9 Der Verdacht verstärkt sich. Der Sla-Mori

Der enge Pfad verlief steil von den Ebenen nach oben in ein bewaldetes Tal an den Ausläufern des Gebirges. Die abendlichen Schatten wurden immer länger, als sie einem Strom ins Gebirge folgten. Sie waren jedoch erst eine kurze Strecke gewandert, als Gilthanas den Pfad verließ und im Gebüsch verschwand. Die Gefährten hielten und sahen sich fragend an.

»Das ist Wahnsinn«, flüsterte Eben Tanis zu. »In diesem Tal leben Trolle – wer, glaubst du wohl, hat diesen Pfad gemacht?« Der dunkelhaarige Mann nahm Tanis’ Arm mit einer Vertrautheit, die den Halb-Elf aus der Fassung brachte. »Zugegeben, ich bin neu in eurem Kreis, und du hast keinen Grund, mir zu trauen, aber wieviel weißt du über diesen Gilthanas?«

»Ich weiß…«, begann Tanis, aber Eben ignorierte ihn.

»Es gab einige unter uns, die nicht glaubten, daß die Drakonierarmee zufällig auf uns traf, wenn du verstehst, was ich meine. Meine Kameraden und ich hielten uns in den Bergen versteckt und bekämpften von dort aus die Drachenarmeen, nachdem sie Torweg überfallen hatten. In der letzten Woche gesellten sich diese Elfen wie aus dem Nichts zu uns. Sie sagten uns, sie wollten eine der Festungen des Drachenfürsten überfallen und ob wir mitkommen und sie unterstützen würden. Wir sagten, ja sicher, warum nicht!

Während des Marsches wurden wir wirklich nervös. Überall trafen wir auf Drakonierspuren! Aber die Elfen störte es nicht, Gilthanas behauptete sogar, die Spuren wären alt. In jener Nacht schlugen wir ein Lager auf und stellten Wachen auf. Es stellte sich heraus, daß uns das wenig brachte, denn wir wurden erst wenige Sekunden vor dem Angriff der Drakonier gewarnt. Und…« – Eben blickte sich um und trat näher – »während wir versuchten, wach zu werden, nach unseren Waffen zu greifen und diese stinkigen Kreaturen zu bekämpfen, hörte ich die Elfen rufen, als würde jemand vermißt. Und was glaubst du wohl, nach wem gerufen wurde?«

Eben beobachtete Tanis gespannt. Der Halb-Elf runzelte die Stirn und schüttelte irritiert den Kopf.

»Gilthanas!« zischte Eben. »Er war verschwunden! Sie schrien und schrien immer wieder nach ihm – ihrem Anführer!« Der Mann zuckte die Achseln. »Ich erlebte nicht mehr, ob er wieder auftauchte oder nicht. Ich wurde gefangengenommen. Sie brachten uns nach Solace, wo ich entfliehen konnte. Auf alle Fälle würde ich mir lieber zweimal über diesen Elfen Gedanken machen. Er könnte einen guten Grund gehabt haben zu verschwinden, als die Drakonier angriffen, aber…«

»Ich kenne Gilthanas seit langer Zeit«, unterbrach ihn Tanis schroff, aber auch verunsicherter, als er zugeben wollte.

»Dachte nur, du solltest das wissen«, lenkte Eben verständnisvoll lächelnd ein. Er klopfte Tanis auf die Schulter und begab sich wieder zu Tika.

Tanis brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, daß Caramon und Sturm jedes Wort mitgehört hatten. Beide sagten jedoch nichts, und bevor Tanis mit ihnen reden konnte, erschien Gilthanas plötzlich im Gehölz.

»Es ist nicht sehr weit«, sagte der Elf. »Das Gebüsch lichtet sich weiter vorn, und das Laufen wird einfacher.«

»Ich meine, wir sollten versuchen, durch das Vordertor reinzukommen«, ließ sich Eben hören.

»Ich denke auch so«, sagte Caramon. Der Krieger blickte auf seinen Bruder, der sich unter einem Baum niedergelassen hatte. Goldmond war völlig erschöpft. Und selbst Tolpan ließ müde den Kopf hängen.

»Wir könnten hier übernachten und in der Morgendämmerung durch das Vordertor gehen«, schlug Sturm vor.

»Wir halten uns an den ursprünglichen Plan«, sagte Tanis scharf. »Wir lagern erst, wenn wir den Sla-Mori erreicht haben.«

Dann ergriff Flint das Wort. »Wir könnten doch am Tor läuten und Lord Verminaard bitten, dich hineinzulassen, Sturm Feuerklinge. Ich bin sicher, er wird es liebend gern tun.« Der Zwerg stapfte auf dem Pfad weiter.

»Zumindest«, sagte Tanis leise zu Sturm, »würde das vielleicht unseren Verfolger abschütteln.«

»Wer oder was auch immer er ist«, antwortete Sturm, »er scheint sich auszukennen, möchte ich sagen. Immer wenn ich versuche herauszufinden, wer uns da eigentlich folgt, und mich etwas zurückfallen lasse, verschwindet er. Ich dachte daran, ihm eine Falle zu stellen, fand aber bisher keine Zeit dazu.«

Die Gruppe hatte den Fuß eines riesigen Granitfelsens erreicht und trat dankbar aus dem Gestrüpp hervor. Gilthanas ging einige hundert Meter an der Felswand entlang und tastete sie suchend ab. Plötzlich hielt er inne.

»Wir sind da«, flüsterte er. Er griff in seine Tunika und holte einen kleinen Edelstein hervor, der in einem sanften, gedämpften Gelb glühte. Er fuhr noch einmal mit der Hand über die Gesteinswand und fand schließlich, was er gesucht hatte – eine kleine Nische im Granit. Er legte den Edelstein in die Nische und begann, uralte Worte zu murmeln und in der nächtlichen Luft mit der Hand Zeichen zu ziehen.

»Höchst eindrucksvoll«, flüsterte Fizban. »Ich wußte gar nicht, daß er einer von uns ist«, sagte er zu Raistlin.

»Ein Dilettant, weiter nichts«, erwiderte der Magier. Trotzdem stützte er sich erschöpft auf seinen Stab und beobachtete Gilthanas aufmerksam.

Plötzlich und lautlos bewegte sich ein riesiger Steinblock aus der Felswand zur Seite. Die Gefährten wichen zurück, als ein kühler, feuchter Luftzug aus der Öffnung strömte.

»Was ist dort?« fragte Caramon argwöhnisch.

»Ich weiß nicht, was sich dort jetzt befindet«, antwortete Gilthanas. »Ich habe es noch nie betreten. Ich kenne diesen Ort nur aus den Legenden meines Volkes.«

»Na gut«, knurrte Caramon. »Was war das denn früher?«

Gilthanas machte eine Pause, dann antwortete er. »Dies war die Grabkammer von Kith-Kanan.«

»Schon wieder Gespenster«, murrte Flint und spähte in die Dunkelheit. »Schickt den Magier zuerst hinein, damit er sie warnen kann, daß wir kommen.«

»Werft den Zwerg hinein«, parierte Raistlin. »Sie sind es gewöhnt, in dunklen feuchten Höhlen zu hausen.«

»Du meinst die Bergzwerge«, sagte Flint mit gesträubtem Bart. »Es ist schon viele Jahre her, daß die Hügelzwerge unter der Erde im Königreich von Thorbardin gelebt haben.«

»Nur weil ihr hinausgeschmissen wurdet!« zischte Raistlin.

»Hört beide auf!« sagte Tanis wütend. »Raistlin, was spürst du bei diesem Ort?«

»Böses. Viel Böses«, entgegnete der Magier.

»Aber ich spüre auch viel Gutes«, sagte Fizban unerwartet. »Die Elfen sind in diesen Gemäuern nicht in Vergessenheit geraten, auch wenn heute das Böse an ihrer statt regiert.«

»Das ist verrückt!« schrie Eben. Der Lärm echote unheimlich von den Steinen, und die anderen fuhren erschreckt herum, starrten ihn beunruhigt an. »Tut mir leid«, sagte er und sprach leiser. »Aber ich kann nicht glauben, daß ihr da hineingehen wollt! Man braucht keinen Magier, der einem sagt, daß in diesem Loch das Böse weilt. Ich kann es spüren! Laßt uns zurück zur Vorderseite gehen«, drängte er. »Sicher, da werden ein oder zwei Wachen sein – aber das ist nichts im Vergleich zu dem, was hier in dieser Dunkelheit lauert!«

»Er hat den Punkt getroffen, Tanis«, sagte Caramon. »Du kannst nicht gegen die Toten kämpfen. Das haben wir im Düsterwald erfahren.«

»Dies ist der einzige Weg!« sagte Gilthanas wütend. »Wenn ihr solche Feiglinge seid…«

»Zwischen Vorsicht und Feigheit besteht ein Unterschied, Gilthanas«, sagte Tanis ruhig und gelassen. Der Halb-Elf dachte einen Moment nach. »Wir könnten die Wachen am Vordertor überwältigen, aber vorher werden sie die anderen warnen. Ich denke, wir gehen erst einmal hier hinein und sehen uns diesen Weg näher an. Flint, du führst. Raistlin, wir brauchen dein Licht.«

»Shirak«, befahl der Magier leise, und der Kristall glomm auf. Er und Flint tauchten in die Höhle, dicht gefolgt von den anderen. Der Tunnel, in den sie traten, war offensichtlich uralt, aber es war unmöglich zu sagen, ob er natürlichen oder künstlichen Ursprungs war.

»Was ist mit unserem Verfolger?« fragte Sturm leise. »Sollen wir den Eingang offen lassen?«

Tanis wandte sich an Gilthanas. »Laß den Eingang nur einen Spalt offen, Gilthanas, so weit, daß unser Verfolger weiß, daß wir hier waren, aber nicht so breit, daß er uns folgen kann.«

Gilthanas zog den Edelstein weg, legte ihn in eine Nische im Innern der Höhle und sprach ein paar Worte. Das Gestein begann sich geräuschlos zusammenzuschieben. Im letzten Moment, der Spalt war nur noch wenige Zentimeter breit, entfernte Gilthanas schnell den Edelstein. Das Gestein kam zum Halt, und der Ritter, der Elf und der Halb-Elf traten zu den Gefährten im Eingang zum Sla-Mori.

»Hier ist es sehr staubig«, berichtete Raistlin hustend, »aber keine Spuren, zumindest nicht in diesem Teil der Höhle.«

»Ungefähr hundert Meter weiter ist eine Gabelung«, fügte Flint hinzu. »Dort fanden wir Fußspuren, aber wir konnten sie nicht näher bestimmen. Sie sehen weder nach Drakoniern noch nach Hobgoblins aus, und sie führen nicht in diese Richtung. Der Magier meint, das Böse käme von rechts.«

»Wir werden hier übernachten«, sagte Tanis, »in der Nähe des Eingangs. Wir werden zwei Wachen aufstellen – eine an der Tür, die andere weiter im Tunnel. Sturm und Caramon übernehmen die erste Wache, dann Gilthanas und ich, Eben und Flußwind, Flint und Tolpan.«

»Und ich«, sagte Tika tapfer, obwohl sie sich noch nie so müde gefühlt hatte. »Ich werde auch Wache stehen.«

Tanis war froh, daß man in der Dunkelheit sein Lächeln nicht sehen konnte. »Sehr gut«, sagte er. »Du wirst mit Flint und Tolpan Wache halten.«

»Einverstanden!« antwortete Tika. Sie öffnete ihren Rucksack, kramte eine Decke hervor und legte sich hin. Die ganze Zeit über war sie sich bewußt, daß Caramons Augen auf ihr ruhten. Ebenso wußte sie, daß Eben sie beobachtete. Aber es störte sie nicht. Sie war daran gewöhnt, daß Männer sie bewundernd anstarrten, und Eben sah noch besser aus als der Krieger. Jedoch die Erinnerung an Caramons Umarmung ließ sie von neuem in furchtsamem Entzücken erbeben. Sie versuchte, nicht daran zu denken. Das Kettenhemd war kalt und zwickte durch die Bluse. Aber die anderen nahmen auch nicht die Rüstung ab. Außerdem war sie müde genug, um so wie sie war zu schlafen. Tikas letzter Gedanke vor dem Einschlafen war, daß sie dankbar war, nicht mit Caramon allein zu sein.

Goldmond sah die Augen des Kriegers auf Tika ruhen. Sie flüsterte Flußwind etwas zu, der lächelnd nickte, und ging zu Caramon hinüber. Sie zog ihn von den anderen weg, in den Schatten des Korridors.

»Tanis hat mir erzählt, daß du eine ältere Schwester hast«, bemerkte sie.

»Ja«, antwortete Caramon erstaunt. »Kitiara. Aber sie ist meine Halbschwester.«

Goldmond lächelte und legte ihre Hand behutsam auf den Arm des Kriegers. »Ich werde jetzt mit dir wie deine ältere Schwester reden.«

Caramon grinste. »Nicht wie Kitiara, das schaffst du nicht, Prinzessin von Que-Shu. Kit sagte mir als erste, was all die Flüche bedeuteten, die ich hörte, und noch einiges andere mehr. Sie zeigte mir, wie man ein Schwert gebraucht und wie man bei Turnieren ehrenhaft kämpft. Aber sie brachte mir auch bei, wie man einem Mann in die Leisten tritt, wenn die Schiedsrichter nicht aufpassen. Nein, Prinzessin, du bist meiner älteren Schwester nicht ähnlich.«

Goldmonds Augen weiteten sich vor Verwunderung über die Beschreibung einer Frau, von der sie vermutete, daß der Halb-Elf sie liebte. »Aber ich dachte, sie und Tanis, ich meine, die beiden…«

Caramon winkte ab. »Sicherlich haben sie es gemacht!« sagte er.

Goldmond holte tief Luft. Sie wollte die Unterhaltung nicht abdriften lassen, aber es führte sie zu ihrem Anliegen. »Irgendwie ist es das, worüber ich mit dir sprechen möchte. Aber es geht um Tika.«

»Tika?« Caramon errötete. »Sie ist ein großartiges Mädchen. Entschuldige bitte, aber ich verstehe dein Problem nicht.«

»Sie ist ein Mädchen«, sagte Goldmond sanft. »Verstehst du nicht?«

Caramon blickte verständnislos drein. Er wußte, daß Tika ein Mädchen war. Was meinte Goldmond? Dann blinzelte er im plötzlichen Verstehen und stöhnte auf. »Nein, sie ist keine…«

»Doch.« Goldmond seufzte. »Sie ist es. Sie war noch nie mit einem Mann zusammen. Sie erzählte es mir, als ich ihr mit der Rüstung half. Sie hat Angst, Caramon. Sie hat eine Menge Geschichten gehört. Bedräng sie nicht. Sie möchte verzweifelt gern deine Zuneigung, und sie würde alles dafür tun. Aber laß sie nicht etwas machen, was sie später vielleicht bereuen würde. Wenn du sie wirklich liebst, wird die Zeit es erweisen, und sie wird auch die Süße des Augenblicks vergrößern.«

»Ich nehme an, du weißt, wovon du sprichst, nicht?« fragte Caramon und sah sie an.

»Ja«, sagte sie leise, und ihre Augen wanderten zu Flußwind. »Wir warten schon sehr lange, und manchmal ist der Schmerz unerträglich. Aber die Gesetze meines Volkes sind streng. Vermutlich ist das jetzt egal«, sagte sie immer leiser werdend, mehr zu sich als zu Caramon, »da wir die letzten Überlebenden sind. Aber auf eine Art wird es dadurch noch wichtiger. Wenn wir unser Gelübde abgelegt haben, werden wir als Mann und Frau zusammenkommen, aber vorher nicht.«

»Ich verstehe. Danke, daß du mir das über Tika gesagt hast«, sagte Caramon. Er klopfte Goldmond linkisch auf die Schulter und ging zu seinem Posten zurück.

Die Nacht ging schnell und ohne ein Zeichen des Verfolgers vorbei. Als sich die Wachen abwechselten, diskutierte Tanis mit Gilthanas Ebens Geschichte, erhielt aber keine zufriedenstellende Auskunft. Ja, der Mann hatte die Wahrheit erzählt. Gilthanas war unterwegs gewesen, als die Drakonier angegriffen hatten. Er hatte versucht, die Druiden zur Hilfe zu bewegen. Er war zurückgekehrt, als er die Schlachtgeräusche gehört hatte, und war dann am Kopf getroffen worden. Er erzählte Tanis dies mit leiser, bitterer Stimme.

Die Gefährten erwachten, als das schwache Morgenlicht durch den Spalt kroch. Nach einem hastigen Mahl packten sie ihre Sachen zusammen und gingen in den Tunnel des Sla-Mori.

An der Gabelung untersuchten sie beide Richtungen. Flußwind kniete sich nieder, um die Spuren näher anzusehen, und erhob sich mit verwirrtem Gesichtsausdruck.

»Es sind die von Menschen«, sagte er, »und zugleich sind sie es nicht. Außerdem gibt es noch Tierspuren – wahrscheinlich von Ratten. Der Zwerg hatte recht. Ich erkenne weder Spuren von Drakoniern noch von Goblins. Was jedoch merkwürdig ist, die Tierspuren enden genau hier, wo sich der Weg gabelt. Sie führen nicht in den rechten Gang, die anderen, diese seltsamen Spuren wiederum nicht in den linken.«

»Nun, welchen Weg nehmen wir?« fragte Tanis.

»Ich meine, keinen von beiden!« erklärte Eben. »Der Eingang ist immer noch geöffnet. Laßt uns umkehren.«

»Umkehren ist längst keine Möglichkeit mehr«, erwiderte Tanis kalt. »Ich würde dich gehen lassen, aber…«

»Aber du traust mir nicht«, beendete Eben den Satz. »Ich gebe dir keine Schuld, Tanis Halb-Elf. In Ordnung, ich habe meine Hilfe zugesagt, und es war mein Ernst. Welchen Weg – links oder rechts?«

»Das Böse kommt von rechts«, flüsterte Raistlin.

»Gilthanas?« fragte Tanis. »Weißt du, wo wir überhaupt sind?«

»Nein, Tanthalas«, antwortete der Elf. »Nach den Legenden gibt es viele Eingänge von Sla-Mori nach Pax Tarkas – und alle sind geheim. Nur den Elfenpriestern war es erlaubt, hierher zu kommen, um die Toten zu ehren. Ein Weg ist genauso gut wie der andere.«

»Oder genauso schlecht«, flüsterte Tolpan Tika zu. Sie schluckte und trat näher zu Caramon.

»Wir gehen nach links«, entschied Tanis, »da Raistlin bei dem rechten Weg unangenehme Empfindungen hat.«

Die Gefährten folgten dem staubigen Tunnel einige hundert Meter mit Hilfe von Raistlins leuchtendem Stab des Magus, bis sie auf eine uralte Steinmauer stießen, die ein riesiges Loch aufwies. Raistlins schwaches Licht beleuchtete nur undeutlich die entfernten Mauern einer großen Halle dahinter.

Die Krieger traten mit dem Magier, der seinen Stab hochhielt, durch das Loch. Die riesige Halle mußte einst prachtvoll gewesen sein, aber nun war sie derart vom Verfall heimgesucht, daß ihre einstige Pracht erbärmlich und grausig wirkte. Zwei Reihen zu je sieben Säulen verliefen durch den Saal. Einige Säulen lagen zerstört auf dem Boden. Teilweise war die Wand eingestürzt, Beweis für die zerstörerische Kraft der Umwälzung. Am anderen Ende des Saales entdeckten sie bronzene Doppeltüren.

Raistlin ging voran, und die übrigen folgten mit gezogenen Schwertern. Plötzlich gab Caramon im vorderen Teil des Saales einen gedämpften Schrei von sich. Der Magier eilte mit seinem Licht zu der Stelle, auf die Caramon mit zitternder Hand zeigte.

Vor ihnen stand ein massiver granitener Thron mit Gravuren. Zwei riesige Marmorstatuen flankierten den Thron; ihre blinden Augen starrten in die Dunkelheit. Doch der von ihnen bewachte Thron war nicht leer. Auf ihm saß ein Skelett, die beinernen Reste eines Mannes, man konnte nicht sagen, von welcher Rasse. Die Figur war in königliche Roben gekleidet, die trotz des Verfalls immer noch einen Eindruck ihres großen Wertes vermittelten. Ein Umhang bedeckte die Schultern. Eine Krone glänzte auf dem fleischlosen Schädel. Die Knochenhände hielten ein Schwert, das in einer Scheide steckte.

Gilthanas fiel auf die Knie. »Kith-Kanan«, sagte er flüsternd. »Wir befinden uns in der Halle der Urahnen, seiner Grabstätte. Niemand hat dies gesehen, seitdem die Elfenkleriker mit der Umwälzung verschwunden sind.«

Tanis starrte den Thron an, bis er langsam von Gefühlen überwältigt wurde, die er nicht verstand, und niederkniete. »Fealan thalos. Im murguanethi. Sai Kith-Kananoth Murtari Larion«, murmelte er in Huldigung des größten der Elfenkönige.

»Was für ein wunderschönes Schwert«, sagte Tolpan, seine schrille Stimme brach die ehrfürchtige Stille. Tanis sah ihn streng an. »Ich will es ja nicht mitnehmen!« protestierte der Kender mit verletztem Blick. »Ich habe es nur erwähnt, als… einen interessanten Gegenstand.«

Tanis erhob sich. »Berühr es ja nicht«, befahl er dem Kender streng, dann machte er sich daran, den restlichen Saal zu überprüfen.

Als Tolpan näher getreten war, um sich das Schwert genauer anzusehen, war Raistlin mit ihm gekommen. Der Magier begann zu murmeln: »Tsaran korilath ith hakon«, und bewegte seine magere Hand in einem vorgeschriebenen Muster schnell über das Schwert. Die Waffe flimmerte in einem schwachen Rot auf. Raistlin lächelte und sagte leise: »Es ist verzaubert.«

Tolpan keuchte: »Ein guter oder ein böser Zauber?«

»Das kann ich nicht erkennen«, wisperte der Magier. »Aber da es schon so lange unbenutzt hier liegt, würde ich es nicht wagen, das Schwert zu berühren!«

Dann wandte er sich um und ließ Tolpan allein, der sich fragte, ob er ungehorsam sein und das Risiko, in irgendein schleimiges Ungeheuer verwandelt zu werden, auf sich nehmen sollte.

Während der Kender mit der Versuchung kämpfte, untersuchten die anderen die Wände nach Geheimtüren. Flint half ihnen mit Erfahrungsberichten über von Zwergen gebaute Geheimtüren. Gilthanas ging auf die zwei riesigen Bronzetüren zu. Auf einer befand sich eine Reliefkarte von Pax Tarkas, die er zusammen mit Raistlin studierte.

Caramon warf einen letzten Blick auf das Skelett des seit Urzeiten toten Königs und gesellte sich dann zu Sturm und Flint, die immer noch nach Geheimtüren suchten. Schließlich rief Flint: »Tolpan, du unnützer Kender, das ist doch dein Spezialgebiet. Zumindest prahlst du immer, wie du die Tür gefunden hast, die über hundert Jahre lang in Vergessenheit geraten war und zu dem großen Juwel von irgend jemand führte.«

»Es war auch so ein Ort wie dieser hier«, sagte Tolpan, der sein Interesse am Schwert vergaß. Er wollte gerade zu ihnen flitzen, als er plötzlich innehielt.

»Was ist das?« fragte er und legte den Kopf schief.

»Was ist was?« fragte Flint geistesabwesend und fuhr fort, die Wände abzuklopfen.

»Ein Kratzen«, sagte der Kender verwirrt. »Es kommt von den Türen.«

Tanis sah auf, er hatte vor langer Zeit gelernt, Tolpans Gehörsinn ernst zu nehmen. Er ging auf die Türen zu, wo Gilthanas und Raistlin in die Karte vertieft waren. Plötzlich trat Raistlin einen Schritt zurück. Faulige Luft wehte durch die offene Tür in den Saal. Jetzt konnten alle das Kratzen und ein leises schabendes Geräusch hören.

»Schließt die Tür!« wisperte Raistlin drängend.

»Caramon!« schrie Tanis. »Sturm!« Die beiden rannten bereits mit Eben auf die Tür zu. Sie lehnten sich alle dagegen, wurden aber zurückgestoßen, als die Bronzetüren aufsprangen und mit einem hohlen Dröhnen gegen die Wände knallten. Ein Ungeheuer glitt in die Halle.

»Hilf uns, Mishakal!« hauchte Goldmond den Namen der Göttin, während sie sich gegen die Mauer preßte. Das Wesen betrat trotz seines riesigen Umfanges schnell den Raum. Das Kratzen, das sie gehört hatten, wurde durch seinen gigantischen aufgeblähten Körper verursacht, der über den Boden schleifte.

»Eine Schnecke!« rief Tolpan und rannte auf sie zu, um sie zu untersuchen. »Aber seht euch doch nur die Größe an! Warum ist sie wohl so groß? Ich frage mich, was sie frißt…«

»Uns, du Dummkopf«, schrie Flint, packte den Kender und riß ihn auf den Boden, gerade als die Riesenschnecke eine Flut von Speichel ausspuckte. Ihre Augen, die an schlanken, sich drehenden Stielen am Kopf thronten, waren fast blind. Die Schnecke fand und vertilgte Ratten in der Dunkelheit nur mit Hilfe ihres Geruchssinns. Jetzt machte sie größere Beute aus, und sie verspritzte ihren lähmenden Speichel in die Richtung, wo sie lebendes Fleisch roch.

Die tödliche Flüssigkeit verfehlte ihr Ziel. Flint und Tolpan dem Kender war es gelungen, sich rechtzeitig aus dem Gefahrenbereich zu rollen. Sturm und Caramon stürmten auf sie zu und schlugen mit ihren Schwertern auf das Ungeheuer ein. Caramons Schwert drang nicht einmal durch die dichte gummiartige Haut. Sturms zweihändiges Schwert kam durch und ließ die Schnecke vor Schmerz zurückweichen. Tanis stürzte hinzu, als die Schnecke ihren Kopf dem Ritter zuwirbelte…

»Tanthalas!«

Der Schrei riß Tanis aus seiner Konzentration, er hielt inne, drehte sich um und starrte verwundert zum Eingang der Halle.

»Laurana!«

In diesem Moment spuckte die Schnecke mit ihrer zersetzenden Flüssigkeit Tanis an, den sie gerochen hatte. Der Speichel traf sein Schwert und ließ das Metall zischen und qualmen, dann löste es sich in seiner Hand auf. Die ätzende Flüssigkeit lief an seinem Arm hinunter und brannte sich in sein Fleisch. Tanis fiel, im Todesschmerz schreiend, auf die Knie.

»Tanthalas!« rief Laurana wieder und rannte auf ihn zu.

»Haltet sie auf!« keuchte Tanis, sich vor Schmerzen krümmend, Hand und Schwertarm schwärzten sich und hingen in Sekundenschnelle leblos an seinem Körper herab.

Die Schnecke, die Erfolg spürte, schleppte ihren pulsierenden grauen Körper weiter vor. Goldmond warf dem riesigen Ungeheuer einen ängstlichen Blick zu, dann eilte sie zu Tanis. Flußwind stand ihr schützend zur Seite.

»Geht weg!« sagte Tanis mit zusammengebissenen Zähnen.

Goldmond nahm seine verletzte Hand und betete zur Göttin. Flußwind legte einen Pfeil auf und schoß auf die Schnecke. Der Pfeil traf die Kreatur am Hals, richtete zwar kaum etwas aus, aber sie wurde von Tanis abgelenkt.

Der Halb-Elf sah, wie Goldmond seine Hand berührte, konnte aber nur Schmerz empfinden. Doch dann ließ der Schmerz nach und hörte schließlich ganz auf. Er lächelte Goldmond an, von neuem über ihre Heilkünste erstaunt.

Die anderen griffen die Kreatur mit erneuter Wildheit an, versuchten sie von Tanis abzulenken, aber genausogut hätten sie ihre Waffen in eine Gummiwand stecken können.

Tanis erhob sich wackelig. Seine Hand war geheilt, aber sein Schwert lag auf dem Boden, ein geschmolzenes Stück Metall. Nur noch mit seinem Langbogen bewaffnet, wich er zurück und zog Goldmond mit sich, als die Schnecke weiter in den Saal glitt.

Raistlin rannte zu Fizban. »Jetzt ist es an der Zeit für die Feuerkugel, Alter«, keuchte er.

»Ja, wirklich?« Fizbans Gesicht strahlte vor Entzücken. »Wunderbar! Wie geht es noch mal?«

»Erinnerst du dich etwa nicht?« kreischte Raistlin und zog den Magier hinter eine Säule, denn die Schnecke spuckte wieder brennenden Speichel in den Saal.

»Ich habe es… laß mich sehen.« Fizban zog vor Konzentration die Augenbrauen hoch. »Kannst du es nicht?«

»Ich habe noch nicht die Macht dazu, Alter! Ich bin noch nicht stark genug für diesen Zauber!« Raistlin schloß die Augen und begann, sich auf die Zaubersprüche zu konzentrieren, die er kannte.

»Geht zurück! Verschwindet hier!« schrie Tanis und schirmte Laurana und Goldmond so gut er konnte ab, während er nach Langbogen und Pfeilen griff.

»Es kommt direkt hinter uns her!« gellte Sturm, der wieder seine Klinge ansetzte. Aber er und Caramon erreichten nur, daß das Ungeheuer noch rasender wurde.

Plötzlich hob Raistlin seine Hände. »Kalith karan, tobaniskar!« schrie er, und flammende Wurfpfeile schossen aus seinen Fingern und trafen das Ungeheuer am Kopf. Die Schnecke wand sich vor Schmerzen und wirbelte den Kopf herum, nahm dann aber ihre Jagd wieder auf. Plötzlich schoß sie vor, da sie am Ende des Saales Opfer roch, dort, wo Tanis versuchte, Goldmond und Laurana zu schützen. Wahnsinnig vor Schmerzen, angetrieben vom Blutgeruch, griff die Schnecke mit unglaublicher Schnelligkeit an. Tanis’ Pfeil prallte an der Lederhaut ab, und das Ungeheuer sprang mit aufgesperrtem Maul auf ihn zu. Der Halb-Elf ließ den nutzlosen Bogen fallen, taumelte zurück und stolperte fast über die Stufen zum Thron von Kith-Kanan.

»Hinter den Thron!« gellte er, versuchte die Aufmerksamkeit des Ungeheuers weiter auf sich zu lenken, damit Goldmond und Laurana Deckung suchen konnten. Seine Hand holte aus, suchte einen riesigen Stein, um mit irgend etwas auf die Kreatur zu werfen, und seine Finger berührten die Metallklinge eines Schwertes.

Tanis zuckte vor Schreck zusammen. Die Kälte des Metalls brannte geradezu in seiner Hand. Die Klinge glänzte hell im schwachen Licht des Zauberstabes. Tanis blieb keine Zeit für Fragen. Er trieb die Schwertspitze in das klaffende Maul der Schnecke, gerade als die Kreatur zum Sprung ansetzte.

»Lauft!« schrie Tanis. Er faßte Lauranas Hand und zog sie zum Tunneleingang. Er schob sie durch und wandte sich um, um die Schnecke abzulenken, damit die anderen entkommen konnten. Aber der Schnecke war der Appetit vergangen. Sich vor Schmerzen krümmend, drehte sie sich langsam um und glitschte wieder in ihre Höhle zurück. Aus ihren Wunden troff klebrige Flüssigkeit.

Die Gefährten versammelten sich im Tunnel, atmeten tief durch und beruhigten sich allmählich. Raistlin lehnte sich keuchend an seinen Bruder. Tanis blickte sich um. »Wo ist Tolpan?« fragte er erschöpft. Er war drauf und dran, zurück in die Halle zu gehen, als er beinahe über den Kender gestolpert wäre.

»Ich habe dir die Scheide mitgebracht«, sagte Tolpan und hielt sie hoch. »Für dein Schwert.«

»Zurück durch den Tunnel«, befahl Tanis und hielt so die anderen von Fragen ab.

Als sie die Gabelung erreichten und auf den staubigen Boden sanken, wandte sich Tanis dem Elfenmädchen zu. »Was im Namen des Abgrundes hast du hier zu suchen, Laurana? Ist irgend etwas in Qualinost passiert?«

»Nichts ist passiert«, sagte Laurana, die immer noch zitterte. »Ich… ich… bin einfach gekommen.«

»Dann gehst du auch einfach zurück!« schrie Gilthanas wütend und packte Laurana. Sie befreite sich aus seinem Griff.

»Ich gehe nicht zurück«, sagte sie trotzig. »Ich gehe mit dir und mit Tanis und… mit den anderen.«

»Laurana, das ist Wahnsinn«, stöhnte Tanis. »Wir machen keinen Ausflug. Das ist kein Spiel. Du hast gesehen, was vorhin passiert ist. Wir wären beinahe getötet worden!«

»Ich weiß, Tanthalas«, sagte Laurana bittend. Ihre Stimme zitterte und bebte. »Du hast mir gesagt, es wird eine Zeit kommen, da man sein Leben riskieren muß für etwas, woran man glaubt. Die Zeit ist gekommen.«

»Du hättest getötet werden können…«, fing Gilthanas an.

»Aber ich wurde nicht getötet!« rief Laurana herausfordernd. »Ich wurde zur Kriegerin ausgebildet – wie alle Frauen, in Erinnerung an eine Zeit, als wir neben unseren Männern um unsere Heimat kämpften.«

»Es war keine ernsthafte Ausbildung…«, hob Tanis ärgerlich an.

»Ich bin euch gefolgt, oder nicht?« fragte Laurana und warf Sturm einen Blick zu. »Geschickt?« fragte sie den Ritter.

»Ja«, gab er zu.

»Trotzdem, das heißt nicht…«

Raistlin unterbrach ihn. »Wir vergeuden nur Zeit«, flüsterte der Magier. »Ich jedenfalls will nicht länger als nötig in dieser feuchten, modrigen Höhle verbringen.« Er konnte kaum atmen. »Das Mädchen hat seine Entscheidung gefällt. Wir können keinen entbehren, der sie zurückbringt. Noch können wir ihr vertrauen, daß sie allein zurückgeht. Sie könnte gefangengenommen werden und unsere Pläne verraten. Wir müssen sie mitnehmen.«

Tanis starrte den Magier zornig an, er haßte ihn für seine kalte, gefühllose Logik und dafür, daß er recht hatte. Der Halb-Elf stand auf und zerrte Laurana hoch. Er war nahe dabei, sie zu hassen, ohne den Grund zu verstehen; er wußte nur, daß sie eine schwierige Aufgabe nur noch schwerer machte.

»Du wirst auf dich gestellt sein«, sagte er ihr leise, während sich die anderen erhoben und ihre Sachen zusammensuchten. »Ich kann nicht herumhängen und auf dich aufpassen. Noch kann es Gilthanas. Du benimmst dich wie ein verwöhntes Balg. Ich sagte dir schon einmal – du solltest endlich erwachsen werden. Nun, wenn du es nicht willst, wirst du vielleicht sterben und uns andere womöglich in den Tod mitreißen.«

»Es tut mir leid, Tanthalas«, sagte Laurana und wich seinem zornigen Blick aus. »Aber ich konnte dich nicht verlieren, nicht noch einmal. Ich liebe dich.« Ihre Lippen wurden schmal, und sie sagte leise: »Du wirst noch stolz auf mich sein.«

Tanis drehte sich um und ging weg. Als er Caramons grinsendes Gesicht sah und Tika kichern hörte, wurde er rot. Er ignorierte sie und gesellte sich zu Sturm und Gilthanas. »Anscheinend müssen wir den rechten Gang nehmen, egal welche Empfindungen Raistlin dabei hat.« Er hängte sich sein neues Schwert um und bemerkte Raistlins Blick, der auf der Waffe ruhte.

»Was ist denn jetzt wieder?« fragte er gereizt.

»Das Schwert ist verzaubert«, sagte Raistlin hustend. »Wie bist du da dran gekommen?«

Tanis schreckte hoch. Er starrte auf die Klinge. Seine Hand zuckte zurück, als ob die Waffe sich in eine Schlange verwandelt hätte. Er runzelte die Stirn und versuchte sich zu erinnern. »Es war in der Nähe des Elfenkönigs. Ich suchte etwas, um es auf die Schnecke zu werfen, als ich das Schwert plötzlich in meiner Hand hielt. Es wurde aus der Scheide genommen und…« Tanis stockte, schluckte.

»Ja?« drängte Raistlin, seine Augen glitzerten interessiert.

»Er gab es mir«, sagte Tanis leise. »Ich erinnere mich; seine Hand berührte meine. Er hat es aus der Scheide gezogen.«

»Wer?« fragte Gilthanas. »Keiner von uns war in der Nähe.«

»Kith-Kanan.«

Загрузка...