihn, und plötzlich blitzte auch in der Hand der Eingeborenen ein Dolch auf, mit dem sie nach seinen Augen zielte. Kyle drehte den Kopf und Oberkörper zur Seite, so daß der Stich ins Leere ging und die Eingeborene an ihm vorübertaumelte, streckte dann blitzschnell das Bein aus und schlug ihr die geballte Faust in den Nacken, als sie stolperte. Noch ehe das Weibchen zu Boden fiel, wirbelte er herum, um auch das Junge zu töten.

Aber er tat es nicht.

Er konnte es nicht.

Er begriff plötzlich, warum die Eingeborene zurückgekommen war. Sie mußte gewußt haben, daß sie nicht die geringste Chance hatte, einen Gegner wie ihn zu besiegen; und trotzdem hatte sie es versucht.

Langsam, als kämpfe er gegen unsichtbare stählerne Ketten, ließ Kyle seine zum tödlichen Schlag erhobenen Arme sinken und blickte das Eingeborenenjunge an. Das Mädchen lag auf dem Rücken; es rührte sich nicht, sondern starrte ihn nur aus angstvoll aufgerissenen, dunklen Augen an. Langsam ließ sich Kyle auf die Knie sinken und streckte die Hand nach dem Mädchen aus; fast ohne zu wissen, warum er es eigentlich tat, aber doch mit dem sicheren Gefühl, daß es richtig war.

Kyle spürte das Entsetzen, das dieses kleine Wesen empfand; ein Entsetzen, das nur seiner Erscheinung galt, nicht dem, was er mit ihm tun würde. Er hatte plötzlich das verrückte Gefühl, daß das Mädchen den Tod eher als Erlösung betrachtete.

Wer war er, daß dieses Mädchen den Tod weniger fürchtete als ihn?!

»Hab ... hab keine Angst, Kleines«, sagte Kyle. Seine Stimme klang heiser; er war es nicht gewohnt, solche Worte zu sprechen. »Ich tue dir nichts.«

Das Gesicht des Kindes zeigte keine Regung. Kyle begriff, daß es seine Worte gar nicht gehört hatte oder daß sie ihm nichts bedeuten.

Er hörte Schritte, dann fiel der dünne, harte Schatten der Dienerkreatur über das Gesicht des Mädchens, und endlich löste es seinen Blick von Kyle. Es sah auf, und die seltsam gestaltlose Furcht in seinem Blick machte Abscheu und Haß Platz.

Auch Kyle drehte den Kopf und blickte die Dienerkreatur an. Die gigantische Ameise schaute aus ihren starren Augen auf ihn und das Mädchen herab.

»Warum zögerst du?« fragte die Computerstimme des Übersetzungsgerätes. »Eliminiere sie.«

Kyle sah wieder das Mädchen an. Es hatte leise zu weinen begonnen, aber er wußte, daß die Tränen, die über sein schmutziges Gesicht liefen, nicht der Angst vor seinem eigenen Tod galten, sondern dem Anblick der beiden furchterregenden Gestalten. Eine kalte, unmenschlich starke Hand schien nach seinem Herzen zu greifen und es langsam zusammenzudrücken.

Er war wieder fünf Jahre alt, er hielt wieder seinen sterbenden Freund in den Armen, und zum ersten und letzten Mal in seinem Leben als Megakrieger wußte er, was es hieß, um einen Menschen zu trauern.

»Eliminiere sie!« verlangte die Dienerkreatur noch einmal.

Kyle blickte das Mädchen eine weitere Sekunde an, dann stand er ganz ruhig auf, drehte sich herum und tötete die Dienerkreatur mit einer einzigen blitzartigen Bewegung.


*


Vom Dach des Louvre aus bot die Stadt ein Bild, das trotz all der Verwüstung und Zerstörung, trotz der grünvioletten, wuchernden Pflanzenmasse den Betrachter noch immer faszinieren mußte. Es war, dachte Charity, als wäre die alte Würde der Stadt noch irgendwie vorhanden; sie hatten die Gebäude und Straßen zerstört, sie hatten jede Spur menschlichen Lebens und menschlichen Schaffens aus den Bereich jenseits der Seine getilgt, aber was sie nicht hatten beseitigen können, das war der Geist, der diese Stadt erschaffen hatte. Paris war noch immer ein Sinnbild für alles, wofür Menschen jemals gekämpft hatten: Freiheit, Leben, Gerechtigkeit ...

Sie setzte den Feldstecher ab und betrachtete Barler und Skudder, die neben ihr standen. Sie fragte sich, was diese beiden beim Anblick der verwüsteten Stadt empfanden. Wahrscheinlich nichts, dachte sie niedergeschlagen. Vielleicht hatte Gurk recht. Vielleicht war Freiheit nur eine Illusion, für die sich nicht zu sterben lohnte.

Sie verscheuchte den Gedanken und sah für einige weitere Augenblicke zur Silhouette des Eiffelturms hinüber. Wieder glaubte sie für einen Moment, eine Bewegung zu erkennen; ein unscharfes, dunkles Glitzern hoch unter seiner Spitze.

»Sie haben sie gesehen?« fragte Barler, als sie den Feldstecher senkte.

Charity sah ihn verwirrt an. »Wen?«

»Die Königin.«

»Nein«, antwortete Charity automatisch. »Ich ... Wovon sprechen Sie überhaupt?«

»Von der Königin«, wiederholte Barler. Er lächelte verzeihend, als er ihren fragenden Gesichtsausdruck bemerkte. »Was glauben Sie, woher all diese kleinen Monster kommen, die Ihre Freunde und Sie fast zum Frühstück verspeist hätten?«

Im ersten Moment begriff Charity nicht einmal, wovon er überhaupt sprach. »Sie meinen, die Ameisen im Fluß ...«

»Es waren Junge«, sagte Barler nickend. »Ihre Brut. Der einzige Grund, aus dem Sie überhaupt noch am Leben sind.«

Charity hängte den Feldstecher an ihren Gürtel zurück. »Erklären Sie mir das, Barler«, verlangte sie.

»Gern.« Der Franzose deutete auf die Tür hinter sich. »Aber lassen Sie uns wieder nach unten gehen. Es gibt noch eine Menge, was ich Ihnen zeigen möchte.«

Sie schritten zurück ins Gebäude und betraten einen Aufzug, den Barler eigens für sie in Betrieb gesetzt hatte. Mit einem lauten Quietschen fuhr die altertümliche Kabine in die Tiefe. »Natürlich ist nichts von dem, was wir wissen, wirklich bewiesen. Wir haben uns das meiste im Laufe der Jahre selbst zusammengereimt. Aber ich glaube, daß wir der Wahrheit recht nahegekommen sind. Sie haben den Fluß gesehen. Er ist nicht nur die Grenze zwischen der Freien Zone und dem Dschungel.«

»Wo ist all das Wasser geblieben?« fragte Skudder.

»Fragen Sie Captain Laird«, entgegnete Barler. »Ich habe ihr die Mauer gezeigt. Ich habe ihr auch gezeigt, was mit fester Materie geschieht, die sie berührt.«

Skudder sah ihn mit unverhohlenem Unglauben an. »Sie meinen, es ... löst sich einfach auf?«

Barler zuckte mit den Schultern.

»Es löst sich auf, verdampft, verschwindet ... ich weiß es nicht.« Er lächelte flüchtig. »Irgendwann zeige ich es Ihnen einmal. Es ist ein grandioser Anblick: eine dreißig Meter hohe Wand aus Wasser, die einfach verschwindet. Wirklich beeindruckend.«

Im Gegensatz zu Skudder bezweifelte Charity Barlers Erklärung nicht. Schließlich hatte sie gesehen, wozu dieses unsichtbare Kraftfeld imstande war. Und sie wußte von Jean, daß es bis tief in die Erde hineinreichte; tief genug, um auch das Netz unterirdischer Kanalisationsleitungen und Pipelines zu blockieren, das die Bewohner der Freien Zone mit ihren Pibikes berühren.

»Sie bringen die Eier, die die Königin legt, in den Fluß«, fuhr Barler nach einer Weile fort. »An einer Stelle, nicht weit von der Mauer entfernt. Ich zeige sie Ihnen später, wenn es Sie interessiert. Man sieht allerdings nicht sehr viel.«

»Dann ist hier so eine Art Brutstation?« erkundigte sich Skudder.

Barler nickte. »Ja, aber ich glaube nicht, daß es der einzige Grund ist, aus dem sie die Wand rings um die Stadt herum errichtet haben.«

»Aber das ist doch ... völlig verrückt«, sagte Charity verstört. Barler sah sie fragend an, und sie fuhr erklärend fort: »Ich meine, warum sollten sie ... einen solchen Aufwand treiben?«

»Vielleicht ist es für sie kein Aufwand?« antwortete Barler lächelnd. »Ich habe viel Zeit gehabt, über diese und andere Fragen nachzudenken, und bin zu der Überzeugung gekommen, daß das, was wir hier sehen, nichts als ihre natürliche Umgebung ist.«

»Die Ruinen einer niedergebrannten Stadt?« fragte Skudder spöttisch.

Barler blieb ernst. »Der Dschungel«, antwortete er. »Sie können es nicht wissen, denn Sie sind noch nicht lange genug hier. Aber ich lebe seit vierzig Jahren in dieser Zone. Glauben Sie mir, die Veränderung ist noch längst nicht abgeschlossen. Sie haben nicht nur ein paar Pflanzen und Tiere hierher gebracht; irgend etwas geschieht mit dieser Stadt. Sie verändert sich. Sehr langsam, aber ununterbrochen.«

Skudder blickte nur verwirrt drein, aber Charity glaubte zu wissen, was Barler meinte. Was unter dieser Energiekuppel geschah, das war mehr als der künstliche Umbau eines kleinen, begrenzten Gebietes. Vielleicht gab es auch schon Tausende solcher Energiekuppeln überall auf der Welt - aber sie war plötzlich völlig sicher, daß das, was sich auf der anderen Seite des Flusses erstreckte, nicht nur eine möglichst genaue Kopie des Heimatplaneten der Invasoren war. Es war ihre Heimat. Sie begannen, die Erde zu verändern. Und sie taten dabei mehr, als nur einige heimische Pflanzen durch andere zu ersetzen, als einige Tierarten von ihrer Heimatwelt zu importieren und sie auf die fast wehrlose Fauna der Erde loszulassen.

Barlers nächste Worte bestätigten ihre Vermutung.

»Ich glaube«, sagte der Franzose, »daß das, was wir hier sehen, das natürliche Ökosystem ihres Heimatplaneten ist. Sie haben das Manna gesehen?« Skudder nickte. »Wahrscheinlich vermuten Sie jetzt, daß sie es künstlich herstellen. Aber das tun sie nicht. Jedenfalls nicht so, wie Sie vielleicht denken.«

»O ja«, sagte Skudder spöttisch. »Wahrscheinlich fällt es vom Himmel, nicht wahr? Deswegen nennen sie es auch Manna?«

Barler nickte mit großem Ernst. »So ungefähr«, antwortete er. »Mit einem Unterschied. Es fällt nicht vom Himmel, es kommt aus dem Boden.«

Charity sah ihn an.

»Vermutlich wird es vom Wald produziert«, sagte Barler. »Wir haben etwas von dem Zeug untersucht. Es besteht fast nur aus pflanzlichen Proteinen. Für einen Menschen und jedes Tier, an dem wir es ausprobiert haben, ist es völlig ungenießbar. Auch nicht giftig, aber eben nicht verwertbar. Den Ameisen scheint es jedoch hervorragend zu bekommen.«

»Sie meinen, der Wald ...«

»... scheidet es aus, ja«, sagte Barler. »Vielleicht haben sie die Pflanzen genetisch verändert. Vielleicht ist es auch ein ganz natürlicher Vorgang auf der Welt, von der sie kommen. Es ist eine Art natürlicher Nährlösung, in der die Eier heranreifen und die Jungen gedeihen, bis sie groß genug sind, den Fluß zu verlassen.«

»Das ist unglaublich!« sagte Skudder.

Barler schüttelte den Kopf. »Finden Sie? Ich finde es eigentlich nur konsequent, nach allem, was wir über sie erfahren haben.«

Der Aufzug hatte das Erdgeschoß erreicht und hielt. Charity unterdrückte ein Schaudern, während sie durch die staubigen Gänge des Louvre gingen. Als sie vor zwei Stunden hierhergekommen waren, da hatte sie an das denken müssen, was ihr Stone erzählt hatte. Was einmal der größte Kunstschatz dieses ganzen Planeten gewesen war, das war nun dem Verfall preisgegeben. Niemand schien sich um diese Kunstschätze zu kümmern.

»Sehen Sie, Monsieur Skudder«, knüpfte Barler an das unterbrochene Gespräch an, als sie ins Freie gelangten, »wir wissen nicht viel über die Invasion. Aber wir wissen eine ganze Menge über die Ameisen. Ich glaube, daß ihre Kultur sich völlig anders entwickelt hat als unsere. Und in manchen Punkten sind sie uns sicherlich überlegen. Ihre Zivilisation ist nicht auf die Weiterentwicklung irgendwelcher Technologien ausgerichtet, sie sind nur ein Sklavenvolk, vergessen Sie das nicht.«

Skudder sah ihn verwirrt an, und wieder huschte dieses flüchtige, überlegene Lächeln über Barlers Gesicht. »Man vergißt es leicht, nicht wahr?« fragte er. »Aber im Grunde sind sie nicht mehr als wir. Irgendein Volk, das irgendwann einmal unterworfen wurde und jetzt im Dienste Morons steht. Wir nennen sie Moroni, weil wir die wahren Herrscher noch nie zu Gesicht bekommen haben, aber eigentlich sind sie es nicht.«

Charity wußte, daß Barler recht hatte. Nach allem, was sie bisher erlebt hatte, war dies die einzige Erklärung. Irgendwann einmal mußten die Moroni auch den Heimatplaneten der Ameisen überrannt haben. Sie erkannten schnell, welch wertvolle Sklaven ihnen da in die Hände gefallen waren: ein Volk gigantischer, intelligenter Insekten, deren einzelne Individuen über praktisch keinen freien Willen verfügten, die aber in der Gemeinschaft einfach unbesiegbar waren. Wenn sie sich so rasch vermehrten, wie es irdische Insekten taten, dann war es schlicht und einfach unmöglich, dieses Volk aufzuhalten, wenn es einmal auf einer Welt Fuß gefaßt hatte.

»Trotzdem sollten Sie sie nicht unterschätzen«, sagte Charity.

Barler blieb stehen und sah sie an. »Wer sagt, daß ich das tue?« fragte er. »Im Gegenteil, Captain Laird. Ich glaube mittlerweile, daß ihr System unserem überlegen ist. Wozu etwa sollte man Maschinen bauen, die Nahrungsmittel produzieren, wenn man eine Pflanze dazu bringen kann, sie auszuscheiden? Ihre Technik erscheint primitiv, sie ist aber äußerst effektiv.«

Er schlug mit der flachen Hand auf den Kolben der Waffe, die aus seinem Gürtel ragte. »Nehmen Sie diese Pistole hier. Sie wissen, wie sie funktioniert?«

Charity nickte wortlos. Sie hatte diese kleinen, mörderischen Insekten kurz nach ihrem Erwachen kennengelernt. Aber sie hatte bisher niemals Zeit gefunden, sich wirklich darüber Gedanken zu machen, woher sie stammten.

»Natürlich ist ein Laserstrahler effektiver«, sagte Barler. »Er ist wirkungsvoller, er reicht weiter, er hat eine größere Treffsicherheit - aber er hat einen kleinen, doch entscheidenden Nachteil: Seine Munition vermehrt sich nicht von selbst. Sie brauchen eine ungeheure Technologie, um eine einzige dieser Waffen herzustellen. Diese Waffe wartet sich selbst. Vielleicht funktioniert die gesamte Technik auf ihrem Heimatplaneten so.«

Er zuckte mit den Schultern.

»Vielleicht benutzen sie keine Fahrzeuge, um von einem Ort zum anderen zu kommen, sondern große Tiere, in deren Körper sich entsprechende Höhlungen befinden. Vielleicht wohnen sie nicht in Häusern, sondern in riesigen Pflanzen, die nicht instandgehalten werden müssen, sondern sich selbst regenerieren. Vielleicht benutzen sie keine Funkgeräte, sondern telepathisch begabte Kreaturen ... Die Idee hat etwas Reizvolles, nicht wahr?«

»Sie hat etwas Entsetzliches«, murmelte Charity.

»Warum?« fragte Barler.

»Weil es entsetzlich ist, das Leben zu manipulieren«, antwortete Charity. »Es gibt gewisse Dinge, an die niemand rühren sollte.«

»Aber waren Sie denn nicht auf demselben Weg?« erkundigte sich Barler. »Nach allem, was ich gehört habe, gab es entsprechende Forschungen. Und erstaunliche Fortschritte.«

»Viele von uns waren der Meinung, daß man in dieser Richtung nicht weiter forschen sollte«, antwortete Charity.

Barler zuckte mit den Achseln. »Nun, die Ameisen scheinen es getan zu haben. Ich glaube, daß wir in dieser Hinsicht eine Menge von ihnen lernen können.«

»Um sie zu bekämpfen?« fragte Charity.

Barler seufzte. »Nein«, sagte er. »Ich bin froh, daß Sie das Thema ansprechen, Captain Laird. Sehen Sie, gestern abend, als wir diese Station fanden ...« Er brach ab und suchte einen Moment nach Worten. »Ich habe ein paar Dinge gesagt, die ich vielleicht besser nicht gesagt hätte.«

»Sie meinen, daß Sie sich jetzt endlich gegen sie wehren können?«

Barler nickte. »Ja. Es war falsch. Es ... tut mir leid.«

»Das heißt, Sie haben aufgegeben«, sagte Charity bitter.

Zu ihrer Überraschung lächelte Barler. »Es ist seltsam, nicht wahr?« fragte er. »Jetzt sind die Rollen vertauscht. Gestern haben Sie versucht, mich zurückzuhalten. Und Sie hatten recht. Wir können diesen Krieg nicht gewinnen. Vielleicht hätten wir es vor fünfzig Jahren gekonnt, aber jetzt nicht mehr.«

»Haben Sie mit Gurk gesprochen?« fragte Charity.

»Ja«, gestand Barler, »wir haben heute morgen miteinander geredet. Er ist ein komischer kleiner Kerl, aber in vielen Punkten hat er recht.«

»Wir sind nicht immer einer Meinung«, sagte Charity.

»Ich weiß«, antwortete Barler. »Und ich will auch nicht versuchen, Sie von irgend etwas zu überzeugen oder von irgend etwas abzubringen. Überlegen Sie sich nur sehr gut, ob Sie bei uns bleiben oder gehen wollen. Ich werde nicht versuchen, Sie irgendwie zu beeinflussen. Aber wenn Sie hierbleiben, dann akzeptieren Sie unsere Welt, so wie sie ist. Die Menschen hier sind glücklich. Und sie sollen es bleiben.« Er hob die Hand, als Charity ihn unterbrechen wollte. »Ich weiß, was Sie sagen wollen, Captain Laird. Und Sie haben mit jedem Wort recht. Aber auch ich habe recht, bitte, versuchen Sie das zu verstehen. Die meisten von uns sind hier aufgewachsen, und sie haben nie etwas anderes kennengelernt.«

»Dann werden wir sie verlassen, Barler«, entgegnete Charity ruhig. »Ich weiß noch nicht wie, aber irgendwie werden wir diese Mauer überwinden.«

»Ich glaube sogar, daß Sie es schaffen«, antwortete Barler. »Aber Sie sollten es sich gut überlegen. Dort draußen erwartet Sie nichts anderes als der Tod. Hier wären Sie in Sicherheit.«

»Aber ich kann so nicht leben«, sagte Charity. »Und die anderen auch nicht.«

»Ist es hier so schlimm?« fragte Barler.

»Nein«, antwortete Charity bitter. »Nicht, wenn es einem nichts ausmacht, als ... als Spielzeug behandelt zu werden.«

»Es tut mir leid, daß Sie das so sehen.« Barler wirkte betroffen, fast traurig.

»Helen hat mir von dem erzählt, was Sie die Jagd nennen«, sagte Charity.

»Sie ist der Preis für unsere Freiheit.«

»Ein Preis, der zu hoch ist!« sagte Charity.

»Das ist Ihre Meinung«, erwiderte Barler ruhig. »Aber sie ist falsch. Ich glaube, eure Verkehrsunfälle damals haben mehr Menschenleben gefordert als unsere Jagden.«

»Aber wir haben diese Welt erschaffen! Vielleicht war sie nicht perfekt, vielleicht war sie nicht einmal gerecht - aber es war unsere Welt. Ihr seid nichts als Spielzeuge für sie! Sie bringen euch die, die sie für ihre Zwecke nicht gebrauchen können, und ihr päppelt sie hoch, damit sie ...« Charitys Stimme versagte. Sie atmete ein paarmal tief ein und aus, ehe sie fortfuhr: »Ihr seid nichts als lebende Zielscheiben! Dummys, an denen sie üben können!«

Barler starrte an ihr vorbei ins Leere. Ein sonderbar melancholisches Lächeln glitt über seine Züge, aber sein Blick war von Trauer erfüllt. »Wenn Sie wirklich so denken, Captain Laird«, sagte er leise, »dann ist es vielleicht besser, wenn Sie gehen.«

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